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       # taz.de -- Soziale Gerechtigkeit in Deutschland: Unterschätzte Errungenschaften
       
       > Hauptsache, die Reichen zahlen mehr Steuern? Mitnichten. Um die
       > Solidarsysteme auszubauen, sollte auch die Mittelschicht höhere Abgaben
       > zahlen.
       
   IMG Bild: Wer soll das bezahlen? Bildung, Gesundheit, sozialen Wohnungsbau
       
       Wie sich die Zeiten ändern. Als „Affenkäfige“, als „spießig“ bezeichneten
       junge StudentInnen früher den sozialen Wohnungsbau in Berlin-Britz.
       Mietshäuser sind es mit eher kleinen Zimmern, gebaut in den 70er Jahren.
       Diese Verachtung war gestern.
       
       Wer heute an einem sonnigen Tag durch Berlin-Britz radelt, die Blumenpracht
       auf den Balkonen bewundert, in begrünten Hinterhöfen mit Sandkästen Mütter
       und Kinder höflich grüßt, dem kommt der alte Bestand der landeseigenen
       Wohnungsbaugesellschaften vor wie ein Paradies, dahinschwindend und bedroht
       wie der Regenwald am Amazonas.
       
       Eine vierköpfige Familie mit einem Einkommensniveau am obersten Rand des
       ärmsten Viertels der Gesellschaft kann hier noch eine Vierzimmerwohnung mit
       Grünblick bezahlen, jedenfalls als Bestandsmieterin, wenn sie schon vor
       Jahren eingezogen ist. Wer hingegen heute eine neue Wohnung sucht, der
       landet mangels Mietangeboten vielleicht auf der Website eines Investors mit
       „familienfreundlichen“ Neubauwohnungen, ein paar Kilometer weiter draußen
       in Berlin-Mariendorf.
       
       Eigentumswohnungen sind es, 87 Quadratmeter Wohnen kosten hier 540.000
       Euro. Man braucht ein Familieneinkommen von 5.400 Euro netto im Monat plus
       Eigenkapital von 100.000 Euro, um sich eine solche Wohnung samt der
       Verschuldung auf 35 Jahre leisten zu können. Mit diesem Einkommen gehört
       man schon zum reichsten Viertel der bundesdeutschen Gesellschaft. Man muss,
       rechnerisch betrachtet, also ein Teil der Oberschicht sein, um sich das
       Leben in einem kleinbürgerlichen Wohnviertel in der Metropole leisten zu
       können.
       
       Wie konnte es so weit kommen? Wenn in einem reichen Land große Teile der
       Bevölkerung darum bangen, sich nicht mehr die Erfüllung der
       Grundbedürfnisse leisten zu können oder abgehängt zu werden, dann rumort es
       im Gerechtigkeitsempfinden. Von „wachsender Ungleichheit“ ist die Rede.
       Doch die Sachlage ist widersprüchlich, und um darüber zu diskutieren, was
       politisch zu tun wäre, muss man genau hinschauen.
       
       Der jüngste [1][Armuts- und Reichtumsbericht] zeigt, dass die Ungleichheit
       in Deutschland über viele Jahre hinweg nicht auf allen Ebenen zugenommen
       hat. Es hängt davon ab, welche Parameter man benutzt, ob man die Einkommen
       betrachtet oder die Vermögen, ob man die Superreichen mit den ganz Armen
       vergleicht und welche Zeiträume man wählt. So ist der
       [2][Gini-Koeffizient], der die Ungleichheit misst, über viele Jahre hinweg
       gleich geblieben.
       
       ## Immobilien gut 40 Prozent teurer
       
       Neuere Forschungen haben aber auch gezeigt, dass die Hochvermögenden mehr
       besitzen, als man vorher dachte. Der Armuts- und Reichtumsbericht sagt,
       dass das untere Fünftel der Gesellschaft in den vergangenen 15 Jahren eher
       abgehängt wurde vom Wohlstand, darunter sind viele Menschen mit
       Migrationsgeschichte. Die Mittelschichtmilieus konnten hingegen über die
       Jahre hinweg hohe Einkommens- und Vermögenszuwächse verbuchen.
       
       Das lag an der guten Arbeitsmarktlage, an den [3][Wertzuwächsen bei
       Immobilien] und Aktiendepots, an den vielen Erbschaften. Der Wert von
       Immobilien stieg innerhalb von zehn Jahren um 41 Prozent, sagt der Armuts-
       und Reichtumsbericht. Der Aktienwert von DAX-Unternehmen legte seit Beginn
       dieses Jahres fast um 20 Prozent zu. Von solchen Wertzuwächsen können
       besitzlose ArbeitnehmerInnen, die für 2 Prozent mehr Lohn streiken, nur
       träumen.
       
       Die Zuwächse beim Besitz sind innerhalb der Mittelschichtmilieus hochgradig
       ungleich verteilt, und auch diese Individualisierung ist es, die für
       Verbitterungen sorgt. Die Wertsteigerungen können die Alleinerbin eines
       Einfamilienhauses in Stuttgart zur Millionärin machen und in der Folge zur
       wohlhabenden Vermieterin. Hat sie noch ein Aktiendepot, kann sie womöglich
       die teure Immobilie in Berlin erwerben, die von den alten SchulfreundInnen
       ohne Erbschaft niemals finanzierbar ist.
       
       Auch der Wohlstand in den Mittelschichtmilieus treibt die Preise in die
       Höhe, denn es gibt immer irgendwelche KäuferInnen mit Erbschaften, die sich
       eine Immobilie für 540.000 Euro in Berlin-Mariendorf leisten können. Auch
       unter ErbInnen gibt es aber große Unterschiede: Hat der Vater ein zweites
       Mal geheiratet, wurden die Eltern zum Pflegefall, sind viele Geschwister
       da, schrumpft die einzelne Erbschaft zusammen.
       
       ## Wohlstand hängt an Herkunft und Glück
       
       Wohlstand ist eher eine Frage von Herkunft und Glück und nicht von
       persönlicher Leistung. Ebenso wie Armut oft schuldlos ist. Diese
       Zufälligkeit, diese Schicksalhaftigkeit ist es, die das Gefühl von
       Ungerechtigkeit befeuert. Jede Scheidung, jeder Partnerverlust kann Frauen
       zur Alleinerziehenden oder gar [4][Hartz-IV-Empfängerin] machen. Eine
       chronische Krankheit kann ArbeitnehmerInnen zwingen, schlechter
       bezahlte Teilzeitjobs anzunehmen.
       
       Kommt dann womöglich eine Erbschaft, rettet dies wiederum prekär
       Beschäftigte vor der Altersarmut. Innerhalb dieser sensiblen Gemengelage
       die Ärmel aufzukrempeln und mehr Umverteilung durch Erbschaft-, Vermögen-
       oder Einkommensteuern vorzuschlagen, braucht politischen Mut, ist aber
       angebracht. Die SPD, die Grünen und die Linke wollen die Einkommensteuer
       der Hochverdiener ein bisschen erhöhen, die eine Partei etwas weniger, die
       andere etwas mehr.
       
       Die [5][SPD], die [6][Linke] und die [7][Grünen] möchten auch eine
       Vermögensteuer wiedereinführen, teilweise mit sehr hohen Freibeträgen. Bei
       der Erbschaftsteuer schweigen sich die Grünen lieber aus. Die Linke und die
       SPD wollen eine höhere Erbschaftsteuer. Die Linke ist dabei konkreter in
       den Zahlen, die SPD eher vage. CDU und FDP sind erwartungsgemäß strikt
       gegen höhere Steuern.
       
       Allzu viel Geld darf man sich durch die stärkere Besteuerung von ein paar
       Hunderttausend HöchstverdienerInnen und durch neue Besitzsteuern aber nicht
       erhoffen. Der Substanzbesteuerung von Besitz sind gewisse Grenzen gesetzt,
       auch weil die großen Vermögen in Betrieben mit Arbeitsplätzen stecken. Die
       höhere Besteuerung von Besitz würde eher akzeptiert, wenn klar wäre, was
       man damit finanziert. Die wichtigsten Faktoren der Umverteilung sind die
       sozialen Institutionen.
       
       Diese müssen gestärkt werden, durch höhere Steuergelder und auch durch
       höhere Beiträge. Das ist der entscheidende politische Schritt. Das deutsche
       Gesundheitssystem der einkommensabhängig beitragsfinanzierten gesetzlichen
       Kranken- und Pflegekassen, die Kostenfreiheit von Bildungsangeboten
       besonders an den Universitäten, der Kündigungsschutz im Job, im Mietvertrag
       – all das sind Errungenschaften, unterschätzte Paradiese, auf die man etwa
       von den USA und Großbritannien aus neidisch herüberblickt.
       
       ## Solidarsysteme stärken
       
       Früher gehörte zu den Sozialinstitutionen auch der soziale Wohnungsbau, der
       in den Jahrzehnten nach der Wende zusehends abgebaut wurde und jetzt
       dringend eine Wiedererstarkung braucht. In den Wahlprogrammen von SPD,
       Grünen und Linken finden sich Vorstöße für eine neue
       Wohnungsgemeinnützigkeit zum Beispiel, und das ist ein richtiger Weg.
       
       Es finden sich Vorschläge, die privat finanzierten Pflegekassen mit den
       gesetzlich finanzierten Pflegekassen zusammenzulegen, ein Schritt zu einer
       „Bürgerversicherung“, in die alle einkommensabhängig einzahlen. Der Ausbau
       der Kollektivsysteme würde auch bedeuten, für die Einbeziehung des
       Beamtentums in die gesetzlichen Solidarsysteme politisch einzutreten, das
       muss ernsthaft diskutiert werden, obgleich es strukturell nicht so einfach
       ist.
       
       Die Stärkung der Solidarsysteme erfordert höhere Beiträge auch auf die
       Einkommen nicht nur von den Reichen, sondern auch von den
       Mittelschichtmilieus. Im Zuge der Alterung werden die Krankenkassenbeiträge
       steigen, ebenso die Beiträge für die Pflegekassen. Zuschüsse aus
       Steuermitteln werden notwendig, wenn man den geförderten Wohnungsbau
       ankurbelt.
       
       Mehr Geld aus höheren Besitzsteuern bedeutete übrigens auch eine
       Umverteilung von Alt zu Jung, denn die Älteren besitzen in der Regel
       größere Vermögen. Die Abgabenbereitschaft der Mittelschichtmilieus für die
       Solidarsysteme ist erforderlich, und deswegen ist es gefährlich, wenn fast
       alle Parteien „Entlastungen“ auch der „mittleren Schichten“ versprechen –
       so, als sei die Last der Abgaben, die man an die Kollektive entrichtet,
       schon viel zu hoch. Das ist die falsche Botschaft.
       
       Wir können immer noch stolz sein auf unsere Solidarsysteme. Und der
       heimlichen Sorge in den Mittelschichtmilieus, mit dem Sozialsystem würden
       doch nur die „Armen“ gefördert, kann man mit dem Argument begegnen, dass
       die Mittelschichtmilieus umgekehrt auch von einkommensschwächeren Gruppen
       ziemlich profitieren.
       
       Schlecht bezahlte ArbeitnehmerInnen liefern die [8][Pakete] bis an unsere
       Haustür, servieren die billigen Speisen im indischen Restaurant oder
       [9][wischen uns den Hintern ab], wenn wir das im Alter nicht mehr selbst
       erledigen können. Ein wenig Solidarität mit den unteren Einkommensgruppen
       ist daher schon angebracht. Und auch der Wohlstand der Besitzenden wird
       geschützt durch die Solidarsysteme.
       
       Die Pflegeversicherung kommt für die hochbetagten Eltern auf, sie war schon
       immer auch eine Erbenschutzversicherung. Der Staat bezahlt das Studium für
       Tochter und Sohn, davon kann man in den USA nur träumen. Da kann man als
       Gegenleistung schon ein bisschen was erwarten von den Reichen und den
       gutgestellten Mittelschichten, eine Bereitschaft zu teilen, wenigstens ein
       bisschen. Es wäre nur gerecht.
       
       21 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/DE/Startseite/start.html
   DIR [2] https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.817473.de/21-18-1.pdf
   DIR [3] https://www.deutschlandinzahlen.de/tab/deutschland/finanzen/preise/immobilienpreisindex
   DIR [4] /Reform-des-Hartz-IV-Systems/!5789475
   DIR [5] /SPD-Plaene-fuer-Vermoegensteuer/!5617948
   DIR [6] https://www.dielinke-dortmund.de/politik/positionen-do/kommunalwahlprogramm/wahlprogramm-sozialpolitik/
   DIR [7] /Die-Gruenen-und-Reichtum/!5750765
   DIR [8] /Dumpingloehne-der-Paketzusteller/!5203295
   DIR [9] /Tarifvertrag-fuer-Pflegende-scheitert/!5754058
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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