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       # taz.de -- Erzählungen von Mary Miller: Das Gefühlsding
       
       > Mary Miller erzählt in „Always Happy Hour“ von weiblichen Enttäuschungen.
       > Sie beweist dabei Klassenbewusstsein bis in die popkulturellen Zeichen
       > hinein.
       
   IMG Bild: Die Frauen in ihren Erzählungen gehören nicht unbedingt zur Mittelschicht: US-Autorin Mary Miller
       
       These: Vielleicht ist Mary Miller, Texanerin, Anfang 40, so etwas wie die
       frühere Judith Hermann der USA. Sie hat ein feines Gespür für die
       diskursiven Schwingungen, die sie im banalen Alltag einfacher
       Amerikanerinnen (und Amerikaner) ausmachen kann; sie hat es mit einem Roman
       probiert, ist aber merklich auf der Kurzstrecke zu Hause und dort nahezu
       unschlagbar; sie ist die Repräsentantin einer Generation, die – hier
       beginnen die feinen Unterschiede – unterhalb der Mitte steht, also eher
       [1][„White Trash“] ist als akademisches Prekariat, und von der alten New
       Yorker Intelligenzija ist Miller so weit entfernt wie, sagen wir, Judith
       Hermann vom Nobelpreis für Literatur.
       
       Obwohl, man weiß ja nie. „Always Happy Hour“ heißt etwas platt Millers
       neues Buch. Es heißt allerdings schon im Original so (die Übersetzung von
       Stefanie Jacobs ist wie gewohnt nahezu fehlerfrei) und ist bereits 2017
       erschienen.
       
       Die Geschichten ähneln in der Grundstruktur denen, die Miller schon in
       ihrem ersten Band [2][„Big World“] gesammelt hatte: Geschichten aus dem
       einfachen Leben junger Frauen aus der amerikanischen Provinz – und ihrer
       Probleme mit sich selbst samt den dazugehörigen Männern. „Always Happy
       Hour“ verfolgt dabei ein Konzept: Es sind Beziehungsgeschichten,
       Geschichten über Freunde und Ex-Freunde, und als solches ist das Buch auch
       explizit den Ex-Freunden der Autorin gewidmet.
       
       ## In Gedanken die Studenten verführen
       
       Wobei man annehmen darf, dass die enthaltenen elf Geschichten eher
       Fallbeispiele sind als eins zu eins aus dem Leben der Autorin gegriffen.
       Einzig „Eins nach dem Anderen“ ist eine autofiktionale Geschichte und
       vielleicht auch deswegen die stärkste. Hier erzählt Miller von ihrer
       Stipendiatinnenstelle an irgendeiner südstaatlichen Provinzuni; sie
       erzählt, wie sie in Gedanken ihre Studenten verführt, während ihr „Freund“
       weit weg ist, und sie erzählt, wie sie mit der Langstrecke, also dem Roman
       hadert.
       
       „Das Haus liegt hinter einem großen Tor, auf vierzig hügeligen Hektar Land.
       Meine Freundin Leslie sagt, das Grundstück sei früher mal ein
       Cherokee-Friedhof gewesen; ein Mann, der mit mir ins Bett will, behauptet,
       hier im Wald würde der Geist von Geeshie Wiley herumspuken.“
       
       In anderen Geschichten geht es oft um Kinder, um die Kinder der anderen,
       meist der Männer, mit denen die Erzählerinnen zusammen sind. Und immer geht
       es um Frauen, die nicht unbedingt zur Mittelschicht gehören, und Miller
       beweist bis in die popkulturellen Zeichen und Produkte hinein durchgehend
       Klassenbewusstsein. Ohne allerdings in die Analyse zu gehen – oder
       irgendwelche Exit-Optionen zu fantasieren.
       
       Insofern ist „Always Happy Hour“ sehr amerikanisch: Es ist gut erzählt. Es
       hält sich dicht an die Realität. Es hat ein Sensorium für Gefühle. Es ist
       kurz gehalten und verzichtet auf Überbau, Ausblick, Experiment. Manchmal
       ist das schade.
       
       ## Noch mehr Trailer im Trailerpark
       
       Auch dass Miller bei aller Entwicklung hier und da zu Wiederholungen neigt
       – oder dass man, wenn man „Big World“ gelesen hat, erst einmal aufstöhnt,
       wenn wieder von Männern aus kleinkriminellen Milieus erzählt wird oder noch
       einmal ein Trailer in einem Trailerpark der Ausgangspunkt einer Geschichte
       ist.
       
       „Ich habe ihr erzählt, dass meine Brüder früher immer Waschbären gejagt,
       aber nicht gegessen, sondern an Schwarze verschenkt haben. Sie meinte, das
       wäre rassistisch, dabei ist es doch bloß die Wahrheit, das haben sie
       wirklich gemacht, und ich weiß echt nicht, was daran rassistisch sein soll.
       Vielleicht hätte ich einfach den Mund halten und nichts davon erzählen
       sollen.“
       
       Auch die weibliche Enttäuschung, die in den Protagonistinnen lauert, durch
       sie durchscheint, wird hier und da fragwürdig: Ja, glauben sie denn
       wirklich alle noch an die große Liebe? Scheint hinter der großen Illusion
       gar nichts auf, zum Beispiel eine Alternative zu bisherigen
       Liebeskonzepten? Auch die Kinder der anderen lassen sich auf die
       Kinderlosigkeit der Erzählerinnen beziehen: Ja und?, ist man manchmal
       geneigt zu fragen.
       
       Das sind die Probleme, die auf so tolle Autorinnen wie Nicole Flattery,
       Elizabeth Ellen oder eben Mary Miller warten (Sally Rooney ist ein etwas
       anderer Fall): Sie müssen raus aus ihren Zonen, um neues Material zu
       gewinnen. Sie müssen nach oben. Oder noch tiefer. Aber tiefer geht kaum,
       das gilt zumindest für Mary Miller.
       
       14 Aug 2021
       
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