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       # taz.de -- Die Wahrheit: Schutzimpfung bei Lucie Leydicke
       
       > Lang ist es her, und Vater war's aus Gründen zufrieden: Der erste
       > Alkoholexzess in jungen Jahren hat es stets arg in sich.
       
       Es ist ein Jahrestag, an den ich mich nur ungern erinnere: Vor 50 Jahren
       hatte ich meinen ersten Vollrausch. Ich war 17 und hatte bis dahin noch nie
       Alkohol getrunken. Eines Abends ging ich mit zwei Klassenkameraden zu
       Leydicke in der Berliner Mansteinstraße. Die Kneipe, 1877 gegründet, war
       legendär, die Wirtin Lucie Leydicke, damals 73 Jahre alt, war gefürchtet.
       Sie starb 1980. Dieter Hildebrandt schrieb in seinem Nachruf, das schönste
       an ihr sei die „Schutzimpfung“ gewesen: „Ob eine neue Ehe, ein neues Haus,
       ein neues Geschäft zu wagen war: Sie redete ihr Wörtchen mit.“
       
       Ich hatte miterlebt, wie Lucie einen Gast zur Schnecke gemacht hatte, weil
       der ein Mineralwasser bestellen wollte. Deshalb traute ich mich nicht,
       meine übliche Apfelsaftbestellung aufzugeben. Stattdessen nahm ich einen
       Stachelbeerwein, das war ja auch eine Art Fruchtsaftgetränk. Die Flasche,
       die wir uns teilten, kostete fünf Mark. Danach probierten wir Kirschwein,
       bevor wir zum Erdbeerwein übergingen.
       
       Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Gegen zwei Uhr nachts
       klopfte es an meinem Fenster. Ich wurde kurz wach, schaute zum Fenster, sah
       meinen Vater, drehte mich um – und schlief weiter. Was für ein lächerlicher
       Obstweintraum. Schließlich wohnten wir im ersten Stock, und falls mein
       Vater nicht plötzlich erheblich gewachsen war, was unwahrscheinlich schien,
       konnte er nicht zum Fenster hereinschauen. Doch das Klopfen wurde
       dringlicher. Schließlich stand ich auf und ging zum Fenster.
       
       Mein Vater stand auf einer Leiter. Unten auf der Straße war die halbe
       Nachbarschaft versammelt. Vor meinem Fenster hing ein Holzbügel an einer
       Schnur. Die Nachbarn von oben hatten den Bügel gegen das Glas schlagen
       lassen, um mich zu wecken, waren aber gescheitert, sodass jemand eine
       Leiter aus dem Keller besorgte.
       
       Auf der Straße standen nicht nur die anderen Nachbarn, die das Drama live
       mitverfolgen wollten, sondern auch die Freunde meiner Eltern, bei denen sie
       den Abend verbracht hatten. Die machten sich Sorgen, weil sie sich
       telefonisch erkundigen wollten, ob meine Eltern gut nach Hause gekommen
       waren. Als sie niemanden erreichten, fuhren sie ihnen nach.
       
       In der Annahme, dass meine Eltern bereits schliefen, hatte ich die Tür von
       innen abgeschlossen und den Schlüssel stecken lassen. Nachdem ich
       schließlich be- und schlaftrunken geöffnet hatte, erklärte ich meinen
       verblüfften Erziehungsberechtigten, dass sie angeblich im Bett lagen, als
       ich nach Hause gekommen war. „Später seid ihr wieder aufgestanden und
       weggegangen, aber ihr habt vorher die Tür abgeschlossen und den Schlüssel
       innen stecken lassen“, rechtfertigte ich mich.
       
       Meine Mutter war sehr erbost und wollte mit mir über die Logik meiner
       Erläuterungen diskutieren, aber mein Vater winkte ab. Er schien sogar ganz
       zufrieden, weil dies eine Mal nicht sein Alkoholkonsum im Zentrum der
       Kritik stand, sondern meiner.
       
       30 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Sotscheck
       
       ## TAGS
       
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