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       # taz.de -- SPD-Fraktionschef im Interview: „Ich will keine autofreie Stadt!“
       
       > SPD-Fraktionschef Raed Saleh kritisiert den grünen Koalitionspartner. Die
       > SPD steht laut ihm geschlossen hinter Spitzenkandidatin Franziska Giffey.
       
   IMG Bild: Will Franziska Giffey und dass die SPD gebraucht wird: Raed Saleh
       
       taz: Herr Saleh, als wir vor einem halben Jahr zusammensaßen, lag die SPD
       in den Umfragen bei 17, 18 Prozent, und Sie sagten große Zugewinne dank
       Spitzenkandidatin Franziska Giffey voraus. Nun sind es noch rund 8 Wochen
       bis zur Wahl, und die SPD ist kaum weiter. Was ist los? 
       
       Raed Saleh: Das kommt ja darauf an, auf welche Umfrage Sie schauen. Vor
       einem halben Jahr war die SPD in Berlin bei 14 bis 15 Prozent …
       
       … entschuldigen Sie den Widerspruch, doch bei den großen Instituten hatte
       die SPD in diesem Jahr immer mindestens 17 Prozent, aber viel mehr ist eben
       daraus noch nicht geworden – Ende Juni waren es 18. 
       
       Gucken Sie auf [1][wahlkreisprognose.de], da werden wir jetzt mit 21
       Prozent als stärkste Kraft gemessen. Bei anderen sind wir hinter den Grünen
       zweitstärkste Kraft. Was man erkennen kann, ist in jedem Fall, dass wir
       aufgeholt haben und dass Franziska Giffey von allen Spitzenkandidaten die
       höchsten Sympathiewerte hat.
       
       Unbestritten, und das mit sehr großem Abstand – diese Werte übertragen sich
       aber noch lange nicht 1:1 auf die SPD. 
       
       Mich stimmt sehr optimistisch, was ich zunehmend auf den Straßen und an den
       Wahlkampfständen erlebe: Ich spüre da einen Stimmungsumschwung. In der
       Zuspitzung, je näher die Wahl rückt, wird immer entscheidender werden:
       Welche Person soll dieses Bundesland führen? Das hat man zuletzt bei allen
       Landtagswahlen gesehen, und ich gehe fest davon aus, dass dann die
       Beliebtheitswerte von Franziska Giffey den Ausschlag für uns geben werden.
       Die Leute sehnen sich danach, dass man ihnen – so wie Giffey es tut – klare
       Angebote macht. Mein Eindruck ist, dass ankommt, was wir in unser
       Wahlprogramm geschrieben haben.
       
       Und Ihre Konkurrenz macht solche klaren Angebote nicht? 
       
       Klare Angebote heißt für mich, dass man sagt, wofür man steht. Wir als SPD
       stehen für die ganze Stadt. Wenn man das will, dann kann man nicht
       permanent Radfahrer gegen Autofahrer ausspielen. Und wir stehen auch zum
       Ausbau der U-Bahn.
       
       Das sagt die CDU ebenfalls. 
       
       Auch ich will eine autoarme Stadt, eine emissionsfreie Stadt – aber ich
       möchte keine autofreie Stadt! Man muss Angebote schaffen, und dazu gehört
       der U-Bahn-Ausbau. Und ich kann es auch nicht mehr hören, dass man sagt,
       das dauert so lange – umso mehr muss man doch irgendwann mal anfangen!
       
       Das geht ja nun Richtung Grüne. 
       
       Ich will nicht, dass man Menschen pauschal verurteilt, weil sie Auto fahren
       und nicht mit dem Fahrrad: Ich will Angebote machen. Und ich möchte vor
       allem sichere Radwege. Das, was wir bei den Pop-up-Radwegen gemacht haben,
       war gut und schnell – aber jetzt geht es darum, nachhaltig sichere Radwege
       zu entwickelt und auch endlich Fahrradparkhäuser. Dann sind auch viele
       bereit, ihr Auto stehen zu lassen.
       
       Sie sind doch maßgeblicher Teil der rot-rot-grünen Koalition: Da sind Sie
       doch selbst dafür verantwortlich, wenn es die noch nicht gibt. 
       
       Sie wissen doch, dass es die Ressortzuständigkeit gibt. Die Grünen wollen
       ja auch ein Zwangsticket …
       
       Offiziell wollen die ein verpflichtendes Ticket für alle für Bus und Bahn.
       
       Ich nenne das ein Zwangsticket. Es ist ungerecht, wenn jemand, der nur zu
       Fuß geht oder immer mit dem Rad zur Arbeit fährt, zwangsweise ein solches
       Ticket kaufen muss, das er gar nicht braucht.
       
       Dass Sie das als SPDler sagen – das ist doch ein klassisches
       Solidarprinzip, bei dem alle einzahlen, auch wenn nicht alle Nutzen daraus
       ziehen. 
       
       Dafür gibt es doch die Steuern. Viel besser ist es doch, ein Angebot zu
       machen wie die SPD mit einem 365-Euro-Ticket. Ich bin kein Freund des
       erhobenen Zeigefingers und von Zwang. Wir brauchen in der Klimapolitik viel
       härtere Maßnahmen als je zuvor – aber man muss die Menschen mit auf die
       Reise nehmen.
       
       Was Frau Giffey als Regierende Bürgermeisterin machen will, macht sie
       ziemlich klar – das deckt sich bloß in manchen Punkten nicht mit der
       Haltung Ihrer Parteilinken. 
       
       Was meinen Sie damit?
       
       Die Kritik an Frau Giffeys Kampf gegen Clan-Kriminalität und die Aufregung
       über ihre Forderung, bei schweren Straftaten auch nach Afghanistan und
       Syrien abzuschieben. Wie will sie regieren, wenn die SPD nicht geschlossen
       hinter ihr steht? 
       
       Die Partei steht fest geschlossen hinter Franziska Giffey. Wir haben
       gemeinsam ein Wahlprogramm mit überwältigender Mehrheit verabschiedet. Ihre
       Äußerungen zur Clan-Kriminalität sind eben nicht im Widerspruch zur
       Beschlusslage. Ganz im Gegenteil: Ein Antrag, der gesagt hatte, man dürfe
       das Wort nicht mehr verwenden, wurde beim Parteitag abgelehnt. Es wird von
       außen gern auch mal versucht, einen Widerspruch herbeizuschreiben, den es
       gar nicht gibt.
       
       Beim Thema Abschiebung kam die lauteste Kritik sogar aus Frau Giffeys
       Heimatbezirk Neukölln. 
       
       In einer lebendigen Volkspartei kommt es zwangsläufig zu Reibungen. Ich
       selbst erlebe das permanent, das ist völlig normal. Die Berliner SPD war
       selten so geeint und stabil wie zurzeit.
       
       Ihre rot-rot-grüne Koalition regiert nun seit mehr als viereinhalb Jahren.
       Waren das gute Jahre? Denn oft genug gab es ja Zoff. 
       
       Ich habe seit 2006 im Parlament drei verschiedene Koalitionen erlebt, und
       in jeder hat die SPD viel erreicht. Für Rot-Rot-Grün sage ich: Es waren
       sehr gute Jahre für die Berliner, und was die Fraktionsarbeit betrifft, so
       war die Arbeit zwischen den drei Fraktionen von Vertrauen geprägt.
       
       Wenn das sehr gute Jahre waren, dann müssten Sie doch in jedem Fall
       zusammen weitermachen wollen, auch unter grüner Führung. Oder ist dann doch
       wichtiger, im Roten Rathaus zu bleiben und dafür eine Koalition mit CDU und
       FDP einzugehen? 
       
       Worauf wir uns konzentrieren, ist allein eines: auf ein starkes Ergebnis
       für die Sozialdemokratie.
       
       Dennoch könnten Sie vor der Entscheidung stehen. 
       
       Wir wollen, dass die Berliner SPD am 26. September stärkste Kraft wird und
       dass sie das Vertrauen der Berliner zurückerobert. Und ich möchte, dass die
       SPD auch die künftige Regierung führt und das Rote Rathaus verteidigt.
       Alles andere gehört zu den Spekulationen, die es vor jeder Wahl gibt und an
       denen wir uns nicht beteiligen.
       
       Was ist denn mit Ihnen selbst? Sie führen ihre Fraktion im Abgeordnetenhaus
       jetzt fast 10 Jahre an. Wollen Sie das weitermachen oder – falls das in der
       Hand der SPD liegt – in die Regierung wechseln? 
       
       Ich bin seit 2011 Fraktionsvorsitzender und seit November 2020
       SPD-Landesvorsitzender. Das, was ich jeweils mache, mache ich gern und mit
       vollem Einsatz und mit sehr viel Herzblut.
       
       Die SPD bekommt aber von vielen Leuten zu hören, dass sie gar nicht mehr
       gebraucht werde. Um Umwelt würden sich die Grünen kümmern, um Soziales die
       Linkspartei, um Sicherheit die CDU. 
       
       Was Sie gerade skizziert haben, das hat mich am meisten motiviert, den
       Landesvorsitz zu übernehmen. Ich will gemeinsam mit Franziska Giffey
       beweisen, dass die SPD nicht tot ist, dass die SPD gebraucht wird. Ich sage
       ganz deutlich: Sie wird mehr denn je gebraucht. Schauen Sie auch das Thema
       Mietendeckel, das war eine sozialdemokratische Idee…
       
       … die sich die SPD aber von der Linkspartei hat wegnehmen lassen. 
       
       Dennoch bleibt die Idee dahinter sozialdemokratisch. Gucken Sie doch auf
       die beitragsfreie Kita, auf den gebührenfreien Hort, das Schülerticket, das
       Schulessen – das gäbe es ohne die Berliner SPD alles gar nicht. Das hat die
       Sozialdemokratie durchgesetzt, teilweise gegen den Widerstand des grünen
       Koalitionspartners. Die SPD ist die Partei, die dafür sorgt, dass das Leben
       bezahlbar bleibt.
       
       Sie haben ja stets die alltagsnahen Themen betont … 
       
       … und umgesetzt!
       
       … also im Kern: gut und sicher arbeiten, wohnen, leben und sich
       fortbewegen. 
       
       Das sind doch auch die Bedürfnisse der Menschen. Auch das Thema Sicherheit
       ist für mich ein ursozialdemokratisches Thema.
       
       Für einen Teil Ihrer jungen Parteimitglieder hat das offenbar nachrangige
       Bedeutung 
       
       Wieso?
       
       Da scheint Identitätspolitik mehr zu interessieren als Verkehr, innere und
       soziale Sicherheit. Und weil dieser Teil sehr lautstark ist, kann der
       Eindruck entstehen, dass das und nicht Ihre Themen der Kern der SPD ist. 
       
       Die jungen Mitglieder meiner Partei unterstützen meinen Weg: Die fordern
       eine Ausbildungsplatzgarantie, die wollen, dass die Parks nicht verdreckt
       sind, die sagen mir, dass sie einen sauberen öffentlichen Nahverkehr haben
       wollen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Und ja, auch Identitätsfragen sind
       wichtig.
       
       Sie kennen doch die Geschichte mit der grünen Spitzenkandidatin [2][Bettina
       Jarasch beim Parteitag]. Die hat dort „Indianerhäuptling“ gesagt und dann
       schnell Abbitte geleistet. Hätten Sie sich auch für dieses Wort
       entschuldigt? 
       
       Ich fand es falsch, dass Bettina sich dafür entschuldigen musste.
       
       Musste? Sie ist doch die Spitzenkandidatin, die Nr. 1, das war doch ihre
       Entscheidung. 
       
       Aber musste das drei Wochen durch die Medien gehen? Ich wünsche mir in
       dieser Frage mehr Gelassenheit von beiden Seiten. Es gibt Veränderungen in
       der Sprache, in Formulierungen – und Gott sei Dank gibt es Veränderungen,
       sonst wären wir heute immer noch in der Sprache von Goethe und Schiller.
       
       Was wäre denn schlecht daran? Ist doch eine schöne Sprache. 
       
       Es gibt einen Spruch: Kultur ist, was uns prägt. Und wenn es Änderungen in
       der Sprache gibt, dann kann es sein, dass wir in 20 Jahren nur noch
       lächeln, dass es darüber mal Streit gab. Wenn es keine Veränderungen geben
       würde, würde man mich heute immer noch Ausländer nennen. Daraus wurde dann
       Gastarbeiter, dann Migrant, dann Mensch mit Migrationshintergrund. Heute
       sagt man Zugewanderter – oder Einheimischer.
       
       30 Jul 2021
       
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