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       # taz.de -- Festival zu globaler Filmgeschichte: Eigene Erzählweisen
       
       > Archival Assembly nähert sich der Überlieferung der weltweiten
       > Filmgeschichte an. Von Brendan Shehu über das Yugantar Kollektiv bis
       > Serap Berrakkarasu.
       
   IMG Bild: Szene aus „Sudesha“, Yugantar Kollektiv, Indien 1983
       
       Ein Gespräch nach dem anderen berichtet von der bedrückenden Situation, vor
       der die Männer aus dem Sudan geflohen sind. In den Straßen von Kairo
       erzählen sie von den Verlusten, der Sorge um jene, die zurück geblieben
       sind. Stimmen, die in der Gegenwart Widerhall finden. Die Kommentarstimme
       führt aus, dass der Ablauf des Passes eines der größten Unheile ist, die
       den sudanesischen Exilanten in Ägypten drohen. Wenden sie sich an ihre
       Botschaft, droht ihnen, zwangsweise in den Sudan zurückgebracht zu werden.
       
       Die ägyptische Dokumentarfilmerin Atteyat Al Abnoudy und der sudanesische
       Filmemacher Hussein Shariffe geben in „Diary in Exile“ eine Momentaufnahme
       des sudanesischen Exils in Ägypten nach dem Putsch von 1989. Jener Putsch
       brachte Omar al-Baschir an die Macht, von der er erst vor zwei Jahren
       wieder entfernt werden konnte. „Diary in Exile“ befragt Exilant_innen in
       Ägypten und zeigt zugleich die lange Geschichte sudanesischen Lebens in
       Ägypten. Der Film ist Teil des Filmprogramms, mit dem das Arsenal sich ab
       kommenden Mittwoch der komplexen Situation der Überlieferung globaler
       Filmgeschichte in den Archiven der Welt nähert. Das Filmprogramm wiederum
       ist Teil einer größeren Reihe von Veranstaltungen, die das Thema näher
       betrachten.
       
       Die [1][„Archival Assembly #1“] ist Zwischenbilanz und Auftakt
       gleichermaßen. Fünf Jahre lang haben Filmhistoriker_innen und
       Programmgestalter_innen aus dem Umfeld des Arsenals in dem Projekt
       [2][„Archive außer sich“] Seitenarme der weltweiten Filmgeschichte in ihrer
       Bedeutung für die Gegenwart sichtbar gemacht. Das Projekt selbst ist
       wiederum ein Teilprojekt des Projekts [3][„Das ganze Leben“] des Haus der
       Kulturen der Welt, die Programmgestalter_innen arbeiteten als
       Subunternehmer_innen des Arsenals. Die „Archival Assembly“ blickt auf die
       bisherigen Projekte zurück und ist zugleich die erste Ausgabe eines
       Festivals zur Arbeit in und mit Filmarchiven, das künftig alle zwei Jahre
       stattfinden soll.
       
       Die Entdeckungen sind vielfältig und zeigen den Reichtum einer
       Filmgeschichte, die sich nicht mit dem immer gleichen zufrieden gibt. Der
       nigerianische Filmaktivist Didi Cheeka präsentiert am Tag nach der
       Eröffnung eine rare Wiederentdeckung: Brendan Shehus Film „Kulba na barna“
       von 1992 ist ein Beispiel für nigerianische Filmproduktion jenseits der
       Videoproduktionen, die in jenen Jahren parallel zur Filmproduktion
       entstand. Shehu verfilmt in epischer Breite ein Theaterstück von 1979. Im
       gleichen Jahr wie „Kulba na barna“ erschien ein schmaler Band mit Essays
       und Gesprächen mit Shehu, der forderte, die nigerianische Filmproduktion in
       ihrer eigenen Ästhetik und der eigenen Art der Erzählung zu würdigen,
       anstatt sie immer sofort mit Hollywood-Produktionen zu vergleichen.
       
       ## Von Fabrikarbeit und Kolonisierung
       
       Die präsentierten Projekte reichen von neuerlichen Sichtungen wie im Falle
       von „Kulba na barna“ über Restaurierungen. Daneben stehen jedoch auch
       Präsentationen von ganzen Sammlungsfunden wie der beim Kairoer Juwelier
       Magdy Rafla, der in seiner Wohnung Filme aus aller Welt gehortet hat, aber
       auch sehr praktische Projekte. So hat der langjährige Vorführer des
       Arsenals Bodo Pagels in Zeiten des Lockdowns aus Recyclingmaterialien einen
       mobilen Filmprojektor gebaut. Pagels Projektor ermöglicht es durch LEDs als
       Lichtquelle, einzelne Bilder in der Projektion anzuhalten ohne dass diese
       wie in der konventionellen Technik durchbrennen.
       
       Vor einigen Monaten präsentierte das Arsenal in seinem Streamingangebot
       Deepa Dhanrajs Dokumentarfilm „Kya hua is shahar ko?“, der einen zentralen
       Moment auf dem zur Gewalt der Hindunationalistischen Indische Volkspartei
       BJP zeigte. Im Rahmen der „Archival Assembly“ werden nun zwei weitere Filme
       der indischen Dokumentarfilmerin gezeigt, die gemeinsam mit dem
       feministischen Filmkollektiv Yugantar entstanden. „Ambaku chaakila oob ali“
       („Tobacco Ember“) zeigt die Arbeit das Leben von Fabrikarbeiterinnen,
       „Sudesha“ den Kampf der Umweltbewegung Chipko (beide Filme werden ab
       Sonntag auch im Streamingangebot des Arsenals verfügbar sein).
       
       Das Festival ist auch Rahmen für die Premiere von zwei neu restaurierten
       Filmen der deutsch-türkischen Filmemacherin Serap Berrakkarasu, die Anfang
       der 1990er Jahre einige Aufmerksamkeit fanden, danach jedoch etwas in
       Vergessenheit gerieten. „Töchter zweier Welten“ porträtiert beispielhaft
       eine Mutter, die aus der Türkei nach Westdeutschland kam und ihre Tochter,
       die in Deutschland aufgewachsen ist. Die Regisseurin hat die
       Protagonistinnen ihres Films bei der Arbeit im Lübecker Frauenhaus
       kennengelernt. „Ekmek parası – Geld fürs Brot“ zeigt Frauen bei der Arbeit
       in einer Fischfabrik. Beide Filme leben davon, dass sie ihren
       Protagonistinnen eine Stimme geben.
       
       Das [4][Harun Farocki Institut] ist mit gleich zwei Beiträgen in der
       „Archival Assembly“ vertreten. Zum einen präsentiert das Institut Skip
       Normans nach seiner Zeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie
       entstandenen Essayfilm zur europäischen Kolonialisierung Africas „On
       Africa“. Der Film wurde auf der Grundlage einer Kopie digitalisiert, die im
       WDR überliefert ist. Diese Form der Überlieferung reflektiert das Harun
       Farocki Institut in einem eintägigen Symposium mit dem Titel [5][„Recht auf
       Öffentlichkeit II“] statt.
       
       ## Deutsche Fernsehgeschichte
       
       Wie schon der Titel suggeriert, knüpft es an einen ersten Teil an, der im
       letzten Herbst stattfand. Beide Symposien widmen sich dem komplizierten
       Zugang zu den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender, in denen diese
       ihre gebührenfinanzierten Produktionen wegsperren.
       
       Passenderweise gibt es noch ein zweites Projekt zur deutschen
       Fernsehgeschichte: Merle Kröger und Mareike Bernien von der Berliner
       Produktionsfirma pong film stellen ihr Projekt eines digitalen Werkarchivs
       der indisch-deutschen Fernsehjournalistin Navina Sundaram vor. Für „Die
       fünfte Wand“ haben die beiden Filmemacherinnen einen beeindruckendes
       Porträt von 40 Jahren Arbeit Sundarams für das deutsche Fernsehen
       zusammengestellt.
       
       Die erste Ausgabe der „Archival Assembly“ zeigt Archive nicht als
       Lagerräume des Vergangenen, sondern als Ressourcen für ein Verständnis der
       Gegenwart. Archive sind in diesem Verständnis Ausdruck eines fortwährenden
       Gesellschaftsbezugs, der ihre Gründung hervorbringt, sie über die Jahre
       erhält, im Laufe der Zeit auf sie zurückgreift. Mit Blick auf die
       Wirkungsweise von Archiven ist das für manche ein unerreichbar
       erscheinendes Ideal, für andere beinahe schon Praxis.
       
       28 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://www.harun-farocki-institut.org/en/
   DIR [5] https://www.harun-farocki-institut.org/en/2021/08/18/archival-assembly-festival/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Tietke
       
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