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       # taz.de -- Frauenrechte in Afghanistan: Der Abschied von der Freiheit
       
       > Malala Maiwand wuchs in einem Afghanistan ohne das Taliban-Regime auf.
       > Vor einem halben Jahr wurde sie ermordet. Sie hinterlässt eine klare
       > Botschaft.
       
   IMG Bild: Fatima Zaara Hilal ist die Schwester der ermordeten Malala Maiwand
       
       Dschalalabad taz | Gul Mullahs Gesicht ist gezeichnet von Verlust und
       Angst. Er öffnet die Tür seines bescheidenen Hauses in der ostafghanischen
       Stadt Dschalalabad, nahe der Grenze zu Pakistan. Gul Mullah schenkt Tee
       ein, legt Obst auf die Teller. Wenn die Geschichte seiner Tochter erzählt
       werde, sei sie in dieser Welt weiter anwesend, sagt der 51-Jährige. „Sie
       war nicht nur Journalistin. Malala war Schriftstellerin, Rednerin, sie
       wusste, wie man mit Menschen spricht.“ 26 Jahre alt war Malala Maiwand, als
       Unbekannte sie und ihren Fahrer töteten. Bewaffnete Männer griffen sie auf
       der Straße vor ihrem Haus an, als sie zur Arbeit fahren wollte.
       
       „Malala war ein Schatz, ein Juwel der afghanischen Gesellschaft, und sie
       ist nicht mehr bei uns“, sagt ihr Vater.
       
       Die Journalistin arbeitete [1][bei Enikass, einem großen Radio- und
       Fernsehsender in der Provinz Nangarhar.] Ihre Mörder duldeten nicht, dass
       sie als Journalistin vor der Kamera stand, dass sie sich als Aktivistin für
       Bürger*innenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen einsetzte.
       Die Täter wollten nicht, dass sie Frauen eine Stimme gab.
       
       „Das war der Sinn des von ihr gewählten Berufs“, sagt Gul Mullah. Um Frauen
       zu fördern, habe Malala in Kandahar Workshops gegeben. Sie habe ihnen
       gesagt, sie könnten die afghanische Gesellschaft stärken, indem sie den
       kleinen Spielraum nutzen, den sie bekommen hätten.
       
       Nach ihrer Ermordung zeigte sich die Regierung empört und verkündete die
       Festnahme von zwei Verdächtigten. Aber Malalas Familie denkt, dass damit
       nur andere Aktivist*innen zum Schweigen gebracht werden sollten.
       
       Sediqullah Tawhidi ist Mitglied im afghanischen Sicherheitsrat für
       Journalist*innen und macht sich Sorgen. „Wenn die Regierung ihre
       Bürger*innen nicht verteidigen kann, ist dies das Ende der
       Pressefreiheit in Afghanistan. Für die Bevölkerung ist es jetzt von
       entscheidender Bedeutung, frei ihre Meinung sagen zu können und sich etwa
       für einen inklusiven Frieden einzusetzen.“
       
       Die Zukunft von Frauenrechten und Meinungsfreiheit in Afghanistan sind nur
       zwei der vielen Fragen, die sich seit dem Beginn der Offensive der Taliban
       aufdrängen. Der brutale Vormarsch der Islamisten begann nach Beginn des
       bedingungslosen Abzugs der US-Truppen, der bis Ende August abgeschlossen
       sein soll. Viele Menschen haben Angst, zu Situationen wie in den 1990er
       Jahren zurückzukehren, als die Taliban den Großteil des Landes
       kontrollierten.
       
       Damals verboten die Taliban Mädchen und Frauen den Zugang zu Bildung und
       Arbeit und verpflichteten sie zum Tragen der Burka. [2][Seit dem Sturz des
       Taliban-Regimes Ende 2001 hat Afghanistan große Fortschritte bei der
       Stärkung der Rechte von Frauen gemacht.] Aber diese Fortschritte sind in
       Gefahr – denn die fundamentalistischen Taliban [3][haben einen Großteil des
       Landes innerhalb kürzester Zeit wieder erobert.]
       
       „Viele, zu viele Menschen hier sind gegen Freiheiten der Frauen und wollen
       zurück zu den dunkelsten Zeiten Afghanistans. Dies ist ein Verrat an allen
       Afghan*innen, besonders aber an den Frauen und an jenen, die geglaubt
       haben, das Land verändern zu können. Um das zu erreichen, braucht man Zeit,
       Geduld und Respekt“, sagt Fatima Zaara Hilal.
       
       Die 23-Jährige ist eine von Malalas Schwestern. Während sie redet,
       betrachtet sie Bilder einer politischen Debatte, die Malala im
       Enikass-TV-Studio moderiert hatte. Sie könne den Tag des Mordes nicht
       vergessen, erzählt sie. Sie habe die Schüsse gehört und sei mit ihrem
       Bruder auf die Straße gerannt. Malalas Mörder hätten auch in ihre Richtung
       geschossen, sie aber verfehlt. Bevor sie davonrannten hätten sie sich noch
       Malalas Leiche genähert und ihre Burka gehoben, um ihre Identität zu
       kontrollieren. Sie hätten genickt, ihren Rucksack und Laptop genommen und
       seien abgehauen.
       
       ## Der Fortschritt war da
       
       „Kehren die Taliban an die Macht zurück, wird es eher noch schlimmer als in
       der Vergangenheit, weil meine Generation mit der Chance auf Bildung
       aufgewachsen ist und der Hoffnung, ein aktiver Teil der Gesellschaft zu
       sein. Heute wirken diese Hoffnungen wie Illusionen, Hohn.“ Das Ausland habe
       seine Intervention in Afghanistan damit begründet, die Menschenrechte zu
       verteidigen. „Jetzt hat das Ausland die moralische Pflicht, uns dabei zu
       helfen, sie zu erhalten“, sagt Fatima. „Sie können sich doch nicht abwenden
       und uns hier mit einem finsteren Regime zurücklassen.“
       
       Heute gibt es in Afghanistan eine ganze Generation, die erst nach dem
       Taliban-Regime aufgewachsen ist. 63 Prozent der Bevölkerung sind jünger als
       24 Jahre. Fatima und Malala waren Kinder während des Taliban-Regimes, aber
       Fatima erinnert sich, was ihre Mutter erzählte: Frauen mussten in der
       Öffentlichkeit Hidschab oder Burka tragen und durften nicht ohne ein
       männliches Familienmitglied ausgehen. Sie hatten fast keine Rechte. Mädchen
       durften nach dem 8. Lebensjahr nicht mehr zur Schule gehen.
       
       Seitdem hat sich vieles verändert: Dreieinhalb Millionen Mädchen gehen zur
       Schule. In den letzten zwanzig Jahren haben allein die USA umgerechnet fast
       700 Millionen Euro ausgegeben, um die Rechte afghanischer Frauen in
       Afghanistan zu stärken. Laut Bildungsministerium sind 40 Prozent der
       Studierenden in Afghanistan Frauen. Im Parlament sind mehr als 20 Prozent
       der Abgeordneten Frauen, ebenso ein Drittel der Beamt*innen. Es gibt
       Frauen, die als Ministerinnen und Botschafterinnen arbeiten.
       
       Aber der Fortschritt war nicht überall gleich. In manchen Gegenden werden
       Schulen ständig angegriffen, mehr als tausend Schulen mussten in den
       vergangenen Jahren wieder schließen. Auch der Unterschied zwischen Stadt
       und Land ist immer noch riesig.
       
       Nach Angaben lokaler Behörden haben die Taliban in den von ihnen eroberten
       Gebieten die Rechte und Freiheiten von Frauen und Mädchen schon wieder
       eingeschränkt. Demnach verboten sie Frauen und Mädchen den Zugang zu Arbeit
       und Schulen und verlangten bei jedem Ausgehen die Begleitung eines
       männlichen „Betreuers“.
       
       Malala Maiwand wuchs in in einem Afghanistan ohne das Taliban-Regime auf.
       Und sie kämpfte immer gegen die Rückkehr der Islamisten. Sie fürchtete
       Einschränkungen durch eine künftige Regierung, die aus einem Abkommen mit
       den Taliban hervorgehen würde. Vor ihrer Ermordung sprach sie öffentlich
       über die Herausforderung, Frau und Aktivistin zu sein, sprach von ihrem
       Wunsch, die Arbeit ihrer Mutter fortzusetzen. Auch die war vor fünf Jahren
       von einem bewaffneten Kommando getötet worden.
       
       „Ohne Frieden gibt es kein Leben. Das Recht auf Bildung, Unterkunft,
       Gesundheitsversorgung, Arbeit und freie Meinungsäußerung kann nur geschützt
       werden, wenn in einer Gesellschaft und im Land Frieden herrscht“, sagte sie
       in einem Radiointerview. Sie kritisierte das Abkommen zwischen den USA und
       den Taliban vom Februar 2020, in dem der Abzug der US-Truppen vereinbart
       wurde. „Darf ich nach einem Friedensabkommen mit den Taliban an einer
       solchen Versammlung teilnehmen, ans Mikrofon kommen und Fragen stellen, wie
       ich es heute mache“, fragte sie.
       
       ## Taliban drohten Journalist*innen mit Konsequenzen
       
       Monatelang verfolgten die Taliban eine Mordkampagne mit dem Ziel,
       Journalist*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft zum
       Schweigen zu bringen. Nach Malalas Ermordung wurden drei weitere Frauen –
       ebenfalls Journalistinnen – getötet. Wegen dieser Morde entschieden sich
       einige Sender in der Provinz Nangarhar, aus Sicherheitsgründen keine Frauen
       mehr zu beschäftigen. Nach Angaben des Komitee zum Schutz von Journalisten
       (CPJ) wurden in Afghanistan seit 1994 51 Journalist*innen getötet. Die
       Behörden untersuchten davon nur wenige Fälle.
       
       Die Taliban bestreiten, Journalist*innen zu bedrohen und werfen der
       afghanischen Regierung vor, Medien gegen sie einzusetzen. Aber im Mai
       warnte der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid afghanische
       Journalist*innen davor, einseitig zugunsten der Regierung in Kabul zu
       berichten. Sie sollten damit aufhören oder müssten „mit Konsequenzen
       rechnen“.
       
       Mohammad Hamaion Latifi ist der stellvertretende Direktor von Enikass, dem
       früheren Arbeitgeber der ermordeten Malala Maiwand. Um zu seinem Büro in
       Dschalalabad zu gelangen, sind drei gepanzerte Türen zu passieren. „Früher
       haben hier über einhundert Menschen gearbeitet, Journalist*innen und
       Techniker*innen“, sagt er stolz.
       
       Latifi geht durch die leeren Korridore der früheren Nachrichtenredaktion.
       Heute ist von ihr nichts mehr übrig. Das ganze Equipment wurde wegen der
       Sicherheitslage in Dschalalabad nachts eilig nach Kabul verlegt. Als
       Erinnerung an die frühere Arbeit in diesen Räumen sind nur noch zwei
       Gemälde erhalten. Eines zeigt das Team bei der Arbeit und das andere zeigt
       Bilder und Namen der ermordeten Journalist*innen. „Sie sind unsere
       Märtyrer*innen“, sagt Latifi. „Hier waren sie sicher, aber wenn sie durch
       die gepanzerten Türen hinausgingen, waren sie es nicht mehr. Niemand hat
       sie beschützt.“
       
       Nach Angaben des afghanischen Informations- und Kulturministers mussten
       seit Beginn der Taliban-Offensive im Mai 51 Medienbüros schließen. Die
       Organisation Nai Media Watch, die die Lage der Medien im Land überwacht,
       nennt fünf Fernsehsender, 44 Radiosender und zwei Presseagenturen. Tausende
       Journalist*innen verloren ihren Job. Am verheerendsten ist demnach die
       Lage in den von den Taliban kontrollierten Gebieten. In der südlichen
       Provinz Helmand wurden 16 Medienbüros angegriffen und geschlossen. Sechs
       Radiosender dort würden jetzt unter Kontrolle der Taliban stehen.
       
       Es ist 18 Uhr, als Gul Mullah das Grab seiner Tochter besucht. Die Sonne
       geht unter. Kinder entfliehen der Hitze durch ein Bad im Fluss. Gul Mullah
       öffnet seine Arme zum Gebet. Auf dem Nachhauseweg schaut er sich immer
       wieder ängstlich um. „Die Ideologie der Taliban ist klar. Es sind
       dieselben, die vor zwei Jahrzehnten an der Macht waren und den Frauen ihre
       Rechte nahmen“, sagt er. „Und doch habe ich Malala nie gebeten, aufzuhören
       oder sich zurückzunehmen.“ Er habe sie immer ermutigt. „Als sie erfuhr,
       dass ihr Name auf einer Liste lokaler Gruppen mit Verbindung zum
       Islamischen Staat steht, sagte sie mir: ‚Wenn ich nach der ersten
       Einschüchterung aufhöre, hat meine Arbeit keinen Sinn.‘ “ Heute riskieren
       Millionen afghanischer Frauen wie sie ihr Leben und ihre Freiheit.
       
       15 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/channel/UCxuyVzaeguo6Tr1PeHrMqjA?view_as=subscriber
   DIR [2] /Vor-Friedensgespraechen-in-Afghanistan/!5702474
   DIR [3] /Vormarsch-der-Taliban-in-Afghanistan/!5788071
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Francesca Mannocchi
       
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