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       # taz.de -- Ausstellung über Fortschrittsträume: Wie sich Luft mit Zukunft verband
       
       > Das Centre Pompidou zeigt „Aerodream. Architektur, Design und aufblasbare
       > Strukturen“. Die Schau oszilliert zwischen Ingenieurskunst und Lifestyle.
       
   IMG Bild: Taneo Oki und Sekkeirengo, Mushballoon, Expo Osaka, 1970
       
       Luft für ein Kunstwerk nutzte zum ersten Mal Marcel Duchamp, als er eine
       Glasampulle aus der Apotheke, gefüllt mit Pariser Luft, genannt [1][„Air de
       Paris“ (1919)] seinem Freund Walter C. Arensberg schenkte: ein kleines
       Objekt mit großer Wirkung in der Kulturgeschichte.
       
       Nach dem Zweiten Weltkrieg waren polymere Kunststoffe, Plaste und Elaste,
       das angesagte Medium, mit dem man Luft in neue Ideen pumpen konnte. Der
       Fantasie waren dabei keine Grenzen gesetzt, wie in „Aerodream“ zu sehen
       ist, der Ausstellung im Centre Pompidou im lothringischen Metz über die
       luftgefüllten Dinge unseres Alltags und besonders die neu aufgekommenen,
       blasenartigen Objekte im Bereich von Möbel, Kunst und Architektur.
       
       Mit ihnen verband sich ein progressives Lebensgefühl in schicken
       Lackkleidern und quietschbuntem Alltagsdesign. Erst die Ölkrise Ende der
       1970er Jahre setzte der Freude am Plastik ein Ende. Warhols heliumgefüllten
       [2][„Silver Clouds“ (1967)] und der Pop-Art ging erst mal die Luft aus.
       
       Die spannende Ausstellung des Pompidou-Ablegers mit mehr als 250 Werken
       entstand in Koproduktion mit der Cité de l’architecture et du patrimoine in
       Paris. Frédéric Migayrou, stellvertretender Direktor der Institution und
       Valentina Moimas, Kuratorin in der Architekturabteilung, haben sie
       konzipiert und sich intensiv mit dem Phänomen der pneumatischen Strukturen
       als dem angesagten Zukunftsmedium auseinandergesetzt.
       
       ## Objekt als Message
       
       Ab den 1960er Jahren nutzten Künstler, Architektinnen, Ingenieurinnen
       und Designer aufblasbare Objekte als Message, um das Verhältnis von
       Architektur und sozialem Umraum neu zu denken, wobei sie ihre daraus
       erwachsenen ästhetischen Rückschlüsse oft mit politischen Forderungen
       verbanden.
       
       Sie suchten neue Ausdrucksformen jenseits fester Bauten: Aufblasbare
       Installationen ermöglichten eine einfache und schnelle Montage im
       öffentlichen Raum, wo man mit spontanen Pop-up-Aktionen das Publikum direkt
       ansprechen konnte. Performances setzten Körper und Objekte in unmittelbare
       Beziehung.
       
       Coop Himmelblau rollten etwa in einen transparenten Plastikballon
       eingeschweißt als „Unruhige Kugel“ durch Basel, während Hans Hollein sich
       mit seinem „Mobilen Büro“ auf die grüne Wiese setzte und dabei die
       Qualitäten der Telefonzelle – (minimale Größe bei maximaler globaler
       Reichweite) – in wahrsten Sinne des Wortes transparent machte.
       
       Bei größeren Installationen im Stadtraum durfte sich das Publikum austoben,
       etwa beim [3][„Riesen-Billard“ von Haus Rucker & Co], der Mutter aller
       Hüpfburgen, oder es konnte wie Jesus über die Wasser gehen, dank der
       „Waterwalk Tube“ von der Eventstructure Research Group. Ökologie kommt in
       den Werken von Graham Stevens zum Tragen. 1972 entsteht seine „Desert
       Cloud“, eine riesige aufblasbare Wolke in der Wüste, die Wasser durch
       Kondensation produziert.
       
       ## Christo mit Sexappeal
       
       [4][Christo und Jeanne-Claude – ihr letztes Großprojekt, der verpackte Arc
       de Triomphe], wird jetzt vom 18. September bis zum 3. Oktober in Paris
       realisiert – sorgten 1968 für Aufsehen, als sie anlässlich der Documenta 4
       eine wurstartige pneumatische Großform in der Aue in Kassel installierten.
       Eine Haut aus Polyethylen fasste sieben Tonnen Luft.
       
       Damit sie ihre volle Höhe von 85 Metern erreichte, musste sie ständig mit
       Luft versorgt werden, was nicht ganz gelang. Zum Entzücken der
       Besucher:innen und der Presse knickte die Wurst immer wieder ab oder
       kam ganz zum Erliegen, wand sich im Wind und war mit ihrem gigantischen
       Sexappeal die Sensation der Großausstellung.
       
       Design war von eminenter Bedeutung für den neuen Lebensstil und der Blow
       Chair, der bunte, transparente, aufblasbare Sessel von Lomazzi, D’Urbino
       und De Pas (1967) war das erste industriell hergestellte Möbel dieser Art.
       Er passte auch in kleine Wohnungen – die Luft konnte einfach abgelassen,
       das Objekt leicht verstaut werden. Auch in Werbung und Film wurde dieser
       neue Lebensstil propagiert.
       
       Der italienische Science-Fiction-Film „La decima vittima“ (Das zehnte
       Opfer) (1965), mit Ursula Andress und Marcello Mastrioanni in den
       Hauptrollen ist das mediale Kernstück der Ausstellung, die mit
       ausgezeichnetem Dokumentationsmaterial aufwartet. Zeitschriften,
       Broschüren, Pamphlete, Plakate und Fotografien verdeutlichen den
       ursprünglichen Kontext der Ausstellungstücke, dazu kommt hervorragendes
       audiovisuelles Material.
       
       ## Amoralische Welt
       
       „Das zehnte Opfer“ erzählt von einer werbedominierten, amoralischen Welt im
       21. Jahrhundert, wo sich Jäger und Gejagte im designten Ambiente
       gegenseitig umbringen, was im Fernsehen übertragen wird, und nimmt damit
       die „Hunger Games“-Filmreihe vorweg. Marcello Mastroiannis geschwungene
       Sonnenbrillen, die er im Film trug, wurden der Hit; André Courrèges und
       Mary Quant entwarfen die passende Plastik-Mode zum neuen Lifestyle.
       
       Ingenieursideen stehen am Anfang der Pneumatik, angefangen bei der
       Entwicklung der Montgolfiere oder dem mit Luft gefüllten Reifen, dem
       Schlauchboot etc. Diese Ingenieurskunst findet sich auch in der Philosophie
       des US-amerikanischen Allround-Entwicklers, Designers und Architekten
       Buckminster Fuller (1895–1983), dessen Bauten häufig in
       Science-Fiction-Filmen als Kulisse auftauchen.
       
       Ihr Konstruktionsprinzip beruht auf einer Weiterentwicklung von einfachsten
       geometrischen Grundkörpern, die extrem stabil sind und mit geringstem
       Materialaufwand realisiert werden können. Sein bekanntestes Gebäude ist die
       Kugel des US-Pavillons auf der Weltausstellung 1967 in Montreal, die sich
       wie eine schützende Membran über einen Garten formt und noch heute dort
       steht. 
       
       Das Museumsgebäude in Metz, entworfen vom Architekturbüro Shigeru Ban und
       Jean de Gastines, erinnert übrigens mit seiner monumentalen sechseckigen
       Dachkonstruktion, bestehend aus einer Netzstruktur, über die sich eine
       wasserundurchlässige Membran aus Glasfasern wölbt, eminent an Buckminster
       Fullers Konstrukte.
       
       Somit reflektiert diese Ausstellung nicht nur die Kulturgeschichte des
       Aufblasbaren in der Industriegesellschaft, sondern auch den eigenen
       Museumsbau. Sie stellt sich in Bezug zur Umgebung und zur eigenen
       Geschichte: Aus einem exponierten Schaufenster des Museums kann man das
       Stadtpanorama von Metz mit der herausragenden Kathedrale Saint-Étienne
       genießen.
       
       17 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.centrepompidou.fr/fr/ressources/oeuvre/cbLy77k
   DIR [2] https://www.mumok.at/de/blog/andy-warhol-appetizer-silver-clouds
   DIR [3] https://ortner-ortner.com/de/haus-rucker-co
   DIR [4] https://christojeanneclaude.net/artworks/arc-de-triomphe-wrapped/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Renata Stih
       
       ## TAGS
       
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