URI: 
       # taz.de -- Proteste in Belarus – ein Jahr danach: Der Geist der Revolution lebt
       
       > Lukaschenko ist unfreiwillig zum Geburtshelfer der belarussischen
       > politischen Nation geworden. Das erinnert an den Euromaidan in der
       > Ukraine​.
       
   IMG Bild: Solidaritätskundgebung für Belarus am 8. August 2021 in Kiew
       
       Ein schrecklicheres Jahr hat es in der Geschichte des modernen
       belarussischen Staates noch nie gegeben. Nur 365 Tage hat Diktator
       Alexander Lukaschenko, der sich bis heute für den belarussischen
       Präsidenten hält, gebraucht, um sein Land [1][in ein Konzentrationslager
       mitten in Europa] zu verwandeln.
       
       Alle seine Hauptwidersacher hat er hinter Gitter gebracht. Mittlerweile
       gibt es mehr als 600 politische Gefangene. Tausende von Belaruss*innen
       waren gezwungen, ihr Land zu verlassen, um den Repressionen zu entkommen.
       
       Lukaschenko schreckte nicht einmal vor staatlichem Terror zurück, als er
       eine Ryan-Air-Maschine zur Landung in Minsk zwang, weil der oppositionelle
       Journalist Roman Protassewitsch an Bord war. All dieser Irrsinn zeigt: Der
       Diktator klammert sich mit aller Gewalt an die Macht, vor deren Verlust er
       tödliche Angst hat.
       
       Aber Lukaschenko hat nicht verstanden, dass alle seine Bemühungen nur den
       umgekehrten Effekt haben: Die Belaruss*innen werden ihn nie mehr als
       Staatsführer anerkennen. Er hat seine Legitimität in den Augen seines
       Volkes für immer verloren.
       
       ## Ironie des Schicksals
       
       Das Wichtigste aber, was in Belarus passiert ist, ist die Geburt einer
       politischen Nation. Sechsundzwanzig Jahre lang hat Lukaschenko systematisch
       die belarussische Identität zerstört. Aber – Ironie des Schicksals – jetzt
       hat er selbst sie den Belaruss*innen zurückgegeben.
       
       Das erinnert an die Ereignisse in der Ukraine: Der russische Präsident
       Wladimir Putin wollte mit dem Krieg gegen das Land die Ukraine unter seine
       Kontrolle bringen. Doch das Gegenteil geschah: Mental hat die Ukraine die
       „russische Welt“ jetzt für immer verlassen.
       
       Gleichzeitig sind die Unterschiede zwischen der belarussischen Revolution
       und der ukrainischen offensichtlich. Die Ukraine hat mit dem
       [2][Euromaidan] eine Wahl zwischen Russland und der EU getroffen. Belarus
       kämpft aktuell mit der Vergangenheit um die Zukunft, gegen den
       Autoritarismus für die Demokratie. Obwohl es auf den Straßen in Belarus
       keine Proteste mehr gibt, ist der revolutionäre Geist im Land nicht
       verschwunden. Lukaschenko hat die Schlacht gewonnen, aber den Krieg
       verloren.
       
       Und er weiß: Vermindert er heute den Grad der Repressionen, dann kommt die
       Opposition schon morgen an die Macht. Davor hat nicht nur er Angst, sondern
       der ganze Machtapparat und die belarussische Elite. Denn sie werden sich
       genau wie Lukaschenko selbst für ihre Verbrechen verantworten müssen,
       weshalb sie versuchen, sich gegenüber dem Diktator loyal zu zeigen.
       
       ## Nicht vorbereitet
       
       Jedoch hat nicht nur dies die Revolution in Belarus verhindert. Auch die
       demokratische Opposition selbst war nicht auf die Revolution vorbereitet.
       Wenn ein Diktator praktisch dreißig Jahre an der Macht ist, wäre es naiv zu
       hoffen, ihn durch demokratische Wahlen stürzen zu können.
       
       Und auch der Westen hat zu lange geschwiegen und die Ereignisse in Belarus
       lediglich beobachtet. So, als ob alles besser wäre als eine neue
       Konfrontation, die Lukaschenko noch weiter in die Arme des Kremls treiben
       könnte.
       
       So reibt sich nur Russlands Präsident Wladimir Putin die Hände. Er weiß,
       dass der Westen sich kaum einer schleichenden Annexion von Belarus
       widersetzen wird. Zur selben Zeit erkennt Lukaschenko, dass die formale
       Unabhängigkeit von Belarus der letzte Trumpf ist, den er im Ärmel hat. Aber
       noch ist dieser Moment nicht gekommen, der belarussische Diktator wird sein
       eigenes Volk auch weiter unterjochen.
       
       Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
       
       21 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ein-Jahr-nach-Wahl-in-Belarus/!5788183
   DIR [2] /Aufbegehren-in-Belarus/!5703413
   DIR [3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anastasia Magasowa
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krisenherd Belarus
   DIR Ukraine
   DIR Belarus
   DIR Euromaidan
   DIR GNS
   DIR Belarus
   DIR Schwerpunkt Krisenherd Belarus
   DIR Schwerpunkt Krisenherd Belarus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Belarussischer Regimegegner in Kiew: Schischow tot in Park aufgefunden
       
       Der Aktivist war die Schlüsselfigur der belarussischen Opposition in der
       Ukraine. Die Polizei schließt einen Mord, getarnt als Suizid, nicht aus.
       
   DIR Aufbegehren in Belarus: Kein Euromaidan in Minsk
       
       Die Zukunft der Belarussen ist noch nicht absehbar. Einen Vorteil hat das
       Land gegenüber der Ukraine: Es gibt keine Oligarchen, die mitmischen.
       
   DIR Aktion für Belarus in Berlin: Solidarität in Rot und Weiß
       
       Vor dem Brandenburger Tor protestieren rund 150 Frauen gegen Polizeigewalt
       in Belarus. Ukrainer*innen fühlen sich an den Maidan erinnert.