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       # taz.de -- Verfilmung von „Martin Eden“: Der Wunsch, besser zu sprechen
       
       > Pietro Marcello verfilmt Jack Londons Klassiker „Martin Eden“. Dabei
       > macht sich der Regisseur die Vorlage über historische Versatzstücke zu
       > eigen.
       
   IMG Bild: Aus proletarischen Verhältnissen zum erfolgreichen Schriftsteller: Martin Eden (Luca Marinelli)
       
       Wer gerade erst aufgestiegen ist, achtet oft besonders scharf auf die
       Abgrenzung nach unten. So ist es der Blick des Hausmädchens, vor dem sich
       Martin Eden entlarvt fühlt, als er das erste Mal das prächtige Anwesen der
       Orsinis betritt.
       
       Die Mitglieder der großbürgerlichen Familie selbst hatten ihn, den
       ungebildeten Tagelöhner, herzlichst eingeladen, nachdem er durch
       handgreifliches Dazwischenfahren den Sohn Arturo aus einem Schlamassel im
       Hafenviertel befreit hatte. Sie begrüßen ihn als Retter und übersehen
       großzügig den Straßendreck auf seiner abgetragenen Jacke.
       
       Der stumme Vorwurf des Hausmädchens bringt den jungen Mann aber nur für
       einen Moment aus dem Konzept. Statt sich lange gedemütigt zu fühlen, lässt
       Martin Eden seinem Staunen und seiner Begeisterung freien Lauf – für die
       Schönheit des Anwesens, der Bilder an den Wänden und besonders natürlich
       der Tochter des Hauses, Elena Orsini. Sie weckt in ihm den Wunsch, mehr zu
       lesen und besser sprechen zu lernen. Auch wenn er, wie er es ihr gegenüber
       noch einigermaßen ungeschickt ausdrückt, „den Weg zur Bildung zu Fuß
       zurücklegen muss“.
       
       Das sind vertraute Elemente einer Aufsteigergeschichte: ein in einfachen
       Verhältnissen aufgewachsener junger Mann und die schöne Frau aus gutem
       Hause, die konkret und als Metapher für das steht, was er noch erreichen
       möchte. Man weiß auch, dass das Ende einer solchen Story zwangsläufig
       ambivalent sein wird.
       
       ## Statt der Hafenstadt Oakland ist nun Neapel Schauplatz
       
       Der Aufstieg alleine macht nicht glücklich, und mit der schönen Frau wird
       es schwierig bleiben. Das Unglück, mit dem Jack London seinen 1909
       veröffentlichten Roman „Martin Eden“ enden lässt, variiert das Thema jedoch
       auf eine Weise, die auch über 100 Jahre später noch radikal modern wirkt.
       
       Dass es sich um die Adaption eines US-amerikanischen Romans handelt, merkt
       man dem [1][Film des italienischen Regisseurs Pietro Marcello] zunächst
       nicht an. Statt in der Hafenstadt Oakland spielt er in Neapel, ein
       Ortswechsel, der den Themen der Handlung zumindest fürs europäische Auge
       sogar mehr Tiefe verleiht.
       
       Die Armut des „Mezzogiorno“ gegenüber dem sich industrialisierenden
       Norden, das Gefangensein in ausbeuterischen Strukturen, die Unmöglichkeit
       des sozialen Aufstiegs – für all das gibt es Bilder, vom berühmten
       Ölgemälde „Il quarto stato“ bis zum Neorealismus der Filme von Roberto
       Rossellini und Vittorio de Sica.
       
       An sie schließt Marcello direkt an, wenn er in die Spielhandlung, in der
       man Luca Marinelli als Proletarier von Job zu Job ziehen sieht,
       [2][Archivaufnahmen aus verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts]
       einstreut. In ihrer Nähe zu den bekannten Bildern bezeugen sie die
       Verwurzelung des Stoffs in Italien: ausdrucksstarke Gesichter, meistens
       Männer, deren verwitterte Mienen von viel Arbeit erzählen, Kinder, deren
       ausgelassenes Spiel in ärmlichen Umständen immer auch die Hoffnung des
       einzelnen Individuums erkennen lässt, dem Elend zu entkommen.
       
       ## Kämpfe um Bildung und Gleichberechtigung
       
       Aber dann legt er darüber Joe Dassins 70er-Jahre-Hit „Salut“ – und die
       Kombination bewirkt die Loslösung vom der Zeit und dem konkreten Ort. Das
       Neapel von Luca Marinellis Martin Eden wird zur Abstraktion des 20.
       Jahrhunderts und seiner Kämpfe um Bildung und Gleichberechtigung der
       Massen.
       
       Aber die Geschichte von Martin Eden setzt sich ab von diesem so
       universellen wie speziellen Hintergrund. Denn die Begegnung mit der schönen
       Elena gibt Martins Leben eine neue Richtung. Nicht nur, dass er den Dreck
       unter seinen Fingernägeln herauskratzt, er will lernen – und er will
       schreiben. Es fehlen ihm so viele Grundkenntnisse, dass er zurück in die
       erste Klasse müsse, attestiert man ihm.
       
       Wie als „reaction video“ montiert Regisseur Marcello an der Stelle eine
       schwarzweiße Stummfilmaufnahme, in der ein Klassenraum von Achtjährigen
       einen zahnlosen Alten auslacht. Martin beschließt, sich das Nötige selbst
       beizubringen. „Ich lese wie ein unersättlicher Fischer“, schreibt er seiner
       geliebten Elena von unterwegs als Seemann, „ich notiere alle neuen Worte
       und mache sie zu meinen Freunden.“
       
       Weil er von einem Autodidakten erzählt, der sich aus proletarischen
       Verhältnissen zum erfolgreichen Schriftsteller emporarbeitet, hängt man
       Jack Londons Roman schnell das Etikett „autobiografisch“ an. Aber es sind
       die Differenzen, das, was Jack London zu den eigenen Erfahrungen
       hinzuerfunden hat, die die Erzählung interessant machen. Dasselbe gilt nun
       für Marcellos Film: Viel wichtiger als das Muster der Vorlage, dem er
       folgt, ist die filmische Art und Weise, in der er es tut. Pietro Marcello
       macht sich gleichsam den Roman zu eigen, so wie Martin Eden neue Worte zu
       seinen Freunden macht.
       
       ## Reminiszenz an eine versunkene Arbeitswelt
       
       Zum Beispiel die Szene, in der Martin sich seine erste Schreibmaschine
       kauft. In einem Trödlerladen, betrieben von zwei alten Männern, von denen
       der eine den anderen permanent anherrscht, wird er fündig. Sie packen die
       Maschine – es ist eines jener flachen 60er-Jahre-Modelle noch ohne jede
       Elektronik – für ihn aus, und auf Befehl des einen macht der andere sie
       sauber, mit so liebevollen und nachdrücklichen Gesten, wie sie unseren
       digitalen Geräte von heute gar nicht mehr vertragen würden.
       
       Marcellos Film funktioniert so als Reminiszenz an die Handgriffe einer
       heute versunkenen Arbeitswelt. Das Spiel mit den eingestreuten
       Archivaufnahmen fügt dem noch etwas hinzu: aus szenisch erzählten Gefühlen
       werden assoziationsreiche, oft poetische Reaktionen. Tief ins Gedächtnis
       prägt sich der kleine Schwarz-Weiß-Film, auf dem man einen Großsegler auf
       dem Meer sieht.
       
       Zuerst steht das Schiff prächtig im Wind, eine Metapher für Enthusiasmus
       und gutes Vorankommen. Später sieht man es noch einmal: Da setzt der Wind
       ihm so stark zu, dass es von vorne in die Tiefe gedrückt wird. Es
       schockiert, wie schnell ein Großsegler untergehen kann – und wie restlos
       das eben noch so stolze Schiff unter der Meeresoberfläche verschwindet.
       
       Dabei hat Martin Eden da im Grunde sein Ziel erreicht. Nach langen
       Fehlversuchen, seine Geschichten zu verkaufen, nach unzähligen
       Manuskripten, die kommentarlos „Zurück an den Absender“ adressiert waren –
       kam endlich ein Umschlag mit einer Zusage und einem Scheck. Lange hat er
       sich dafür gequält.
       
       ## Mehr Empathie für die Bürgerstochter
       
       Eine verständnissinnige Witwe mit zwei kleinen Kindern auf dem Land hatte
       ihn bei sich aufgenommen, damit er ungestört schreiben könne. Aber schon
       auf dem Weg zum Erfolg zeichnete sich ab, was ihm schließlich den Genuss
       daran verderben wird: Er entfremdet sich sowohl von seinem alten
       proletarischen Milieu – den Sozialisten wirft er ihre „Sklavenmentalität“
       vor – als auch von seiner neuen bürgerlichen Umgebung, von der er sich noch
       unverstandener fühlt.
       
       [3][Luca Marinelli] ist großartig in der Rolle: Dem erwähnten Segelschiff
       nicht unähnlich, trägt er seine großgewachsene und dabei immer ein wenig
       ungeschlacht wirkende Gestalt voller Energie durch die erste Hälfte des
       Films, wie beflügelt von Lerneifer und Sehnsucht nach einem besseren Leben.
       Gegen Ende aber wird er immer mehr zum Wrack, ein Niedergang, der schmerzt,
       auch wenn der Film jedes Abrutschen in Sentimentalität vermeidet.
       
       Pietro Marcellos Film erfordert ein Mitgehen, ein sich Treibenlassen in den
       Bildern, das durch sinnlichen Reichtum belohnt. Seine Hauptfigur rückt er
       nahe an das Publikum von heute heran; schade nur, dass er für die Figur der
       Elena, für die idealisierte Frau, die der männliche Held am Ende verachten
       muss, keine modernere Interpretation gefunden hat.
       
       Nicht dass man sie sympathischer hätte zeigen müssen, aber ein bisschen
       mehr Empathie für die Trostlosigkeit des Schicksals einer Bürgerstochter,
       die trotz Bildung kaum über den eigenen Ehemann entscheiden darf – und
       dabei das Beste für sich herausschlagen möchte –, erscheint angebracht.
       
       26 Aug 2021
       
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