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       # taz.de -- Biennale „Socle Du Monde“: Wo Manzoni in der Fabrik arbeitete
       
       > Im dänischen Herning sammelte der Hemdenfabrikant Aage Damgaard
       > Zero-Kunst. Eine Schau zeigt sie in Verbindung mit neuen Positionen.
       
   IMG Bild: Installation von Michelangelo Pistoletto in Herning
       
       In diesen Zeiten wird schnell mal aus einer Biennale eine Triennale.
       Niederzwingen lässt man sich aber nicht im dänischen Herning, folgt lieber
       dem beziehungsreichen Motto „Welcome back my friends to the show that never
       ends“ (nach [1][Emerson, Lake and Palmer)] und feiert feine Zero-Kunst in
       Verbindung mit aktuellen künstlerischen Positionen, hervorragender
       Architektur und einem dicht mit Skulpturen bestückten Waldpfad.
       
       Die Kleinstadt Herning auf Jütland war einst das Zentrum der dänischen
       Textilindustrie. Das ist vorbei. Der erfolgreiche Hemdenfabrikant Aage
       Damgaard hat den Niedergang mitvollzogen, seiner Leidenschaft für die
       zeitgenössische Kunst konnte das nichts anhaben. Ihn interessierten
       hauptsächlich die Zero-Künstler, allen voran Piero Manzoni.
       
       Er lud ihn Anfang der sechziger Jahre zu sehr speziell auf seine
       persönliche Philosophie abgestimmten Residencies ein. Denn der radikale
       Avantgardist und Adelsspross musste in dieser Zeit in der Fabrik Damgaards
       arbeiten und die Kunstwerke, die während seines Aufenthalts entstanden,
       wanderten ohne Umschweife in die Sammlung des Mäzens.
       
       Manzoni starb 1963 mit noch nicht dreißig Jahren, Damgaard erwarb
       weiterhin, was der Markt hergab, sodass sich die weltweit größte
       Manzoni-Sammlung im Herzen Jütlands befindet, ergänzt durch bedeutende
       Werke seiner Zero- und Arte-Povera-Mitstreiter und der Künstler, die sich
       nach dem zweiten Weltkrieg für eine Erneuerung der künstlerischen
       Bildfindung und -sprache einsetzten, jenseits von artigen Abstraktionen,
       expressiven Farbexperimenten oder gar beseelten künstlerischen
       Empfindungsbelegen.
       
       ## Museumsgebäude für aufmüpfige Avantgarde
       
       Für diese Avantgarde, für den ruhelosen Manzoni, für den ebenfalls jung
       verstorbenen Francesco Lo Savio, für Agostino Bonalumi, Enrico Castellani,
       für die Künstlerin, die sich Dadamaino nannte, und all die anderen
       Aufmüpfigen erfand der amerikanische Stararchitekt Steven Holl ein
       originelles, dabei gut bespielbares Museumsgebäude mit einer Außenhaut, die
       frappierend an die Struktur von zerknittertem Hemdenstoff erinnert.
       
       Es ersetzte die nicht mehr zeitgemäßen Strukturen des 1977 gegründeten
       Herning Museum of Contemporary Art – HEART. Museumsleiter Holger Reenberg
       ist nun, da die konservatorischen und versicherungstechnischen
       Voraussetzungen erfüllt werden, in der Lage, wichtige Kunstwerke nach
       Herning einzuladen.
       
       Bis dahin war das eine von internationalen Häusern zwar viel genutzte, aber
       eben nur in eine Richtung funktionierende Einbahnstraße. Das Holl-Gebäude
       bildet zusammen mit der runden ehemaligen Produktionshalle und dem 1976
       errichteten Museum für die Sammlung der Künstler Carl-Henning Pedersen und
       Else Alfelt ein stimmiges Ensemble, auch wenn einem das Treiben von deren
       riesig-bunten Trollen auf ihren CoBrA-Murals erst mal einen Schlag
       versetzt.
       
       Als Herzstück der Biennale wurden die Exponate zusammen mit Leihgaben neu
       arrangiert, wobei der Aspekt der gegenseitigen Inspiration, der
       gemeinschaftlichen, oft sorgfältig geplanten, manchmal auch schön aus dem
       Ruder laufenden Auftritte in den Vordergrund rückt.
       
       ## Fibonaccireihe in neon
       
       Zu den vielen ikonischen Werken der Sammlung gehört auch eine
       neonstrahlende [2][Fibonaccireihe] von Mario Merz (Sinnbild für die
       Gesetzmäßigkeiten des Wachstums: Jede Zahl ist die Summe der beiden
       vorangegangenen Zahlen, also eins und eins gleich zwei, eins und zwei
       gleich drei und so weiter) – und natürlich Manzonis Socle du Monde.
       
       Der auf den Kopf gestellte Bronzewürfel, der die Welt, den Globus zum
       Kunstwerk erklärt, ist Namensgeber der Biennale. Goldfarben ausgekleidete
       Kabinette geben dem rohen Arte-Povera-Material, etwa den Arbeiten von
       Jannis Kounellis, eine kostbare Anmutung. Pistolettos Orchestra di Stracci
       ergötzt mit schallendem Pfeifkonzert der Wasserkessel in einem Lumpenkreis.
       
       Das collagierte Foto seiner nackt und eher gemütlich als lasziv
       hingestreckten, Pfeife rauchenden Venus mit haarigen Männerfüßen,
       angebracht an der weithin sichtbaren Museumsfassade, irritierte prompt. Es
       gab Anweisung, Nippel und Schoß der Frau irgendwie zu bedecken. Alles viel
       zu gefährlich, für Mann und Verkehr und überhaupt. Nun gibt’s halt drei
       kreisrunde Punkte auf dem monumentalen Plakat.
       
       Am Stadtrand, unweit der Ausstellungsgebäude überragt ein brutalistisches
       Hochhaus, die ehemalige Volkshochschule, buchstäblich alles. Die aus einem
       Open Call kuratierten Arbeiten junger Künstler haben hier einen schweren
       Stand im Kontext des beeindruckenden Statements der original erhaltenen
       Architektur aus den radikal modernistischen Siebzigern.
       
       ## Museum für örtliche Textilindustrie
       
       Ähnlich, aber versöhnlicher verhält es sich mit den Arbeiten in dem
       weitläufigen Textilmuseum im Zentrum der Stadt. Zwischen Maschinen und
       Schaukästen, die die Hervorbringungen der örtlichen Textilindustrie
       dokumentieren, überrascht aktuelle Textilkunst. Rätselhaft und einprägsam
       auch der rechteckige grobe Holzblock mit den vier entzückenden
       Puppenmäntelchen als Eckkantenschoner von dem New Yorker Charles LeDray.
       
       Ganz oben in einem Kirchturm wartet ein mit dem typischen Gewebe aus
       recycelten Flaschenverschlüssen von dem ghanaischen Künstler El Anatsui
       farbstark und feierlich ausgekleideter Raum – Arte Povera mit exquisitem
       Ergebnis.
       
       Und über die gesamte Stadt verteilt hat Jaume Plensa 21 schmale
       Aluminiumtüren an Hauswände installiert. Auf jeder ist ein Artikel der 1948
       von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen
       Erklärung der Menschenrechte eingraviert.
       
       „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind
       mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der
       Brüderlichkeit begegnen“, so beginnt sie im ersten Artikel. Die Türen
       werden auch später noch an die 8. Biennale von Herning erinnern, die so
       niemals ganz endet.
       
       8 Aug 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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