URI: 
       # taz.de -- Gebrochene Herzen in Belarus: Erst verraten, dann verkauft?
       
       > Die Stimmung ist ein Jahr nach Beginn der Proteste im Keller. Janka
       > Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 100.
       
   IMG Bild: Die Polizei löst Proteste in Minsk auf; 09. August 2020
       
       Am 9. August, dem Jahrestag des Protestbeginns gegen die gefälschte
       Präsidentschaftswahl, haben die Belaruss*innen mit ihren Kommentaren
       und Posts fast die sozialen Medien gesprengt. [1][Menschen, die vor einem
       Jahr auf die Straße gegangen waren], erinnerten sich an das, was damals
       war. Und machten sie öffentlich Gedanken über die Zukunft. Es war
       schrecklich, diese Erinnerungen zu lesen und die Fotos anzuschauen. Heute
       würde man für etwas, was damals noch möglich war, vermutlich gleich
       verurteilt werden. Es ist traurig, auf Facebook zu sehen, wie die Freunde
       nach und nach den Wohnort wechseln – [2][von Minsk nach Kiew, Vilnius oder
       Warschau.]
       
       Meine Freundin schreibt, dass sie durch die Konfiszierung ihres Laptops
       auch die Fotos ihrer Freund*innen und ihrer Reisen verloren hat. Und
       damit auch irgendwie ihr früheres Leben. In ihren eigenen Worten klingt das
       so: „Ich bin froh, dass es dieses Jahr gegeben hat. Ich hätte nicht
       gewollt, dass ‚stattdessen‘ lieber nichts passiert wäre oder dass alles so
       verlaufen wäre wie gewöhnlich. Ich hatte und habe oft große Angst und es
       ist sehr schmerzhaft. Aber insgesamt spüre ich tief in mir eine große
       Hoffnung. Ich bin überzeugt davon, dass das alles zu Ende geht und bessere
       Zeiten kommen werden. Ich versuche, auf mich selbst aufzupassen, um nicht
       emotional auszubrennen. Manchmal gelingt es. Wohlgemerkt: manchmal.
       
       Ich bin sehr stolz auf meine Freund*innen und Mitbürger*inenn. Zum ersten
       Mal habe ich wirklich begriffen, dass ich nicht alleine bin. Zum ersten Mal
       habe ich die Belaruss*innen wirklich wahrgenommen und an sie geglaubt.
       Ich habe verstanden, dass alles, was ich persönlich getan habe, trotz allem
       nicht vergebens war. Das sind die besten Erinnerungen und sie helfen mir,
       wenn ich an allem zweifle. Ich habe viel Liebe in mir. Mehr als Wut und
       Hass. Letztere verwandeln sich eher in Ekel und Gleichgültigkeit. Aber ich
       ‚vergesse nicht und vergebe nicht‘.“
       
       Ein anderer Freund schreibt mir: „Wenn du anfängst, darüber nachzudenken,
       was du persönlich in diesem Jahr erlebt hast, dann scheint es so, als sei
       aus einem Traum ein Alptraum geworden, der Wahnzustand eines Irrsinnigen.
       Die ersten sechs Monaten waren eine unglaublich emotionale Schaukelei:
       [3][jeder sonntägliche Protestmarsch brachte ein irres emotionales Hoch,
       jeder darauffolgende Montag die Katerstimmung]. Und jetzt bist du der genau
       der Überlebende, mit gebrochenem Herzen und einem Haufen Freunde hinter
       Gittern, der versucht herauszufinden, wie man das Loch in der Brust wieder
       flickt. Und klammerst dich dabei an deine eigenen Erinnerungen. Es gab
       Augenblicke, in denen du dachtest, das sei jetzt das Ende, noch mehr geht
       einfach nicht. Ja, das Regime wird sicher nicht weiter leben, aber wie
       qualvoll und blutig es stirbt! “
       
       Und noch ein Gedanke: „Das Wendepunktdatum 9.8.2020. Das Wendejahr. Wie
       sich mein ‚Ich‘ geändert hat! Wie es zum ‚Wir‘ geworden ist! Wie ‚wir‘ uns
       selbst verstehen und zu den Ursprüngen zurückkehren. Wir – die Nation.
       Nicht nur ein Ort auf der Weltkarte. Wir – Belaruss*innen. Und jetzt kennt
       uns die ganze Welt als eigene Nation. Das ist ein unglaublicher
       Entwicklungssprung. In nur einem Jahr. Der Weg, der vor uns liegt, ist noch
       lang. Und schmerzhaft. Aber er ist endlich.“
       
       Ein Mann, der gezwungen war, Belarus zu verlassen, schreibt: „Das Böse
       ballt sich zusammen. Das spüren wir alle sehr stark. Was können wir dem
       entgegensetzen? Zusammenhalt und Offenheit!!!❤️ SICH ZUSAMMENSCHLIESSEN UND
       DIE WAHRHEIT AUSSRPECHEN! Belaruss*innen sind eine der Völkerfamilien,
       die auf dieser Erde leben, daher ist es unsere Pflicht, uns gegenseitig zu
       helfen, wo immer wir sind, in jedem Land, wie in einer guten Familie.
       
       Das Leben fordert uns dazu auf, uns zusammenzuschließen, nicht nur zum
       Schutz unseres eigenen Lebens, sondern im Namen der Gerechtigkeit, für die
       wir genötigt waren, in andere Länder zu flüchten. Es ist für uns
       lebensnotwendig einander zu kennen, uns zu treffen, Aktionen und
       Veranstaltungen zu organisieren, über unseren Schmerz zu sprechen, über den
       blühenden Faschismus in der Heimat, in Belarus, über den dort niemand mehr
       laute sprechen kann, ohne Gefahr zu laufen, dafür in den Knast zu kommen.“
       
       Aber es gibt auch, die sagen: „ Es ist, als sei ich gestürzt und in ein
       Loch gefallen. Und was unten kommt, wird die Zeit zeigen.“
       
       Und tatsächlich: die Zeit wird zeigen, ob wir überleben oder ob es uns das
       Herz zerreißt. Und ob ein Land namens Belarus von der Landkarte
       verschwindet.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       28 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rentner-in-Belarus/!5714968
   DIR [2] /Belarussische-Grenzkontrollen/!5768022
   DIR [3] /Politische-Resignation-in-Belarus/!5768037
   DIR [4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Janka Belarus
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Notizen aus Belarus
   DIR Schwerpunkt Krisenherd Belarus
   DIR Schwerpunkt Krisenherd Belarus
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Fotos aus einem anderen Leben
       
       Vor einem Jahr protestierten Zehntausende Belaruss*innen gegen
       Machthaber Lukaschenko. Doch der ist immer noch da. Und die Angst ist
       zurück.
       
   DIR Ein Jahr nach Wahl in Belarus: Wieder regiert die Angst
       
       Ein Jahr nach der Wahl ist der belarussische Staatschef Alexander
       Lukaschenko immer noch an der Macht. Von Protesten ist nichts mehr zu
       sehen.
       
   DIR Aus Belarus ins litauische Exil: Grenzenlose Solidarität
       
       Die Belaruss:innen in Litauen eint der Hass auf Alexander Lukaschenko.
       Sie helfen denen, die über die Grenze in die EU geflüchtet sind.