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       # taz.de -- Politisches Schachern um Afghanistan: Schämt euch!
       
       > Unaufmerksamkeit und Desinteresse gingen der menschlichen Katastrophe in
       > Kabul voraus. Erschwerend kommt jetzt noch deutsche Bürokratie dazu.
       
   IMG Bild: Ein Baby wird im Chaos der flüchtenden Menge den US-Soldaten hinaufgereicht. Kabul am 19. August
       
       Noch während ich diese Kolumne schreibe, erklärt Bundesaußenminister Heiko
       Maas: „[1][Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir
       ausfliegen wollen].“ Man stelle sich diesen Satz als Bildunterschrift der
       Bilder vor, die seit Tagen in den Medien kursieren.
       
       Unter Eltern, die ihr Baby in die Hände von Soldaten geben, ganz gleich,
       was kommt, unter Bilder von Journalisten, die Strafe der Taliban fürchten
       für ihre Berichterstattung, unter Bilder von Menschen, die sich aus
       Verzweiflung lieber an ein Flugzeug hängen, als bei den Taliban zu bleiben,
       weil sie dort nur zur Trophäe werden könnten für den Sieg, den die Taliban
       gegen die Freiheit errungen haben.
       
       Seit bald zehn Tagen sehen wir die Bilder dieser humanitären und
       militärischen Katastrophe, und man weiß leider, dass die
       Wohlstandsverwahrlosten, die Freiheit so wertvoll finden, bald schon keine
       Kraft mehr haben werden für das Elend der anderen. Es wird schnell zu viel
       sein, neben den eigenen Sorgen noch an Menschen zu denken, die so weit weg
       im Elend leben.
       
       Es liegt nun an jedem von uns, den Regierenden klarzumachen, dass wir
       repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen
       Menschen in Kriegsgebieten zurücklässt. Die Bundesregierung schafft seit
       zehn Tagen einmal mehr ein bürokratisches Chaos, wie bei so vielen Themen,
       wo es am Ende mehr Papier als Lösungen gibt. Doch hier geht es um
       Menschenleben. Schnell wurde bekannt, dass Menschen, die gerettet werden
       müssen, auf Listen kommen sollen.
       
       ## Triage auf dem Flughafen
       
       Wie sie aber zum Flughafen kommen sollen, dafür fühlte sich die
       Bundesregierung zunächst nicht zuständig. Es begann ein [2][Schachern] um
       den Status, nach dem die Bundesregierung verantwortlich sei: Festangestellt
       oder nicht, weisungsgebunden oder nur bei Subunternehmen angestellt,
       dieselbe perfide neoliberale Logik wie auch hierzulande:
       
       Dienstleistungen von Menschen zu erkaufen und ihnen als Arbeitgeber
       gleichzeitig so wenig Verbindliches wie möglich bieten zu müssen, diese
       ohnehin unmenschliche Logik wollte man kurzerhand auch in eine Situation
       übertragen, in der Krieg herrscht, wo es ums Leben oder Tod geht: Wir haben
       keine Fürsorgepflicht für dich, du warst ja nicht weisungsgebunden, auch
       wenn du uns die letzten Jahre geholfen hast.
       
       Wer wird gerettet? Und wie? Die WDR-Moderatorin [3][Isabel Schayani], der
       wir, so wie [4][Natalie Amiri], wichtige Informationen über die Lage in
       Afghanistan verdanken, setzte vor vier Tagen einen Tweet und fasste damit
       die Doppelmoral der Bundesregierung zusammen: „Bei Corona versuchten wir
       alles, um den Ärztinnen eine Triage zu ersparen. Zu Recht. Was da in
       [5][#KabulAirport] abgeht, muss Super-Selektion sein. Triage zum Quadrat.
       Überleben der Stärksten. Die armen Menschen, die da Listen führen und
       entscheiden, wer mitkommt und wer nicht.“
       
       „Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen
       wollen“, sagt Heiko Maas. Unterdessen fürchten Frauenrechtlerinnen um ihr
       Leben und mit ihnen viele deutsche Hilfsorganisationen. Innenminister Horst
       Seehofer bestritt, es dürften alle kommen, ohne Bürokratie, während
       Frauenorganisationen warten und nicht wissen, wie das Kommen umgesetzt
       werden kann.
       
       Auch die internationale Frauenorganisation Medica Mondiale, die sich noch
       in Zeiten des Krieges in Ex-Jugoslawien gegründet hatte, weiß immer noch
       nicht, wie es weitergeht. Deren Gründerin, die Ärztin [6][Monika Hauser],
       erklärte mir gegenüber: „Unsere Kolleginnen können nicht raus aus
       Afghanistan, weil es immer noch keinen gesicherten Korridor gibt. Selbst
       wenn sie es zum Flughafen schaffen, ist nicht klar, ob sie das Flugfeld
       betreten dürfen.“
       
       ## Warnungen schlicht ignoriert
       
       Müsste es nicht so laufen, dass die Bundesregierung auf die
       Menschenrechtsorganisationen zugeht, statt dass sich jede einzeln durch den
       Apparat kämpfen muss, um zu erfahren, wie es weitergeht? In einer
       funktionierenden Demokratie kann die Zivilgesellschaft nicht nur in die
       Pflicht genommen werden, man kann nicht Projekte vergeben an Träger, die
       dann vertrauensvoll Entwicklungsarbeit leisten, um im Notfall machtlos
       dazustehen und den eigenen Leuten sagen zu müssen, dass man von der eigenen
       Regierung nicht mehr unterstützt wurde?
       
       [7][Marcus Grotian] vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte hat
       mehr für die Aufklärung über die Arbeit der Bundesregierung getan als jedes
       Ministerium. Die Transparenz über das Handeln und Scheitern in den
       Ministerien scheint den Regierenden kein Bedürfnis zu sein. Grotian
       berichtet von Unterlassungen, mit denen er umgehen musste, seit er Menschen
       aus Afghanistan retten will. Er bot dem Bundeskanzleramt seine Hilfe an,
       weil die Ministerien sich gegenseitig blockierten und zu lange brauchten.
       
       Er erhielt keine Reaktion, keine Antwort. Man muss danach fragen, ob sich
       noch jemand schämt. Wer kann eine Mail von Marcus Grotian lesen und einfach
       nicht darauf antworten? Repräsentative Demokratie ist Politik im Namen des
       Volkes. Wenn Privatleute ein persönliches Wertesystem haben, dass es ihnen
       ermöglicht, solche Mails auszusitzen, fein. Mein Beileid. Aber nicht als
       Amtsträger, nicht als jemand, der Verantwortung übernommen hat. Das Leid in
       Afghanistan ist Konsequenz eines internationalen Scheiterns, ja.
       
       Doch in Deutschland wird es zunehmend zu einer Vertrauensfrage zwischen
       Bundesregierung und Zivilgesellschaft. Selbst wenn die internationalen
       Geheimdienste versagt haben – Menschen wie Marcus Grotian hatten frühzeitig
       Alarm geschlagen, weil sein Verantwortungsgefühl für die Menschen größer zu
       sein scheint als das jener, die die politische Verantwortung tragen.
       
       Vor der Bundespressekonferenz warf er am Dienstag der Bundesregierung
       „unterlassene Hilfeleistung“ vor. Man muss jetzt den Regierenden deutlich
       machen: „Nicht in unserem Namen!“
       
       25 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://web.de/magazine/politik/afghanistan/maas-evakuierungszeit-reicht-100-deutsche-familien-kabul-36113342
   DIR [2] /Aufnahme-von-afghanischen-Gefluechteten/!5791219
   DIR [3] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-908245.html
   DIR [4] https://www.deutschlandfunk.de/journalisten-in-afghanistan-amiri-die-verzweiflung-der.2907.de.html?dram%3Aarticle_id=501841
   DIR [5] https://twitter.com/search?q=triage&src=typed_query
   DIR [6] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/interview-hauser-frauen-afghanistan-101.html
   DIR [7] /Aktuelle-Nachrichten-zu-Afghanistan/!5795194
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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