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       # taz.de -- Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Zähne zusammenbeißen und durch
       
       > Die Arbeit von Journalist*innen in Belarus ist lebensgefährlich
       > geworden. Viele sind bereits in Haft. Doch einfach aufgeben ist keine
       > Option.
       
   IMG Bild: Opfer staatlicher Gewalt: Abschied am offenen Sarg von Roman Bondarenko am 20. November 2020
       
       Ich lebe seit Ende Oktober 2018 in Warschau. Ich war hierhergekommen, um
       für Belsat zu arbeiten – einen belarussischen Fernsehkanal, der noch nie
       eine Akkreditierung vom belarussischen Außenministerium bekommen hat. Die
       Leitung von Belsat sitzt in Warschau.
       
       Als Redakteurin der Webseite konnte ich nicht in Belarus bleiben. Nur von
       Warschau aus konnten wir die zahlreichen Streams machen. Damit das gleich
       klar ist: Ich werde alle Namen mit einem Buchstaben abkürzen. Einige der
       Mitarbeiter*innen leben noch in Belarus, andere haben das Land
       verlassen oder sitzen im Gefängnis. Auch außerhalb von Belarus haben die
       Menschen Angst – um geliebte Menschen, die dort geblieben sind. Ich habe
       mich schon lange dafür entschieden, offen zu sprechen. Dadurch habe ich mir
       den Weg nach Belarus versperrt. Für wie lange? Keine Ahnung.
       
       Das ganze Jahr 2019 und Anfang 2020 habe ich Journalist*innen zum
       Streamen geschickt. Von Warschau aus koordinierte ich die Arbeit von sechs
       Personen: zwei Kameraleuten, zwei Journalisten, einem Fotografen, einem
       Assistenten.
       
       ## Im Sommer 2020 wurde alles anders
       
       Im Sommer 2020 änderte sich alles. Ich hatte schon vorher gewusst, was zu
       tun war, wenn jemand festgenommen worden war. [1][Ich kannte die Regeln der
       Okrestina] (Untersuchungsgefängnis in der Okrestinastraße in der Hauptstadt
       Minsk): Wie Zigaretten eingepackt werden mussten, damit sie angenommen
       wurden, wie Saft abgefüllt und Wurst geschnitten werden mussten, damit die
       Wachen diese Dinge nicht zurückschickten.
       
       Plötzlich musste ich in die Rolle einer Journalistin schlüpfen, die ihre
       Kolleg*innen ins Feld schickte – ein Job, für den sie für 24 Stunden
       eingesperrt werden konnten. Über das Schicksal einer Person zu entscheiden
       – so eine Arbeit wünsche ich niemandem. Daran kann man sich nicht gewöhnen.
       
       Vom Sommer 2020 an sagte ich, wenn ich unseren Journalist*innen einen
       Auftrag erteilte: „Passt gut auf, lieber nichts aufnehmen oder an die
       Redaktion schicken. Das Wichtigste ist, in Freiheit zu bleiben.“ Die
       Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen hat Belarus als den
       gefährlichsten Ort für Journalist*innen in ganz Europa bezeichnet. Das
       stimmt.
       
       Im April 2020, vier Monate vor der Präsidentenwahl, wurde klar, dass der
       Wahlkampf ganz anders sein würde als der vorherige. Ein „Es wird schlimmer
       sein als 2010“ lag in der Luft. Damals waren die Proteste auf dem Platz der
       Unabhängigkeit gewaltsam aufgelöst und über 700 Menschen festgenommen
       worden. Wir sollten recht behalten – es wurde schlimmer.
       
       ## Journalist*innen in Lebensgefahr
       
       Schon Mitte Juni begannen wir damit, für unsere Journalist*innen
       spezielle Ausrüstungsgegenstände zu beschaffen: kugelsichere Westen, Helme,
       Atemschutzmasken, Baukopfhörer, die vor Explosionen schützen. Das geschah
       gerade noch zur rechten Zeit.
       
       Eine kugelsichere Weste rettete unsere I. Eine Kugel prallte ab und traf
       nur das Steißbein. Ihr Rucksack wurde von Gummigeschossen durchsiebt. Es
       ist offensichtlich schwierig, nicht zu bemerken, dass ein/e
       Journalist*in eine Weste mit der Aufschrift „Presse“ trägt, oder?
       
       T. hatte keinen Kopfhörer aufgesetzt und erlitt eine Gehirnerschütterung –
       eine Granate war in der Nähe explodiert. So vergingen die ersten Tage nach
       der Wahl am 9. August. „Das hier ist ein Albtraum, ständig gibt es
       Explosionen“ – Nachrichten, von denen ich mich am 9., 10. und 11. August
       nicht aus der Ruhe bringen zu lassen versuchte. Doch meine Hände zitterten
       und ich begann, mehr als eine Schachtel Zigaretten am Tag zu rauchen. Wir
       bissen die Zähne zusammen, arbeiteten und schliefen im Büro auf dem Boden.
       
       Emotionale Tage nach der Präsidentschaftswahl 
       
       Am 12. August weinte ich, als in Belarus das Internet wieder funktionierte
       und meine Mutter mich erreichte. Sie war gerade auf die Webseite von Belsat
       gegangen und hatte etwas über die Explosionen, Prügel in der Okrestina und
       Verletzte gelesen.
       
       Meine Freundin, ebenfalls Journalistin, hatte mir eine Stunde vor dem Anruf
       meiner Mutter erzählt, wie sie sich in einem Mülleimer versteckt hatte, um
       der Omom (Spezialeinheit, die vor allem Jagd auf Demonstrant*innen
       macht; Anm. d. Red.) zu entkommen. Ich sprach mit meiner Mutter und brach
       in Tränen aus. Normalerweise versuche ich, nicht vor meiner Mutter zu
       weinen. Aber am diesem Tag konnte ich mich nicht zurückhalten.
       
       In Belarus funktionierte das Internet nicht. Deshalb arbeitete jeder in
       unserem Team in Warschau bis zum Umfallen. Ich erinnere mich nicht mehr,
       was ich aß und wo ich schlief. Ich weiß nur noch, dass ich, obwohl mir
       morgens schlecht war, ein Taxi rief und wieder zur Arbeit fuhr. Wir in
       Warschau waren weit von Belarus entfernt, aber dank unserer mutigen
       Journalist*innen bekamen wir mit, was in der Heimat passierte. Bis
       heute weiß ich jeden Dialog auswendig.
       
       ## Die Fronten verhärten sich
       
       Im Oktober wurde es noch schwieriger zu arbeiten. Gegen
       Teilnehmer*innen von Aktionen wurden erstmals massenhaft Strafverfahren
       eingeleitet. In den Augen der Staatsmacht sind Journalist*innen
       Teilnehmer*innen an Protesten. Wir tragen bereits seit einem Monat
       keine „Presse“-Westen mehr, das erregt nur Aufsehen.
       
       Im November, [2][nachdem Roman Bondarenko infolge von Schlägen gestorben
       war], kamen Menschen zu seinem Haus, um seiner zu gedenken. Wir streamten
       aus einer Wohnung. Katja Andreewa und Dascha Schulzowa dokumentierten, wie
       die Menschen auseinandergetrieben wurden, Explosionen und Festnahmen. Katja
       und Dascha wurden ebenfalls festgenommen. [3][Im Februar 2021 wurden sie zu
       zwei Jahren Strafkolonie verurteilt].
       
       Einen Tag nach der Festnahme von Katja und Dascha wurde auch die
       Journalistin von TUT.by, Katerina Borisewitsch, verhaftet. Sie hatte
       geschrieben, dass im Blut von Roman Bondarenko kein Alkohol nachgewiesen
       worden sei. Das widersprach der offiziellen Version. Katja verbrachte sechs
       Monate im Gefängnis.
       
       Im Frühjahr 2021 traf ich eine Entscheidung: Journalist*innen nicht
       mehr auf Reportage zu schicken. Fotografen sind jetzt nicht mehr mit
       Kameras unterwegs, sondern mit Telefonen. Offen zu sagen, du seist
       Journalist*in, ist, als ob du dich selbst einer Straftat bezichtigen
       würdest.
       
       ## Vorwurf: Extremismus
       
       Unlängst verkündete das Eisenbahnergericht in Gomel seine Entscheidung: Der
       TV-Kanal Belsat und die Verbreitungskanäle (soziale Medien, Webseite) sowie
       jede Erwähnung des Wortes Belsat sind extremistische Inhalte. Schock.
       Panik. „Olga, was tun?“ Weiterarbeiten. Egal, wo wir sind – ob in Warschau,
       Kiew oder Vilnius. Wir machen unseren Job.
       
       Als Redakteurin sehe ich, wie der Journalismus immer weiter in
       Partisanentum abrutscht. Immer häufiger verwenden wir Fotos von
       Leser*innen anstatt unserer eigenen. Wir bemühen uns nicht mehr um
       Kommentare von der anderen Seite. Wie durch ein Wunder schaffen wir es
       immer wieder, die Informationen zu überprüfen.
       
       Nicht alle Journalist*innen haben Belarus verlassen. Und nicht alle
       werden gehen. Einige Leute aus meinem Team haben gesagt: „Ich gehe aus
       Prinzip nicht weg, selbst wenn mir Haft droht.“ Ich bin stolz auf diese
       Menschen, auf jeden Einzelnen von ihnen.
       
       In dem Film „Spectre“ kommt folgender Satz vor: „Sie sind wie ein Drachen
       in einem Hurrikan, Mr Bond.“ Genauso fühle ich mich jetzt auch: wie ein
       Drachen, der vom Wind in alle Richtungen zerfetzt wird.
       
       Schreiben, Journalist*innen herausholen und denen Anweisungen zum
       Überleben geben, die in Belarus geblieben sind. Und aufrecht stehen hinter
       dem Rücken mutiger Menschen, die ihrem Beruf treubleiben, egal was kommt.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       20 Aug 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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   DIR Schwerpunkt Krisenherd Belarus
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