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       # taz.de -- Afghanistan im Bundestagswahlkampf: Fragen des Anstands
       
       > Die Fehler der Bundesregierung im Umgang mit Afghanistan schlagen sich
       > auch im Wahlkampf nieder. Eine Analyse.
       
   IMG Bild: Mehrere hundert Menschen versammelten sich vor dem Bundestag und forderten eine Luftbrücke
       
       Als am späten Montagabend eine A400M der Bundeswehr nur sieben Schutz
       suchende Menschen aus Kabul ausflog, empörten sich prominente Grüne auf
       Twitter. Es sei zum Heulen, es sei zum Schreien, hieß es da. Nur sieben!
       Sieben!
       
       Ein paar Stunden sonnte man sich in der Gewissheit, auf der guten Seite zu
       stehen. Nicht alle in der Grünen-Zentrale waren glücklich damit.
       Instantempörung im gemütlichen Zuhause, wenn in fast 5.000 Kilometer
       Entfernung SoldatInnen in einer halsbrecherischen Aktion Leute aus
       chaotischen Zuständen retten, ist keine gute Idee.
       
       Die Aufregung war ein Beleg dafür, wie sehr das Desaster in Afghanistan den
       innerdeutschen Wahlkampf beeinflusst. Die Grünen waren ja nicht die
       einzigen im politischen Berlin, die etwas unsortiert wirkten. Alle Parteien
       stellen sich auf die neue Lage ein. Kommt jetzt eine Polarisierung, von der
       die AfD profitiert? Droht eine aufgeheizte Debatte über Flüchtlinge wie in
       den Jahren nach 2015?
       
       Erst mal geht es um die Regierung. Unisono hält die Opposition ihr Versagen
       vor. „Angela Merkels Union und auch die SPD hatten immer das Image, Krisen
       managen zu können“, sagt etwa Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner.
       „Dieses Bild implodiert angesichts des Debakels in Afghanistan.“ Die
       Unwucht in der Groko nehme zu, es gebe ja jetzt schon Schuldzuweisungen
       zwischen CDU, CSU und SPD. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock
       fordert einen Untersuchungsausschuss, ebenso FDPler und Linke.
       
       Die Empörung hat einen Punkt: Die Fehler sind unübersehbar. Innenminister
       Horst Seehofer (CSU) hielt bis zuletzt an Abschiebungen nach Afghanistan
       fest, das Auswärtige Amt lieferte geschönte Lageberichte dazu. Das lange
       Zögern der Groko gefährdet Menschenleben. Warum Außenminister Heiko Maas
       (SPD) und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) die
       Ortskräfte der Bundeswehr nicht schon vor Monaten retteten, obwohl die
       Nato-Kräfte abzogen? Unklar. Die Rechtfertigungen klingen wie Ausflüchte.
       Der Linken-Außenpolitiker Gregor Gysi forderte gleich die ganze
       Bundesregierung zum Rücktritt auf. Sie solle, so Gysi, bis zum Ende der
       Legislaturperiode nur geschäftsführend im Amt bleiben. Spitzenleute von
       Grünen, FDP und Linken halten sich mit solchen Forderungen zurück. Vier
       Wochen vor der Wahl, heißt es, sei das nicht hilfreich.
       
       Die Fehler der Vergangenheit sind das eine, das andere ist die akute
       Afghanistan-Hilfe. Hier sind die Ideen, bei allem Wahlkampfgetöse, recht
       ähnlich. Merkels Regierung hat ein robustes, heißt: bewaffnetes Mandat für
       einen Bundeswehreinsatz formuliert. Obergrenze: 600 SoldatInnen. Deutsche
       Staatsangehörige sollen aus Kabul ausgeflogen werden und auch sogenannte
       Ortskräfte mit ihren Familien, also afghanische HelferInnen der Deutschen.
       Außerdem stehen auf der Evakuierungsliste Mitarbeitende von NGOs, aus der
       Entwicklungshilfe oder MenschenrechtsaktivistInnen. Es geht laut Merkel um
       10.000 Personen.
       
       In der CDU geht wegen der abstürzenden Umfragewerte die nackte Angst um.
       Nicht besser wird es dadurch, dass Kanzlerkandidat Armin Laschet auch in
       dieser Krise keine gute Figur macht. Der Rheinländer wirkt so profiliert
       wie eine Schüssel Vanillepudding. Einerseits will er es sich mit
       Erzkonservativen nicht verscherzen und betont, dass sich 2015 „nicht
       wiederholen“ dürfe. Ungebremste Massenzuwanderung, heißt das, werde es
       keinesfalls geben.
       
       ## Fluchtrouten sind gefährlich
       
       Eine solche droht aber überhaupt nicht. Afghanistan liegt neben China, die
       Landroute ist gefährlich, viele Anrainerstaaten haben ihre Grenzen
       geschlossen. Laschet spielt also mit einer rechten Chiffre ohne
       Realitätsbezug. Gleichzeitig adressiert er auch die hilfsbereite
       bürgerliche Mitte, wenn er verspricht, die Luftbrücke möglichst lange
       aufrechtzuerhalten, EU-Hilfen für die Nachbarstaaten zu organisieren und
       1.000 bedrohte afghanische Frauen nach Nordrhein-Westfalen zu holen.
       
       Laschet, SPD und Grüne sind sich also näher, als es den Anschein hat. Zumal
       auch links der Mitte Vagheit beliebt ist. Nur sieben Leute retten, das geht
       ja gar nicht? Wer nach dem Twitter-Shitstorm bei den Grünen herumfragte, ob
       sie denn die Bundeswehrmaschinen mit verängstigten AfghanInnen auffüllen
       würden, fallen die Antworten eher verdruckst aus.
       
       Die Sprecherin von Annalena Baerbock und Robert Habeck gibt schließlich ein
       Zitat frei, das so nichtssagend ist, dass man es getrost weglassen kann.
       Auch unter einer Außenministerin Baerbock würde also keinesfalls jeder
       gerettet, sondern nach Liste vorgegangen. Den Grünen ist klar: Wer jetzt
       das Fass aufmacht, wirklich viele Menschen nach Deutschland zu holen, gerät
       sofort unter Feuer. Die AfD malt bereits das Szenario von
       Masseneinwanderung an die Wand. Fraktionschefin Alice Weidel fordert ein
       Asylmoratorium, das den Übergang zum „Null-Asyl-Modell nach dänischem
       Vorbild schafft.“
       
       Aber bisher bleibt die AfD isoliert, ihre Zündelei findet kein Echo. Bis
       auf das 2015-Blinken von Laschet und anderen CDU/CSU-Promis wird unter den
       demokratischen Parteien recht sachlich diskutiert, auch deshalb, weil es um
       die Rettung einer klar umrissenen Gruppe geht. Ortskräfte der Bundeswehr
       rausholen, das ist auch eine Frage des Anstands für Konservative, die
       offenherzige Asylpolitik sonst ablehnen.
       
       ## Die Regierung ist verantwortlich
       
       Und die SPD? Sie hält den Ball flach. Olaf Scholz versucht sich als
       verlässlicher Krisenmanager zu positionieren. Der Finanzminister gab
       schnell 100 Millionen Euro frei, mit denen internationale
       Hilfsorganisationen unterstützt werden. „Dies ist ein erster Schritt, der
       zeigt, dass wir uns verantwortlich fühlen und uns kümmern“, sagte er. Etwas
       sehr Seltenes ist derzeit in Berlin zu beobachten: Lächelnde
       SozialdemokratInnen, die ihre Genugtuung nur schwer unterdrücken können. In
       den Umfragen ist die SPD der Union dicht auf die Pelle gerückt. Scholz als
       Kanzler, plötzlich ist das denkbar. Die schlechte Performance von Heiko
       Maas werde der SPD nicht groß schaden, hofft man im Willy-Brandt-Haus –
       schließlich sei die ganze Regierung verantwortlich.
       
       Selbst die Linkspartei, die Auslandseinsätze der Bundeswehr traditionell
       ablehnt, denkt neu nach. Überlässt man Tausende Menschen ihrem Schicksal –
       oder stimmt man einer Luftbrücke mit Militärmaschinen zu? „Natürlich ist
       dieser Bundeswehreinsatz jetzt anders zu bewerten als der
       Afghanistan-Einsatz in den letzten 20 Jahren“, sagt die Bundesvorsitzende
       Janine Wissler. „Es ist kein Kriegseinsatz, gegen den wir aus Prinzip
       stimmen. Wir sind grundsätzlich dafür, so viele Menschen wie möglich zu
       evakuieren.“ Aber die Linke habe sich noch nicht entschieden, wie sie
       nächste Woche über das Mandat im Bundestag abstimme.
       
       Entscheidend ist, ob nun vorausschauende Politik gemacht wird. „Es wird
       voraussichtlich Fluchtbewegungen aus Afghanistan nach Europa geben“, sagt
       Olaf Kleist, Migrationsforscher am Deutschen Zentrum für Integrations- und
       Migrationsforschung. „In Kabul leben Menschen, die einen europäischen
       Lebensstil und westliche Werte pflegen.“ Jene würden nicht dauerhaft in
       Pakistan oder in Iran unter schlechten Bedingungen leben.
       
       Gleichzeitig, betont Kleist, lehre die Erfahrung, dass die meisten
       Geflüchteten in ihrer Heimatregion bleiben wollten. Er fordert ebenfalls
       Unterstützung für die Nachbarstaaten, um eine gute Hilfsinfrastruktur
       aufzubauen. Außerdem müssten die EU und Deutschland Aufnahmeprogramme
       anlegen und sichere Fluchtwege schaffen. „So ließe sich eine ungeregelte
       Situation wie 2015 vermeiden.“
       
       Diese Themen – Resettlementprogramme und sichere Fluchtwege – bergen
       Sprengkraft, weil es hier erstens um eine größere Zahl von Menschen geht.
       Und zweitens um ganz normale AfghanInnen, die aus guten Gründen vor den
       Taliban flüchten. Ob es deshalb im Wahlkampf zu einer Zuspitzung kommt, ist
       schwer vorherzusagen. „Ich kann noch nicht einschätzen, ob Flüchtlinge
       wieder ein großes, polarisierendes Thema werden“, sagt der Grüne Kellner.
       
       ## Migration nicht für die Wahl instrumentalisieren
       
       Die Union, so scheint es, will Geflüchtete jedenfalls nicht zum Großthema
       machen. Markus Söder, der dieses eine Mal nicht vorgeprescht ist, sondern
       mehrere Tage lang ungewohnt still war, sagte am Donnerstag nach einer
       CSU-Vorstandssitzung in München: „2015 nicht wiederholen heißt für uns
       auch, keine Instrumentalisierung dieser Migrationsfragen und der
       menschlichen Schicksale im Wahlkampf.“ Darauf werde man achten.
       
       Die CSU hat ihre Lektion gelernt. Im Landtagswahlkampf in Bayern 2018 hatte
       sie bös gezündelt in der Hoffnung, die AfD klein zu halten. CSUler
       wetterten gegen „Asyltourismus“ oder die „Anti-Abschiebe-Industrie“. Als
       Söder merkte, dass WählerInnen scharenweise zu den Grünen überliefen, riss
       er das Ruder rum. Die CSU verlor trotzdem über 10 Prozentpunkte. Das soll
       nicht noch einmal passieren.
       
       Auch zu Laschet würde ein Anti-Flüchtlings-Wahlkampf nicht passen. 2015 war
       er einer der wenigen Christdemokraten, die klar zu Merkel standen – und er
       hat diese Meinung nie revidiert. Ebenso wenig haben SPD und Grüne ein
       Interesse an einer hitzigen Debatte über Geflüchtete. Die Sozialdemokraten
       hatten 2015 das Problem, dass ihre Wählerschaft bei dem Thema gespalten
       war. Die einen unterstützten die große Hilfsbereitschaft, die anderen
       wollten eine Begrenzung der Einwanderung.
       
       Die Grünen setzen sowieso auf einen sachlichen Wahlkampf. Auch sie wollen
       keine Polarisierung, obwohl sie ihnen sogar nutzen könnte. Baerbock und
       Habeck betonen stets, dass die demokratische Mitte zusammengehalten werden
       müsse. Vielleicht wird also der Wunsch von Migrationsforscher Kleist
       Wirklichkeit. „Ich hoffe, dass die Parteien das Thema aus dem Wahlkampf
       heraushalten“, sagt er. „Flüchtlingspolitik ist zu komplex für Zuspitzungen
       und Vereinfachungen.“
       
       20 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
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