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       # taz.de -- Klasse und Kulturbetrieb: Zerrissen im Theater
       
       > Über proletarische Herkunft werden Romane geschrieben und Theaterstücke
       > aufgeführt. Manche Kritik an dieser Entwicklung ist gemütlich einfältig.
       
   IMG Bild: Schauspielerin Çiğdem Teke in „Streulicht“
       
       Theater und Arbeiterklasse. Das passt für mich als theaterfernes
       Arbeiterkind erst mal nicht zusammen. Das erste Mal im Theater war ich
       irgendwann im Studium. Und auch heute finde ich Stadion besser als Theater.
       Aber Arbeiterklasse im Theater gibt es. Für mich hat es kürzlich bei der
       Premiere der Dramatisierung des [1][Romans „Streulicht“ von Deniz Ohde] im
       Berliner Gorki ganz gut funktioniert: Weil es mich zerrissen hat, weil es
       eine Spannung in mir angesprochen und diese verstärkt hat.
       
       In Roman und Theaterstück geht es um eine Arbeitertochter und ihren
       beschwerlichen Weg zur Eigenständigkeit, um Demütigungen in der Schule, um
       Unterschätzung, um diffuse Wut auf Freundinnen, bei denen vieles leichter
       ist. Und um den starken, weil schwierigen Entschluss einer starken, aber
       traurigen Person, ihr eigenes Ding zu machen. Und deshalb um den bitteren
       Abschied von den Eltern.
       
       Aber welche Spannung? Die Spannung, [2][über die ich in meiner ersten
       Kolumne geschrieben habe.] Sie entsteht aus den Zweifeln, ob eine solche
       Kolumne nicht dazu dient, dass sich die Glücklichen der Klassengesellschaft
       ihres Glücks und des Unglücks der anderen vergewissern; dass sie ihre
       sozialvoyeuristischen Gelüste befriedigen und dass sich damit die
       Verhältnisse, die ich kritisiere, nur weiter verfestigen. Diese Frage ist
       geblieben und wird mich wohl weiter begleiten.
       
       Währenddessen hält der Trend der Arbeiterklassenliteratur an. Ein
       Theaterstück gibt es nicht nur von „Streulicht“, sondern auch von Christian
       Barons „[3][Ein Mann seiner Klasse“] und [4][bald auch] von [5][Cihan Acars
       „Hawaii“]. Immer wieder gibt es kritische Beiträge zum Eingang der
       Klassenthematik in den bürgerlichen Salon. Diese Kritik streift manchmal
       die Spannung, die ich beschreibe: Es geht um die Gefahr, dass eine
       Erfahrung von jemandem genussvoll angeeignet, emotional und ökonomisch
       ausgebeutet wird, der diese Erfahrungen selbst nicht gemacht hat.
       
       ## Möglichst radikale Pose
       
       Solche Kritik bleibt aber oft einfältig. Oft scheint es nur um eine
       möglichst radikale Pose zu gehen, als wäre man in einem studentischen
       Plenum. Dabei gibt es nichts Gemütlicheres, als sich fernab jeglicher
       gelebter Realität [6][auf reine Lehren zu beziehen], statt sich den eigenen
       Widersprüchen zu stellen, die aus dieser Klassengesellschaft resultieren,
       die auch ich abschaffen möchte. Und was ist überhaupt die Alternative zum
       Eintritt in den [7][„herrschenden Kulturbetrieb“]? Keine Bücher über Klasse
       schreiben?
       
       Nein. Die Frage lautet eher: Wie schreibe ich darüber, ohne mich zu
       unterwerfen, ohne mit dieser Ordnung Frieden zu schließen? Ich freue mich
       deshalb über jeden Roman und jedes Theaterstück, die diese Frage ernst
       nehmen und mit denen ihre Urheber:innen Geld für ihre Kunst verdienen.
       Diejenigen, die es sich leisten können, können ja im alternativen
       Kulturbetrieb für lau schreiben.
       
       27 Aug 2021
       
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   DIR [6] https://jungle.world/artikel/2021/28/weder-klasse-noch-kampf
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