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       # taz.de -- Album „Change“ von Anika: Popsongs mit V-Effekt
       
       > Das neue Album der deutsch-britischen Künstlerin Anika vereint Musikstile
       > von Folk bis Elektronik. Zudem betrauert es den Niedergang des liberalen
       > Englands.
       
   IMG Bild: Bewusst immer eine Spur neben der Radiotauglichkeit: Anika
       
       Als Annika Henderson darüber sinniert, wie sie zur Musik kam, fällt ihr
       eine Lehrerin in England ein. „Wir haben im Musikunterricht oft gesungen.
       Da ich schon damals eine tiefe Stimme hatte, sagte meine Lehrerin deshalb
       einmal zu mir: ‚Wir sind nicht beim Fußballspiel, Annika‘ “, erinnert sie
       sich im Gespräch, zu dem wir in einem Park in Berlin-Schöneberg verabredet
       sind.
       
       „Es gibt in England eine bestimmte Vorstellung davon, wie eine Sängerin zu
       singen hat. Daneben gibt es keinen Platz. Ich habe nie konventionell
       gesungen und deshalb meinen eigenen Weg finden müssen.“
       
       Diese Episode weist schon darauf hin, wie Annika Henderson, die sich als
       Künstlerin Anika (mit einem n) nennt, heute in der Musikwelt dasteht. Sie
       gilt als originäre Stimme, ihr Popentwurf zwischen düsterer Elektronik,
       Spoken Word, Postpunk und Folk klingt eigenwillig. Dadurch bleibt Anika
       eben auch eine Randerscheinung.
       
       Warum das so ist, lässt sich auf ihrem kürzlich erschienenen zweiten Album
       „Change“ gut nachvollziehen: Der Titeltrack zum Beispiel hat mit seiner
       Hookline und einem schleppenden Beat durchaus Hitqualitäten: „I think we
       can change / I think we can change“. Aber so, wie Henderson den Refrain
       intoniert – manchmal halb gesprochen, etwas verlangsamt, fast somnambul –,
       liegt der Song immer eine Spur neben der Radiotauglichkeit. Gerade deshalb
       überzeugt er, das Stück klingt wie Pop mit eingebautem V-Effekt.
       
       ## Wandlungsfähig und hochproduktiv
       
       Annika Henderson ist eine wandlungsfähige, eine hochproduktive Künstlerin.
       Unter dem Alias Anika debütierte die deutsch-britische Künstlerin 2010,
       produziert hat ihr Werk damals der befreundete Musiker Geoff Barrow
       (Portishead/Beak). Hendersons kühl-verwegener Gesang fand darauf [1][mit
       dem charakteristischen Bristolsound], geprägt von der starken DJ-Kultur
       der Hafenstadt, zu etwas Neuem zusammen.
       
       Aufgrund ihrer tiefen Stimme wurde sie [2][mit Nico verglichen.] Seither
       ist viel passiert: Anika hat eine neue Band gegründet (Exploded View) und
       mit dieser zwei Alben veröffentlicht; sie spielte ein Werk mit dem
       britischen Elektronikproduzeten Shackleton ein und arbeitete mit weiteren
       zusammen. Überdies hat die 34-Jährige eine eigene Radioshow und – vor
       Corona – DJ-Sets gespielt („auf meine seltsame Art und Weise, alles
       durcheinander“). Mehr als zehn Jahre nach dem Debüt veröffentlicht sie nun
       also endlich ihr zweites Soloalbum.
       
       „Change“ ist, der Titel lässt es vermuten, ein politisches Album geworden.
       Auch deshalb, weil die Ereignisse sich überschlugen, als Henderson mit der
       Arbeit an der Musik begann. Anfang 2020 nahm sie sich dafür drei Monate
       frei, zog von Berlin raus aufs Land nach Brandenburg, um die Kompositionen
       zu verdichten.
       
       ## Corona, Trump, MeToo
       
       „Als ich dann im Frühjahr ins Studio ging, habe ich noch mal bei null
       angefangen. Es gab einfach zu viele Themen, die mich beschäftigt haben:
       Corona, Trump, MeToo, die Black-Lives-Matter-Proteste. Auch das Thema
       Klimawandel war überall in den Medien.“ Schließlich komponierte Henderson
       fast alle Songs im Studio, in nur fünf Tagen.
       
       Auch was die Produktion betrifft, hat die Lockdownsituation Eingang in die
       Musik gefunden. „Ich wollte, dass es Kopfhörersound wird, den man zu Hause
       oder unterwegs für sich hören kann. Es war ja nicht abzusehen, ob wir die
       Songs live aufführen können.“ Inzwischen gibt es erste Konzerttermine in
       Deutschland, Frankreich und England.
       
       Zum Interview in Berlin im Schöneberger Akazienkiez trägt Henderson
       Sonnenbrille und poshe Kleidung in dunklen Farben. Aufgewachsen in der
       Nähe von London, stammt ihre Mutter aus einer deutschen, ihr Vater aus
       einer englischen Familie. Sie studierte zwischen 2005 und 2008 in Cardiff
       Journalismus, ehe sie Ende der nuller Jahre nach Berlin kam, um ein
       journalistisches Praktikum zu machen.
       
       Zeitweilig pendelte sie zwischen Berlin und Bristol, dort kam sie mit Geoff
       Barrow und Beak zusammen. Die Instrumentalband suchte eine weibliche
       Stimme, begann mit Henderson zu proben. So entstand aus dieser
       Kollaboration ihr Solodebüt.
       
       ## England war nicht mehr in Land
       
       In Deutschland lebt die Musikerin auch deshalb, weil sie sich von ihrer
       Heimat entfremdet hat: „In den zehner Jahren wurde England nach und nach zu
       einem Land, das ich kaum wiedererkannt habe. Kurz nachdem ich nach Berlin
       gezogen bin, haben die Liberaldemokraten den Studierenden versprochen, die
       Studiengebühren zu senken – und ihr Versprechen dann gebrochen. Das war für
       mich eine schwarze Stunde der Demokratie. Zuletzt empfand ich die
       Atmosphäre in Großbritannien zunehmend rassistisch, die Ausfälle gegen die
       schwarzen Fußballnationalspieler bei der EM sind nur die Spitze des
       Eisbergs.“
       
       Über diese Entfremdung hat sie nun den Song „Sand Witches“ geschrieben.
       Synthesizer drehen darin ihre immer gleichen Schleifen, dazu ertönen
       hintergründige Pianoklänge, reduzierte Tomtom-Drums und Hendersons
       Sprechgesang: „I don’t like what I see / I don’t like what you’ve become /
       I don’t like what you’ve begun to pedal / the words of the devil / […]
       You’re lost to me now“. Es ist ein Brief an ihr Heimatland, eine Art
       Requiem auf England.
       
       Mit „Change“ entfernt sie sich musikalisch wieder etwas vom Bristolsound,
       stilistisch liegen die neun Stücke sehr weit auseinander. In „Critical“
       klingt langsamer, verschleppter Drum ’n’ Bass (mit manuellem Schlagzeug)
       an. In „Naysayer“ branden Techno- und Industrialklänge auf, der Titelsong
       ist dann fast klassischer Pop, während das Finale „Wait for Something“ der
       britischen Folktradition nahesteht.
       
       Die Musik ist komplex, sperrig, spannungsgeladen – gerade das macht den
       Reiz dieses Albums aus. Und es liegt sicher auch an den unterschiedlichen
       Einflüssen aus vielen verschiedenen Epochen, die sich in Anikas Sound
       vereinen: „Für dieses Album war zum Beispiel Goldies ‚Timeless‘ eine
       wichtige Referenz. Darüber hinaus haben mich schon immer die starken Frauen
       der Popgeschichte geprägt, etwa Dusty Springfield, [3][PJ Harvey] oder
       [4][Patti Smith.]“
       
       ## Hannah Arendt hat sie beeinflusst
       
       Inhaltlich hat „Change“ eine Tiefe, die die Künstlerin auch als
       Persönlichkeit ausstrahlt. Nach der Lektüre von [5][Hannah Arendts
       „Eichmann in Jerusalem“] (1963) hat Henderson die Frage beschäftigt, wie
       die Verantwortlichen faschistischer Regime zur Rechenschaft gezogen werden
       können, nachdem diese gefallen sind.
       
       Auch Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ (1962), ein früher Klassiker der
       Umweltschutzbewegung, hat Spuren auf „Change“ hinterlassen, mit „Never
       Coming Back“ betrauert Anika den Verlust der Artenvielfalt. Doch über allem
       steht die mantraartig wiederholte Zeile des Titelsongs: „I think we can
       change“. Noch sind wir zu retten. So ganz sicher kann man sich aber nicht
       sein, dass Anika auch wirklich glaubt, was sie da singt.
       
       6 Aug 2021
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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