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       # taz.de -- Über das Konzept der Augenhöhe: Falsche Gefälligkeit
       
       > Darf man Hilfsangebote überlasteter Mütter annehmen? Der Ethikrat
       > interessiert sich mehr für autoritäre Hundehalter*innen.
       
   IMG Bild: Der Pekingese gilt als relativ klug, aber was hilft das bei seinen angezüchteten Atemproblemen
       
       Kürzlich stritt ich mit meinem Freund, weil er die Betreuung unserer Kinder
       einer befreundeten Kita-Mutter angehängt hatte, die ohnehin zu viel um die
       Ohren hat. „Sie hat es angeboten“, sagte er. „Natürlich bietet sie es an“,
       sagte ich, „weil sie hilfsbereit sein will. Aber gleichzeitig will ihr Arzt
       sie zur Kur schicken, weil alles zu viel für sie ist.“ Wir schieden
       unversöhnt, ich ging einmal um den Block, um nicht Dinge zu sagen, die ich
       danach bereuen würde.
       
       An der Hundewiese stieß ich auf den Ethikrat, der einen mageren,
       lohfarbenen Hund mit sich führte. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren
       von geringer Größe, die mir [1][gelegentlich Handreichungen in Fragen
       praktischer Ethik] geben. „Guten Tag“, sagte ich, „haben Sie sich einen
       Hund angeschafft?“ – „Nein“, sagte der Ratsvorsitzende, „wir haben ihn vom
       Dekan der Philosophischen Fakultät ausgeliehen. Es ist ein Pharaonenhund
       und er bedeutet dem Dekan viel.“
       
       Er tätschelte den Hund, der sich gelangweilt abwandte. „Wir versprechen uns
       von ihm leichteren Kontakt zu Gesprächspartnern für unsere Studie.“ –
       „Welche Studie?“, fragte ich, denn die letzte schien der Rat nicht
       vollendet zu haben. „Wir forschen zur Mensch-Tier-Beziehung im Spiegel der
       Autoritätskonzepte ihrer Halter“, sagte der Vorsitzende, während er den
       Hund von der Leine ließ. „Womit beschäftigen Sie sich derzeit?“
       
       „Ich forsche zum Konzept der Augenhöhe in menschlichen Beziehungen“, sagte
       ich, um meinen häuslichen Querelen eine gewisse Würde zu geben. „Genauer:
       Muss oder darf man gelegentlich Menschen vor sich selbst in Schutz nehmen
       oder missachtet das ihre Autonomie?“ In diesem Moment öffnete ein kompakter
       Mann in Bomberjacke das Tor zur Hundewiese und zog einen Pekinesen in einem
       goldfarbenen Cape hinter sich her. Ich beeilte mich, meine Frage
       interessanter zu gestalten.
       
       ## Frauen werden zur Gefälligkeit erzogen
       
       „Ich meine, natürlich muss jeder und jede für sich sorgen. Aber solange
       Frauen dazu sozialisiert werden, möglichst gefällig zu sein, fahren vor
       allem Männer gut mit diesem Augenhöhe-Konzept.“ – „Sind Sie sicher, dass
       dieser Konflikt entlang der Geschlechterlinien verläuft?“, antwortete der
       Vorsitzende zerstreut, während sich die beiden Ratsmitglieder mit
       Notizblock und Stift dem Mann in der Bomberjacke näherten. „Was bedeutete
       Ihnen der Begriff Qualzucht?“, fragte einer, während der andere den
       knurrenden Pekinesen fotografierte.
       
       „Natürlich sind die Grenzen zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit
       fließend“, sagte ich und erinnerte mich an die Versuche, meiner Mutter eine
       Untermieterin anzudrehen, damit sie nicht mehr allein im Haus wohnte.
       Kürzlich hatte sich meine Friseurin geweigert, mir die Haare zu färben,
       weil sie es, wenn ich es richtig verstanden hatte, für verlorene Liebesmüh
       hielt.
       
       Ich war hin und her gerissen zwischen dem Respekt davor, dass sie aus
       Überzeugung aufs Geld verzichtete und dem Unmut, dass hier andere über
       meine optische Neuerfindung entschieden. „War es konsequent oder
       übergriffig?“, fragte ich den Ratsvorsitzenden, aber der hatte sich längst
       dem Pekingesen-Besitzer zugewandt.
       
       ## Zu wenig Existenz, zu wenig Farbe
       
       „Was für ein netter Hund“, sagte er. „Sicher ist der Umhang eine Reverenz
       an seine kaiserlichen Ursprünge.“ – „Nun ja“, sagte der Bomberjackenmann,
       „wenn Sie mich so fragen: ja. Und sehen Sie hier“, und er zog dem
       widerstrebenden Pekingesen das Cape aus: „Hier habe ich den Stammbaum
       einsticken lassen.“ Tatsächlich war in dunkelgrünem Garn „Peanut & Murphy“,
       „Nipper & Bonsai“ zu entziffern. „Tradition bedeutet Ihnen viel“, sagte der
       Ratsvorsitzende leutselig, und es schien, als existierte ich nicht.
       
       Vielleicht war es in der Gesamtschau zu wenig Existenz und zu wenig Farbe
       für mein Haar, jedenfalls sah ich mich gezwungen, unauffällig den
       Pharaonenhund an mich zu nehmen, der noch immer gelangweilt am Eingang saß,
       und ebenso unauffällig zu gehen, in der Hoffnung, dass der Zorn des Dekans
       erheblich sein würde.
       
       18 Aug 2021
       
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   DIR Friederike Gräff
       
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