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       # taz.de -- Entschädigungen für Aborigines: Ein erster Schritt zur Versöhnung
       
       > Aborigines, die einst ihren Eltern entrissen worden waren, begrüßen die
       > geplante Entschädigung durch Australiens Regierung. Doch es bleibt noch
       > viel zu tun.
       
   IMG Bild: Die Aboriginal Ria Wight gehört in Australien zur „gestohlenen Generation“
       
       Canberra taz | Eileen Cummings sei außer sich vor Freude, sagen ihre
       Freunde beim australischen Sender ABC. Selbst sprechen wolle die betagte
       Aboriginal-Frau nicht, zu aufgewühlt sei sie. Als kleines Mädchen gewaltsam
       von Behörden ihren Eltern entrissen, könne sie kaum glauben, dass ihr
       langer Kampf für Gerechtigkeit endlich Erfolg hatte.
       
       Cummings reagierte auf die Ankündigung der australischen Regierung, eine
       Gruppe von 3.600 Überlebenden für die Praxis der gewaltsamen Umsiedlung von
       Aboriginal-Kindern zu entschädigen. Umgerechnet rund 47.000 Euro soll jedes
       Mitglied der sogenannten „Gestohlenen Generationen“ erhalten.
       
       Für viele Ureinwohner Australiens ist die oftmals gewaltsam vollzogene
       Entfernung von Kindern von ihren Eltern nichts anderes als eine weitere
       Form des versuchten Genozids [1][an den ersten Völkern des Kontinents]. In
       den Jahren nach der Invasion Australiens durch die Briten 1788 sahen viele
       Weiße Aborigines mehr als Tiere denn als Menschen. Sie wurden vergiftet,
       erschlagen, versklavt, entrechtet, von ihrem Boden vertrieben. Tausende
       starben an den Folgen eingeschleppter Krankheiten, gegen die sie keine
       natürliche Abwehr hatten.
       
       Das Blut jener, die überlebten, wurde mit dem der Besatzer durchmischt –
       meist durch Vergewaltigung, ganz selten mal durch Liebe. Das Ergebnis waren
       Mischlingskinder. „Creamies“, so die abschätzige Bezeichnung für die
       Hellhäutigen.
       
       ## Missbrauch der entrissenen Kinder war verbreitet
       
       Zu Tausenden wurden sie zwischen 1910 und 1972 ihren Eltern weggenommen, in
       Kinderheimen versorgt, oftmals in kirchlichen Institutionen. Auch wenn es
       positive Ausnahmen gab: in vielen Fällen wurden die Kinder in weißen
       Haushalten als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. [2][Sexueller, psychischer
       Missbrauch gehörte oft zum Alltag].
       
       Assimilierung war das Ziel – Eingliederung in die weiße Gesellschaft. Denn
       niemand glaubte, dass die indigenen Kulturen Australiens in der modernen
       Welt noch eine Zukunft haben könnten. Betroffene leiden bis heute unter dem
       Schmerz des Unrechts. Viele haben keine Identität: sie fühlen sich weder
       ihrer schwarzen noch der weißen Kultur zugehörig. Der Faden zu ihrer
       Geschichte ist gerissen.
       
       Auch wenn Aboriginal-Organisationen die jüngste Kompensation mehrheitlich
       begrüßen, kann von Enthusiasmus nicht Rede sein. Zum einen kommen nur jene
       Menschen in den Genuss der Abfindung, die zum Zeitpunkt ihrer Entführung in
       drei Territorien gelebt hatten, die unter direkter Kontrolle der nationalen
       Regierung standen.
       
       Landesweit warten noch Zehntausende weitere Betroffene auf Gerechtigkeit:
       zwischen 10 und 30 Prozent der rund 800.000 indigenen Australier:innen
       sollen Schätzungen zufolge zu den „Gestohlenen Generationen“ gehören. Die
       Regierungen einzelner Bundesstaaten sind zwar daran, ähnliche
       Kompensationsschemen zu entwickeln.
       
       ## Die Zeit drängt
       
       Doch die Zeit drängt: viele der Betroffenen sind inzwischen 70 bis 80 Jahre
       alt. Es sind jene, welche die Langzeitfolgen dieser grausamen Politik
       überlebt haben. Tausende andere sind nicht mehr da: Alkoholmissbrauch,
       körperliche und psychische Krankheiten und in so vielen Fällen sind Suizide
       endemisch unter den Betroffenen.
       
       Beobachter werteten die Ankündigung Canberras als wichtigen Schritt auf
       einem langen Weg zur Versöhnung. Viel mehr aber sei zu tun, um die
       Lebenssituation nicht nur der Mitglieder der „Gestohlenen Generationen“
       grundlegend zu verbessern, sondern der meisten Angehörigen der ersten
       Nationen Australiens.
       
       Trotz signifikanter Investitionen durch den Staat in den letzten
       Jahrzehnten haben Aborigines im Durchschnitt noch immer eine bis zu zehn
       Jahre kürzere Lebenserwartung als nicht indigene Australier. Die Gründe
       wären oft verhinderbar: mangelhafte Gesundheitsvorsorge und Krankheiten,
       die es sonst nur noch in Entwicklungsländern gibt. Ein Mangel an
       Ausbildung, Diskriminierung im Arbeitsmarkt und vielerorts noch endemischer
       Rassismus tragen zur Situation bei.
       
       6 Aug 2021
       
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