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       # taz.de -- Thriller „New Order“ in den Kinos: Neue Ordnung des Alten
       
       > Arme wollen Rache: Der mexikanische Regisseur Michel Franco beschreibt im
       > Thriller „New Order“ einen brutalen Aufstand in der näheren Zukunft.
       
   IMG Bild: Der Farbbeutelanschlag ist für Marianne (Naian González Norvind) die kleinste Sorge
       
       Bilder eines Aufstands sind selten gemütlich. Die Szenen, die [1][der
       mexikanische Regisseur Michel Franco] an den Anfang seines neuen Films
       setzt, lösen aktuell ein noch gesteigertes Unwohlsein aus: Da werden in
       einem Krankenhaus Patienten aus ihren Betten geworfen. Noch hat das Ganze
       einen Beigeschmack von Surrealem: Man sieht ein abstraktes Gemälde, dann
       blutende, gemetzelte Körper, aber auch solche, die einfach mit grüner Farbe
       übergossen sind. Happening oder reales Ereignis? Und was bedeutet die grüne
       Farbe?
       
       Nichts Gutes, das hat man im Haushalt der in ihrer modernen Villa gut
       abgeschirmten reichen Familie schon verstanden. Dennoch hält sich die
       Alarmbereitschaft in Grenzen, als aus einem der Hähne im Luxusbad auf
       einmal grünes Wasser fließt. Man hat Wichtigeres zu tun: Die Hochzeit von
       Tochter Marianne (Naian González Norvind) wird gefeiert.
       
       Es geht zu, wie man sich das so vorstellt [2][in einer von Ungleichheit
       bestimmten Gesellschaft irgendwo in Lateinamerika:] Festlich gekleidete,
       überwiegend weiße Menschen greifen sich Getränke und Happen von Tabletts,
       die von Bediensteten herumgereicht oder hingestellt werden.
       
       Letztere sind überwiegend indigener Herkunft. Sympathien für die eine oder
       andere Seite zu entwickeln, fällt schwer. Die Reichen verhalten sich so
       schnöselig-arrogant, wie man es von den „Bösen“ in den einschlägigen
       Seifenopern kennt, während die Angestellten auf eine Weise servil
       auftreten, mit der man sich auch nicht identifizieren mag.
       
       ## Aufständische dringen in Villa ein
       
       Viel Zeit darüber nachzudenken lässt einem Regisseur Franco in seinem knapp
       90-minütigen Film ohnehin nicht. Bald schon überwinden die Aufständischen
       die um die Villa gezogenen Schutzmauern. Mit vor Schreck geweiteten Augen
       verharrt die Hochzeitsgesellschaft vor den auf sie gerichteten Gewehren.
       
       Es dauert nicht lange, bis der Erste von ihnen das Handeln beginnt à la:
       „Hier, ihr könnt meine goldene Armbanduhr haben.“ Die Aufständischen
       greifen sich wenig zimperlich besonders die Frauen heraus, bedrohen und
       erniedrigen sie. Was erst den Auftakt bildet zu vielen, [3][sehr
       ungemütlichen bis kaum zu ertragenden Szenen der Gewalt,] die von da an
       „regiert“.
       
       Die Stärke und zugleich die Schwäche von Francos Film ist seine gewählte
       Perspektive: Er zeichnet ein möglichst abstraktes, von Einzelfiguren
       absehendes Bild eines Aufstands in der „nahen Zukunft“.
       
       Die einzige Figur, für die man eine gewisse Empathie empfindet, ist die
       Braut Marianne. Und nur deshalb, weil sie als einzige in ihrer Familie dem
       ehemaligen Angestellten Rolando (Eligio Meléndez) helfen will. Der klingelt
       während der Hochzeitsfeier an den Toren der Villa und bittet um Geld, das
       er für die Operation seiner Frau benötigt.
       
       ## Privilegierte Weltfremdheit
       
       Die Mutter, der Vater, der Bruder, sie alle reagieren gleichgültig bis
       ablehnend. Nur Marianne besteht darauf, dass es sich bei Ronaldo eigentlich
       um Familie handle. Dass sie sich dann selbst ins Auto setzt, um zu helfen,
       zeigt zugleich ihre privilegierte Weltfremdheit. Weiß sie nicht, was
       draußen los ist? Begreift sie nicht, dass der Aufstand sich gegen sie
       wendet? Was Franco, der selbst das Drehbuch schrieb, ihr zustoßen lässt,
       überschreitet allerdings den Zug des Zynischen ins Sadistische hinein.
       
       Darin liegt eben die Schwäche seiner Vision: Francos Blick auf die
       Ereignisse will kalt sein, unbeteiligt. Die Aufständischen, das Militär,
       die Finstermänner, die alsbald das Chaos verstärken, um eine neue Ordnung
       zu etablieren, die mit erstaunlicher Konsequenz dann doch wieder die alten
       Privilegien sichert – sie bleiben bloße Schablonen eines Weltbilds, das
       nicht verstehen, sondern sich im Grauen nur selbst bestätigen will.
       
       13 Aug 2021
       
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