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       # taz.de -- Experte über deutsche Entwicklungspolitik: „Ziel ist Migrationsverhinderung“
       
       > Für die deutsche Entwicklungspolitik sind innenpolitische Interessen
       > bestimmend. Wer Veränderung will, darf nicht CDU, FDP oder AfD wählen,
       > sagt der Experte Aram Ziai.
       
   IMG Bild: Wer wird nächste*r Entwicklungsminister*in? Hier Amtsübergabe von Niebel (links) an Müller, 2013
       
       taz: Herr Ziai, 1960 wurde das Solidaritätskomitee der DDR gegründet, 1961
       das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Was hat die
       deutsche Entwicklungspolitik in 60 Jahren für soziale Gerechtigkeit getan? 
       
       Aram Ziai: Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass Entwicklungspolitik
       für globale soziale Gerechtigkeit sorgen soll. Ich denke, dass das ein
       verkürztes Verständnis ist. Der Entstehungskontext der
       Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zeigt, dass es nicht nur darum geht, den
       „armen Menschen im globalen Süden zu helfen“. Geopolitische und
       außenwirtschaftliche Motive waren und sind immer präsent. Nach dem Zweiten
       Weltkrieg, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, vor dem Hintergrund
       [1][antikolonialer Bewegungen] hatte die EZ auch die Funktion, Versprechen
       zu geben.
       
       Was wurde versprochen? 
       
       Wohlstand und „Entwicklung“ – um unabhängig werdende Staaten in Afrika und
       Asien vom Überlaufen ins sozialistische Lager abzuhalten. Wir können
       mindestens drei Motive ausmachen. Zum einen das geopolitische Motiv, also
       die Unterstützung befreundeter antikommunistischer Regime.
       
       … Sie sprechen jetzt von bundesrepublikanischer Politik … 
       
       Ja, damit kenne ich mich besser aus. Ich denke aber das im zweiten
       deutschen Staat ähnliche Motive leitend waren. Das zweite,
       außenwirtschaftliche, wurde ebenfalls von CDU/CSU und FDP immer wieder
       bedient. Nach dem Motto: [2][„EZ kommt unserer Exportindustrie zugute, weil
       Siemens dann zum Beispiel auch Turbinen für die Projekte liefern kann.“]
       Das genuin entwicklungspolitische Motiv ist das dritte, aber eben nicht das
       einzige. Man kann aber auch eine gewisse Fokusverschiebung sehen.
       
       Inwiefern? 
       
       Die Lieferbindung, also die Praxis, dass bei Entwicklungsprojekten nur
       deutsche Produkte Verwendung finden, hat abgenommen. Bei manchen
       Entwicklungsagenturen ist das allerdings immer noch da. Zu denken, EZ hätte
       das alleinige Ziel, den Menschen im Süden zu einem besseren Lebensstandard
       zu verhelfen, wäre sehr kurzsichtig.
       
       Muss es denn das alleinige Ziel sein? Win-win, könnte man sagen. 
       
       Der Entwicklungspolitik der BRD liegt die Annahme zugrunde, dass es keinen
       Widerspruch gibt zwischen dem Ziel der Armutsbekämpfung und dem Ziel,
       andere Länder in die globale Wirtschaft zu integrieren. Das stößt aber
       aufgrund deutlicher Widersprüche schon lange auf Kritik. Letztlich ist,
       wenn es um die Lebensverhältnisse im Süden geht, die EZ eigentlich ein
       kleines Licht und die entscheidenden Fragen sind solche nach Welthandel
       oder nach Verschuldung.
       
       12,43 Milliarden Euro, die Deutschland 2021 für EZ ausgibt, sind doch kein
       kleines Licht. 
       
       Doch. Der Umfang der staatlichen Gelder, die als Entwicklungshilfe nach
       Süden gehen, liegt weltweit pro Jahr zwischen 150 bis 200 Milliarden
       US-Dollar. Die BRD hat einen relativ großen Anteil daran. Der Nettotransfer
       von Süden nach Norden aber beträgt jedes Jahr 1.000 Milliarden. Dabei
       spielen Profite, die in den Norden zurückfließen, eine Rolle,
       Schuldendienst oder eben [3][Steuerflucht]. Die Entwicklungspolitik
       versucht seit Langem, Armutsbekämpfung zu betreiben, ohne den Reichen auf
       die Füße zu treten. Eine konsequente Politik müsste eingestehen: Wenn die
       entscheidenden Parameter für Ungleichheit in der Weltwirtschaft zu finden
       sind, müssten eben auch diese Strukturen in den Blick geraten und auf das
       Ziel der Armutsbekämpfung ausgerichtet werden.
       
       Was heißt das konkret? 
       
       Das wurde schon einmal politisch versucht – unter [4][Heidemarie
       Wieczorek-Zeul] (SPD-Entwicklungsministerin von 1998 bis 2009, d. Red.).
       Sie wagte den Versuch, Entwicklungspolitik aus der Nische zu holen, in der
       hie und da Brunnen gebaut werden. Sie versuchte eine Entwicklungspolitik zu
       betreiben, die globale Strukturen verändert. Das war aber hochgradig
       konfliktiv. Die Ministerin handelte sich großen Ärger mit dem Wirtschafts-
       und Landwirtschaftsministerium ein, wo man schließlich deutsche Interessen,
       und das hieß für sie: die Interessen der deutschen Wirtschaft vertreten
       wollte. Ihre Versuche, eine entwicklungspolitische Handlungslogik zu
       verallgemeinern, waren in den wenigsten Fällen erfolgreich. Obwohl sie auch
       mit nationalen Interessen argumentierte: Armut im Süden sei zu bekämpfen,
       weil sie über Krisen, Migration, Terrorismus auch den Norden negativ
       beträfe.
       
       Ein Argument, das sich der [5][scheidende Gerd Müller (CSU)] zu eigen
       gemacht hat. Ist das Lieferkettengesetz in Ihrem Sinne? 
       
       Dieses Gesetz geht in die richtige Richtung. Da hat das
       Entwicklungsministerium eben nicht irgendeine Initiative gestartet, sondern
       es war klar: wenn weltwirtschaftliche Strukturen verändert werden sollen,
       dann müssen Arbeitsminister und Wirtschaftsminister eben auch mitspielen.
       Es ist ein Erfolg, dass es bei dem Gesetz, so abgeschwächt es auch sein
       mag, zu einer Einigung gekommen ist. [6][Der Anspruch wäre aber, solches
       nicht nur für die Lieferketten in der Textilindustrie durchzusetzen.] Wenn
       man Menschenrechte und die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO ernst
       nimmt, muss das ein Querschnittsthema sein. Ansonsten konterkariert man
       Erfolge in der Armutsbekämpfung mit der Wirtschaftspolitik, die man macht.
       
       Müller wurde auch dafür gelobt, dass der Entwicklungshaushalt auf die von
       der UNO vorgesehenen 0,7 Prozent des BIP anwuchs … 
       
       Das 0,7-Prozent-Ziel wurde nach 2015 erreicht, und zwar deswegen, weil die
       Aufwendungen für Geflüchtete zum Entwicklungsbudget gerechnet wurden. Damit
       einher ging aber – das ist auch Minister Müller anzurechnen –, dass
       Entwicklungspolitik noch mal stärker zu Migrationspolitik wurde. Das zeigt,
       wie sich die Entwicklungspolitik daran orientiert, was innenpolitisch
       gerade gefragt ist. Das kommt als Viertes zu den bereits erwähnten drei
       Motiven hinzu: das übergreifende Ziel seit 2015 ist
       „Fluchtursachenbekämpfung“, wenn man es böswillig auslegt
       „Migrationsverhinderung“. Organisationen wie Medico International fordern
       hingegen das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen. In diesem Bereich
       lässt die Politik der BRD und der EU allgemein zu wünschen übrig.
       
       Bei welcher Partei machen jene ihr Kreuz, die auf globale Armutsbekämpfung
       Wert legen? 
       
       Die FDP hat mit [7][Dirk Niebel] (Entwicklungsminister von 2009 bis 2013,
       d. Red.) unter Beweis gestellt, dass sie vor allem die deutschen Interessen
       wichtig findet. Die AfD sieht die Legitimation von Entwicklungspolitik in
       der Migrationsverhinderung. Beim Lieferkettengesetz hat es gehakt, weil die
       Union sich so lange gesträubt hat. In den anderen Parteien sind teilweise
       entwicklungspolitisch kompetente Leute zu finden, die aber auch in
       unterschiedlichem Maße bereit sind, die unangenehmen Fragen zu stellen und
       sich von der Vertretung deutscher Interessen zu lösen.
       
       22 Aug 2021
       
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