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       # taz.de -- Neue Jugenddroge Benzodiazepine: Locker im Lockdown
       
       > Sogenannte Downer sind bei Jugendlichen das neue Drogending. In Berliner
       > Beratungsstellen tauchen immer mehr Konsument*innen auf.
       
   IMG Bild: Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerade angesagt: Benzodiazepine
       
       Berlin taz | Eine Sommernacht am Zehlendorfer Schlachtensee. Jugendliche
       feiern, tanzen und flirten. Bisschen Wodka, bisschen Gras – und ne Xanny.
       So erzählt es eine 18-Jährige: „So Benzodiazepine, so Xanax, Valium, Tavor
       – in die Richtung wird hier sehr viel vor allem von jüngeren Leuten
       konsumiert.“
       
       In einer [1][Reportage vom RBB] diesen Sommer war das zu sehen, und für
       Lars Behrends veranschaulicht dieses Zitat ein Problem, das er aus erster
       Hand kennt. Denn Behrends ist Drogenberater und bekommt mit: Unter
       Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind Downer gerade angesagt, konkret
       Benzodiazepine und Opioide. Sie haben Namen wie: Xanax, Valium, Tilidin.
       
       Behrends ist Sozialarbeiter und leitet die [2][Suchtberatung Vista] in
       Marzahn-Hellersdorf. Mit seinem psychedelisch gemusterten Hemd und der
       ruhigen Stimme wirkt er, wie man sich einen Drogenberater vorstellt. „Es
       ist ein deutlich sichtbares Phänomen, das sich innerhalb kurzer Zeit
       etabliert hat“, sagt er. Gerade in den ersten drei Monaten des Jahres seien
       merklich mehr Jugendliche als im Vorjahr in die Drogenberatung gekommen,
       die Erfahrungen mit Tilidin, Valium oder Lean, einer Mischung aus Codein
       und Sprite, hatten.
       
       Auch wenn bei Behrends natürlich nur die Extremfälle landen, können diese
       auf ein breiteres Phänomen hinweisen. „Die Droge ist ganz klar im
       Mainstream angekommen“, fasst er zusammen.
       
       ## Gegen Angst und Schmerz
       
       Xanax, Valium und Tilidin sind verschreibungspflichtige Medikamente, die
       gegen Angstzustände, Schlaflosigkeit und Schmerzen verschrieben werden.
       Dass diese Substanzen missbräuchlich, also ohne medizinische Indikation
       gebraucht werden, ist nicht unbedingt neu. Die Rolling Stones besangen
       Valium schon in den Sechzigern als „Mother’s Little Helper“. In der
       sogenannten harten Szene, unter Heroin-Konsument*innen, sind Benzodiazepine
       schon länger ein Ding.
       
       Neu daran ist, dass diese Substanzen jetzt unter Jugendlichen und jungen
       Erwachsenen an Beliebtheit gewinnen, obwohl sie in diesen Gruppen früher
       gar keine Rolle gespielt haben. Problematisch daran ist, dass sie ganz
       andere Risiken bergen als klassische Partydrogen, auch wenn „Downer“ erst
       mal harmloser klingt.
       
       Aktuelle Zahlen für Berlin gibt es dazu nicht, die neuesten Zahlen stammen
       von 2019, bevor der Trend einsetzte. In Frankfurt am Main untersucht der
       Soziologe Bernd Werse regelmäßig den Drogenkonsum bei Jugendlichen, dort
       sei das im Jahr 2019 nur ein Randphänomen gewesen, das rund zwei Prozent
       der Jugendlichen ausprobiert hätten.
       
       Die taz hat daher bei fünf Trägern von Berliner Drogenberatungsstellen
       nachgefragt, alle bestätigen den Trend. Vor allem in den vergangenen
       Monaten sei ein Anstieg an Jugendlichen, die wegen Benzodiazepinen zur
       Drogenberatung gehen, zu beobachten gewesen.
       
       Dass die Substanzen ihren Weg in den Mainstream gefunden haben, liege
       mutmaßlich im zweiten Lockdown im Winter begründet, sagt Heike Krause,
       Sprecherin vom [3][Drogennotdienst]. „Wenn Lockdown ist, nimmt man keine
       Partydrogen. Da sitzt man abends alleine Zuhause. Benzos nimmt man eher
       alleine“, erklärt Krause.
       
       Plausibel, wenn man bedenkt, dass die Substanzen vor allem beruhigend
       wirken. Gerade diese Form des Konsums – alleine – sorge jedoch noch mal für
       ein Extrarisiko, so Lars Behrends: „Für die meisten Jugendlichen ist der
       Probierkonsum ein soziales Ereignis. Sie passen in der Gruppe aufeinander
       auf, schließlich will sich ja niemand mit dem Konsum Schaden zufügen. Wenn
       aber der soziale Kontext wegfällt, dann fehlt dieses Korrektiv.“
       
       Die Popularität von Benzos und Tilidin hänge mit der Rapkultur zusammen.
       Trap-Rapper aus den USA besingen schon seit Jahren „Lean“ oder „purple
       drank“, Hustensaft gemischt mit Sprite. Hauptwirkstoff ist darin Codein,
       ein Opioid, das hierzulande bei Reizhusten verschrieben wird.
       
       Mit Trap und Cloud-Rap fand das seinen Weg über den Atlantik in die
       deutsche Rap-Szene. Andere Downer besingen deutsche Rapper auch ohne
       US-Einfluss: „Popp ne Xanny, Bitch“ rappte Rin vor drei Jahren, mit
       „Tilidin“ landeten Capital Bra und Samra, der aktuell wegen
       Vergewaltigungsvorwürfen in der Kritik steht, vor zwei Jahren einen
       Nummer-1-Hit.
       
       Natürlich knallt sich nicht jede*r Jugendliche, der*die gerne Deutschrap
       hört, gleich mit den besungenen Tabletten weg. Aber „popkulturell wird da
       eine Nachfrage hergestellt, die vorher nicht da war“, sagt Behrends.
       
       Diese Nachfrage zu befriedigen ist heute, auch das ist neu, so leicht, wie
       eine Pizza zu bestellen. Eine Suche auf dem Messengerdienst Telegram mit
       Begriffen wie „Berlin“ und „Benzos“, schon findet man eine Gruppe, in der
       etwa ein User namens „Brille“ Codein und Alprazolam anbietet. Abholung in
       Reinickendorf, aber er kann einem auch entgegenkommen.
       
       Zusätzlich hätte sich das schon lange verbreitete Prinzip der Kokstaxen auf
       andere Substanzen und ganz Berlin ausgeweitet, so Behrends: „Mit dem
       Ergebnis, dass eigentlich an jedem Punkt in der Stadt zu jedem Zeitpunkt
       nahezu jede Substanz, die interessant erscheint, zu erhalten ist.“ Das sei
       vor allem seit einem Dreivierteljahr in diesem Ausmaß so. Eine
       „Lieferandoisierung“ des Drogenmarktes nennt er das, die zu den
       Verkaufsstrukturen über klassische Dealer und öffentliche Orte wie an der
       Warschauer Straße hinzukommt. Benzodiazepine sind außerdem billig, ein bis
       zwei Euro kostet eine Pille.
       
       Die besonderen Gefahren von Benzos und Tilidin: Sie machen sehr schnell
       abhängig, psychisch wie körperlich. Der Beipackzettel von Alprazolam zum
       Beispiel empfiehlt eine so kurze Behandlungsdauer wie möglich, maximal acht
       bis zwölf Wochen. „Der Entzug hat es echt in sich“, sagt Andreas Gantner,
       Sozialarbeiter beim Therapieladen. Oft müsse man den Entzug stationär
       machen, was aber gerade Jugendliche oft nicht wollten. Aber: „Du kannst bei
       den Kids nicht warten, bis sie das wollen, vielleicht sind sie in
       Lebensgefahr“, sagt er.
       
       Das ist die zweite Tücke bei diesen Substanzen: Sie werden dem Körper sehr
       viel schneller sehr gefährlich als die meisten Partydrogen. Weil sie
       sedierend wirken, bergen sie die Gefahr einer Atemdepression. Gerade in
       Kombination mit Alkohol oder bei Benzodiazepinen zusammen mit Opioiden wird
       es gefährlich, und gefährlich kann an dieser Stelle eine Überdosis
       bedeuten.
       
       So weit kommt es nicht bei allen. Drogentrends kommen und gehen. Ob und wie
       sich das in den Statistiken niederschlägt, wird sich erst nächstes Jahr
       zeigen, wenn die Zahlen von 2021 ausgewertet sind.
       
       26 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.rbb-online.de/abendschau/serien/nachtsicht/nachtsicht-feiern-am-schlachtensee.html
   DIR [2] https://vistaberlin.de/angebotsspektrum/suchtberatung/
   DIR [3] https://drogennotdienst.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Plett
       
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