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       # taz.de -- Heimweh und Sehnsucht: Vier Jahre und vier Monate
       
       > Früher wurden spätestens alle zwei Jahre die Koffer gepackt. Mittlerweile
       > ist die letzte Reise nach Hause lange her – zu lange.
       
   IMG Bild: Das Meer und das Salz, sogar in der Luftröhre
       
       Vier Jahre und vier Monate warst du nicht zu Hause. Du schreibst diesen
       Satz in deiner Küche. Zuvor drückte sich die Sehnsucht durch deine
       Nasenlöcher wie Salzwasser, wenn dir im Meer eine Welle ins Gesicht
       klatscht. Es brennt etwas und es bringt deine Atmung durcheinander. „Nicht
       so schlimm“, denkst du, weil du das Meer liebst und auch das Salz, sogar in
       der Luftröhre.
       
       Vier Jahre und vier Monate sind eine lange Zeit. Du warst noch nie so lange
       weg, beziehungsweise warst du noch nie so lange nicht da. Deine Mutter
       seufzt jeden Sonntag [1][„vielleicht nächstes Jahr“] in den Hörer. Früher
       habt ihr jedes zweite Jahr die Koffer gepackt: Handcreme in Sandalen,
       Multivitaminbrausetabletten in die Zwischenräume, Aufgabegepäck 18 Kilo,
       schwerer hin und leichter zurück.
       
       Ein ganzer Tag von Haustür zu Haustür, der tiefste Schlaf in einem Bett
       ohne Matratze, das nach der ersten Nacht einen blauen Fleck auf deiner
       Hüfte hinterlässt. Zwischen Ayis Fingern fällt eine Apfelschalenspirale auf
       den gläsernen Tisch. Um 家 zu schreiben, musst du j-i-a tippen und das erste
       vorgeschlagene Zeichen auswählen, oder du setzt zehnmal den Stift an.
       
       In deiner Abwesenheit wurden zwei Kinder geboren und ein Erwachsener ist
       gestorben. Ob er tatsächlich weg ist, wenn du das nächste Mal in der
       dunklen Erdgeschosswohnung Straßenschuhe gegen Plastikschlappen tauschst,
       ist unklar. Du kannst es nicht überprüfen, ohne eine lange Kette an Hürden
       abzuarbeiten – bürokratische, finanzielle, politische. Eigentlich willst du
       aber gar nichts überprüfen. [2][Du fragst dich, ob du jetzt Flugangst
       hast.]
       
       ## Auf der Suche nach vergessenen Szenen
       
       Die Erinnerung läuft im Kreis, ab und zu läufst du die Innenseite deiner
       Augenlider ab, suchst nach vergessenen Szenen, vorsichtig, du rationierst
       einen Vorrat, von dem du nicht weißt, wann er erschöpft ist. Niemand will
       das noch hören, immer das Gleiche: Hitze. Zu kalte Klimaanlagen. Melonen.
       Alte Leute, die frühmorgens in der Mall Handflächen durch die Luft
       schieben. Du, die du dir genüsslich die Zungenspitze an der Brühe in den
       Xiaolongbao verbrennst. Lilafarbenes Licht und Whitney Houstons Stimme aus
       schlechten Lautsprechern. Niemand will das noch hören, am wenigsten du
       selbst.
       
       „Vor mehr als vier Jahren“, hast du neulich geantwortet, als jemand dich
       fragte: „Wann warst du das letzte Mal da?“, um dich danach zu mustern, als
       hätte sich für jedes Jahr einer deiner Körperteile in Luft aufgelöst. Tags
       darauf hast du angefangen jeden Morgen Reissuppe zu essen, nicht als könnte
       der Brei deine Entfremdung aufhalten.
       
       Du bist dir nicht sicher, ob nun die Welt eine andere geworden ist oder
       doch vielmehr du in ihr, weil du aufgehört hast dich regelmäßig nach Osten
       zu strecken und jetzt verknotete Muskeln zwischen den Schulterblättern
       trägst. Gegen Halsschmerzen in einem viel zu kalten August gurgelst du mit
       Salzwasser und verschluckst dich mit Absicht, weil du das Meer liebst,
       sogar in der Luftröhre.
       
       1 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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