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       # taz.de -- Notstand in der Pflege: Die kranken Häuser heilen
       
       > Die überlasteten Beschäftigten der landeseigenen Kliniken in Berlin
       > kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen. Die Missstände sitzen tief im
       > System.
       
       Das Grundproblem ist die Ökonomisierung des Gesundheitssektors“, sagt Gabi
       Heise und hört sich dabei etwas müde an. Seit 1983 arbeitet die
       Intensivpflegerin am Vivantes Klinikum Neukölln, seit Jahren kämpft sie für
       bessere Arbeitsbedingungen der Pflegenden, hat alle Arbeitskämpfe der
       Beschäftigten an ihrem Krankenhaus mitgemacht. Inzwischen ist Heise
       freigestellte Betriebsrätin und engagiert sich in der [1][Berliner
       Krankenhausbewegung], einem Zusammenschluss der Beschäftigten der
       landeseigenen Krankenhäuser Charité und Vivantes.
       
       Ende August sind die in der Gewerkschaft Verdi organisierten Beschäftigten
       der 13 Krankenhäuser der kommunalen Betreiber [2][in den Arbeitskampf
       eingetreten]. Gemeinsam stellen alle Vivantes- und Charité-Standorte über
       40 Prozent der Berliner Klinikbetten. Pflegende und andere Mitarbeitende
       wie Reinigungskräfte oder Physiotherapeut:innen sind frustriert, weil
       sie in der Pandemie zwar beklatscht, aber nicht entlastet wurden.
       
       Wohl auch deshalb führen die Klinikbeschäftigten ihren Arbeitskampf nun
       derart energisch: Sie demonstrieren, schreiben Petitionen und sprechen mit
       Politiker:innen. Auf Protestveranstaltungen berichten Beschäftigte in
       emotionalen Beiträgen, wie der konstante Personalmangel Patient:innen
       gefährde, etwa, wenn sich eine Hebamme um drei Gebärende gleichzeitig
       kümmern müsse.
       
       Das Klinikpersonal bricht damit auch aus einer Defensive aus, in der sich
       die Beschäftigten des Gesundheitssektors lange befanden. Während der
       rigorosen Sparpolitik der 2000er Jahre erlebten sie Lohnkürzungen,
       Privatisierungen und das Auslagern ihrer Arbeit auf formal externe
       Dienstleister – so genanntes Outsourcing – zu meist schlechteren
       Bedingungen.
       
       „Es hieß ja immer: Die Pflege kann nicht streiken“, erinnert sich Heise. Da
       Patient:innen versorgt werden müssen, könne Klinikpersonal nicht
       einfach so die Arbeit niederlegen, habe es geheißen. Erste Streikversuche
       an der Charité gab es bereits 2006 und 2011. Doch diese seien „einfach
       verpufft“, so Heise.
       
       Die Trendwende kam 2015, als Charité-Beschäftigte für den Tarifvertrag
       Gesundheitsschutz (TV-G) stritten. Dieser sollte bundesweit erstmals
       Mindestpersonalschlüssel für jede Krankenhausstation definieren, um den
       konstanten Unterbesetzungen zu begegnen. Dies sei „eine ganz andere Art von
       Streik“ gewesen, erinnert sich die Pflegerin: „Es wurde vorher abgefragt,
       wie viele Kolleg:innen streiken werden. Diese Zahlen haben wir dann
       gemeldet. So haben die Kliniken genug Zeit bekommen, die Stationen auch zu
       räumen.“.
       
       Die Klinikleitungen mussten alle aus medizinischer Sicht verschiebbaren
       Behandlungen und Operationen aufschieben, nicht dringende Fälle wurden
       nicht mehr aufgenommen. Das drückt die Einnahmen. Das Resultat: Nach elf
       Tagen hatten die Beschäftigten gewonnen, zwischenzeitlich war jedes dritte
       Bett leergestreikt worden. Und wie nebenbei hatten die Beschäftigten auch
       noch den Arbeitskampf im Krankenhaus wiederbelebt.
       
       Zwar sei der Tarifvertrag Gesundheitsschutz „ins Leere gelaufen“: Die
       Gewerkschaft habe damals schlicht vergessen, Konsequenzen für den Fall
       festzulegen, dass vereinbarte Personalbesetzungen unterschritten würden, so
       Heise.
       
       Doch der Streikerfolg der Berliner Krankenhausbeschäftigten habe „eine
       Kette von Tarifkämpfen in ganz Deutschland“ losgetreten. Die Idee, sich per
       Tarifvertrag von den permanenten Unterbesetzungen zu entlasten, habe sich
       wie ein Lauffeuer verbreitet. Seit 2015 haben bundesweit 17 Krankenhäuser
       ähnliche Tarifverträge verabschiedet. „Das war auch ein Lernprozess. In
       jedem dieser Verträge wurden Schlupflöcher, die wir offen gelassen haben,
       gestopft.“
       
       Ein solcher Tarifvertrag – ein Tarifvertrag Entlastung (TV-E) – ist heute
       eine der zwei zentralen Forderungen der Berliner Krankenhausbewegung. Darin
       würde definiert, wie viel Personal für eine menschenwürdige Pflege auf
       jeder Station nötig ist. Unterbesetzungen würden durch ein Dienstprogramm
       automatisch erfasst. Müssten Pflegende in Unterbesetzung arbeiten, bekämen
       sie einen „Belastungsausgleich“ in Form von Freizeit oder Geld. Um den
       Druck auf die Klinikleitungen zu erhöhen, mehr Personal einzustellen, würde
       dieser Belastungsausgleich zudem schrittweise erhöht werden.
       
       ## Problem Outsourcing
       
       Die zweite zentrale Forderung der Bewegung lautet „TvöD für alle“.
       Hintergrund ist das Outsourcing in Tochterunternehmen, mit dem Vivantes und
       Charité eine Bezahlung gemäß dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes
       (TvöD) umgehen, nach dem das Personal der landeseigenen Klinikbetriebe
       bezahlt wird. Nur Beschäftigte der ausgegliederten Firmen, die noch
       Verträge aus der Zeit vor der Auslagerung besitzen, werden weiterhin nach
       TvöD bezahlt. Laut der Krankenhausbewegung entstehen so Lohnunterschiede
       von teils über 900 Euro monatlich.
       
       [3][Im Fall von Vivantes] ist Outsourcing wohl sogar ein zentraler
       Gründungsgedanke des Klinikkonzerns. Unmittelbar nachdem 2001 zehn vormals
       bezirkliche und städtische Krankenhäuser in der Vivantes – Netzwerk für
       Gesundheit GmbH zusammengefasst wurden, lagerte der Konzern
       Speiseversorgung, Physiotherapie und weitere Bereiche aus. In der
       Konzernchronik heißt es dazu nicht ohne Stolz: „2005 hat das Unternehmen
       rund 150 Millionen Euro Personalkosten weniger als im Gründungsjahr.“ Die
       Charité fasste 2006 alle „nichtmedizinischen Dienstleistungen“ in der
       Charité Facility Management (CFM) zusammen.
       
       Doch auch hier konnten die Beschäftigten bereits [4][Streikerfolge
       erringen]. 2020 wurden nach mehrjährigen Kämpfen die Therapeut:innen in
       den Vivantes-Mutterkonzern zurückgeführt. Anfang dieses Jahres wurde der
       jahrelange Tarifstreit in der Charité-Tochter CFM mit dem Resultat gelöst,
       dass der Lohn der Beschäftigten in den nächsten Jahren an das TvöD-Niveau
       angepasst werden soll. Seit 2016 strebt auch die rot-rot-grüne Koalition
       offiziell an, Outsourcing zu unterbinden und die Bezahlung in den
       Tochterunternehmen an den Tarifvertrag anzunähern.
       
       Doch gegen die Forderungen der Beschäftigten, die seit dem 20. August
       offiziell in den Arbeitskampf getreten sind, wehren sich Charité und
       Vivantes derzeit auf ganzer Linie.
       
       Am 20. August war ein 100-Tage-Ultimatum der Krankenhausbewegung
       ausgelaufen, ohne dass Politik oder Klinikleitungen näher auf die
       Forderungen eingegangen wären. Zuletzt hatte Vivantes sogar versucht, die
       nach Ablauf des Ultimatums angekündigten Streiks durch einstweilige
       Verfügungen zu verbieten.
       
       Insbesondere Vivantes lehnte inhaltliche Verhandlungen zum
       Entlastungsvertrag lange kategorisch ab. Die Charité legte zwar ein Angebot
       vor, doch laut Gewerkschaft hätte dieses die Lage der Beschäftigten teils
       weiter verschlechtert. Auch die Verhandlungen zur Tarifzahlung in den
       Tochterunternehmen scheiterten zunächst. Verdi hat deshalb am 30. August
       eine Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf angekündigt, am
       kommenden Montag soll das Ergebnis verkündet werden. Erst nach dieser
       Ankündigung zeigten sich Vivantes und Charité erstmals offener gegenüber
       konkreten Tarifverhandlungen, doch zu Ergebnissen kam es bisher nicht.
       
       Die Klinikleitungen argumentieren, die Forderungen der Krankenhausbewegung
       kämen zu teuer. Laut Johannes Danckert, kommissarischer Vorsitzender der
       Vivantes-Geschäftsführung, würde allein der Entlastungsvertrag „zusätzliche
       Belastungen in Höhe von 25 bis 45 Millionen Euro pro Jahr“ mit sich
       bringen. Doch wie würden diese entstehen?
       
       Eigentlich werden die Personalkosten eines Krankenhauses in Deutschland von
       den Krankenkassen übernommen. Seit Verabschiedung des
       Pflegepersonalstärkungsgesetzes 2019 kann jede zusätzliche Stelle in der
       Pflege direkt refinanziert werden, weshalb neue Pflegestellen für
       Krankenhäuser im Grunde kostenlos sind.
       
       Laut Vivantes entstehen die Mehrkosten durch den gravierenden
       Personalmangel in der Pflege. Da neues Personal schwer zu finden sei,
       müssten zunächst Betten gesperrt werden, da nicht alle Stationen
       ausreichend besetzt werden könnten. Allein in den neun Berliner
       Vivantes-Kliniken wären dies laut Leitung 360 bis 750 Betten – wodurch es
       zu einer „Einschränkung der Versorgungskapazitäten“ käme. Durch eine
       Bezahlung nach TvöD für alle Beschäftigten der Tochterunternehmen kämen
       zusätzliche Kosten von 35 Millionen Euro hinzu. Dies sei nicht
       finanzierbar, so der Klinikkonzern.
       
       Doch könnte Berlin nicht einfach mehr Geld zur Verfügung stellen? Immerhin
       geht es um landeseigene Betriebe – und die Gesundheitsversorgung der
       Bürger:innen. Auch Danckert sagt: „Um die Versorgung nachhaltig
       sicherzustellen, benötigen wir als kommunales Krankenhausunternehmen eine
       angemessene finanzielle Ausstattung. Das betrifft sowohl das allgemeine
       Vergütungssystem für Krankenhäuser als auch die Investitionsmittel durch
       das Land Berlin.“
       
       Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) – in dieser Funktion auch Vorsitzender
       des Vivantes-Aufsichtsrats und Mitglied im Aufsichtsrat der Charité –
       erklärte aber Mitte August auf taz-Nachfrage, „staatliche Zuschüsse für
       Defizite, die für Personalaufwendungen im laufenden Betrieb entstehen“,
       seien „nicht zulässig“. Wettbewerber würden dagegen klagen.
       
       ## Duale Finanzierung
       
       Hintergrund ist, dass das deutsche Gesundheitssystem eine duale
       Krankenhausfinanzierung vorsieht: Die Krankenkassen übernehmen alle
       Behandlungs- und die Personalkosten eines Krankenhauses. Die Bundesländer
       sollen dagegen nur die Investitionen finanzieren, also etwa die Anschaffung
       technischer Geräte. Wenn Kollatz sagt, dass Berlin nicht einfach Geld für
       gestiegene Personalkosten dazuschießen könne, hat er also einerseits recht.
       
       Andererseits hat Berlin über Jahre viel zu wenig Geld in die Investitionen
       seiner Kliniken gesteckt. So sei eine „Riesen-Investitionslücke“ entstanden
       sei, erklärt Heise: „Diese Lücke müssen die Kliniken schließen.“ Deshalb
       nutzten sie Gelder der Krankenkassen, die eigentlich für Personal und
       Behandlungen gedacht sind, um Investitionen zu tätigen.
       
       Das ist kein Geheimnis: Vivantes gibt jährlich im Geschäftsbericht an, wie
       viele Investitionen aus sogenannten Eigenmitteln stammen – eine andere
       Bezeichnung für die Gelder der Krankenkassen für Pflege und Personal. 2018
       waren das 77 Millionen, 2019 127,5 Millionen Euro.
       
       Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin fordert in ihrem Koalitionsvertrag
       eine „Trendwende in der Krankenhausfinanzierung“ – und erhöhte die
       Investitionen auch deutlich: zwischen 2018 und 2021 von 140 Millionen auf
       235 Millionen Euro jährlich. Laut der Krankenhausgesellschaft, einer
       Vereinigung der Berliner Krankenhausträger, sind aber jährliche
       Investitionen von 350 Millionen Euro nötig.
       
       Kalle Kunkel, langjähriger Gewerkschaftssekretär, engagiert sich heute im
       [5][Bündnis „Gesundheit statt Profite“] gegen die Ökonomisierung des
       Gesundheitswesens. Er kritisiert, dass viele der Investitionen Kredite
       seien: „Das Land müsste das derzeitige Investitionsniveau für zehn Jahre
       aufrechterhalten, um die Defizite auszugleichen. Das geht nicht, wenn jedes
       Jahr mehr Geld in die Rückzahlung von Krediten fließen muss“, sagt er. Dann
       sei völlig klar, dass den Kliniken Geld für mehr Personal fehle, da sie ja
       noch nicht einmal alle Gelder der Krankenkassen, die für Personal gedacht
       sind, auch für diesen Zweck aufwenden könnten.
       
       ## „Rettet die Medizin“
       
       Kunkel, Heise und die Berliner Krankenhausbewegung betrachten die Sache
       aber noch grundsätzlicher: Für sie hängen die Missstände mit der
       marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens zusammen. Die
       Pfleger:innen stehen damit nicht allein: 2019 veröffentlichte der
       [6][Stern den Appell „Rettet die Medizin“], in dem sich 215 Ärzt:innen
       ebenfalls gegen die Profitorientierung im Gesundheitssektor wandten. Rechne
       man die Mitgliedszahlen aller Verbände zusammen, die noch in den folgenden
       Monaten unterschrieben hätten, so der Stern später, unterstützten über
       130.000 Mediziner:innen den Aufruf – fast ein Drittel der deutschen
       Mediziner:innen.
       
       Profite lassen sich im Gesundheitssektor scheinbar einige erzielen. So
       erwirtschaftete der private [7][Klinikkonzern Fresenius im Pandemiejahr
       2020 laut Geschäftsbericht] einen Gewinn von rund 1,7 Milliarden Euro. Der
       Haushalt der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und
       Gleichstellung betrug 2019 nur etwa 259 Millionen. Zwar müssen Charité
       und Vivantes als kommunale Krankenhäuser keinen Gewinn erzielen.
       Wirtschaftlich handeln und die schwarze Null halten sollen sie aber doch.
       
       Lange, sagt Kunkel, sei das bundesdeutsche Gesundheitssystem unökonomisch
       organisiert gewesen. So sei in den 1970er Jahren – für Kunkel das
       „Zeitalter echter Krankenhausplanung“ – ein „System der
       Selbstkostendeckelung“ in Kraft gewesen. Damals habe jede Klinik mit den
       Krankenkassen ein Jahresbudget ausgehandelt, das in Tagessätzen für die
       Behandlung jede:r Patient:in ausgezahlt worden sei. Am Jahresende wurde
       Kassensturz gemacht: „Hatte das Krankenhaus Gewinn gemacht, musste es diese
       abgeben, gab es Verluste, konnten diese nachgefordert werden“, erklärt
       Kunkel. Profitmacherei war verboten.
       
       Dann kamen die 1980er Jahre. Die ersten größeren Wirtschaftskrisen der
       Nachkriegszeit erschütterten die Bundesrepublik. In diesem Kontext habe
       [8][die schwarz-gelbe Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl] (CDU) „die
       geistig-moralische Wende hin zum Neoliberalismus“ vorangetrieben.
       „Gesprochen wurde damals viel über eine Kostenexplosion, hervorgerufen
       durch die stetig fortschreitende technische Entwicklung und die Ansprüche
       der Patient:innen“, sagt Kunkel.
       
       Doch diese Kostenexplosion habe es nie gegeben. Sie sei eine „ideologisch
       motivierte Finte“ der Kohl-Regierung gewesen, die Krankenhäuser für
       Profitorientierung zu öffnen. Nur so könne die Effizienz in der
       Gesundheitsversorgung gesteigert werden, habe es damals geheißen, sagt
       Kunkel.
       
       In den folgenden Jahren sei das unökonomisch organisierte Gesundheitssystem
       untergraben worden. So wurde etwa 1985 das Gewinnverbot der Krankenhäuser
       gekippt: „Damit änderte sich die Logik des Systems“, da die Krankenhäuser
       überschüssige Tagessätze nicht mehr zurückzahlen mussten. Gabi Heise kann
       das bestätigen. Da seien Patient:innen „auch mal übers Wochenende
       dabehalten“ worden, erzählt die Pflegerin. Für Kunkel war dies eine
       entscheidende Zäsur: Da eine längere Behandlungszeit plötzlich mehr Geld
       bedeutete, seien nicht-medizinische Aspekte in die Behandlung eines
       Menschen eingeflossen.
       
       Doch wer zur Ökonomisierung des Gesundheitssystems recherchiert, stolpert
       vor allem über einen Begriff: diagnosebezogene Fallpauschalen, auf Englisch
       „diagnoses related groups“, kurz: [9][das DRG-System]. Für dieses ist die –
       für ihre neoliberalen Reformen berüchtigte – rot-grüne Koalition unter
       Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verantwortlich. „Im DRG-System bekommen die
       Krankenhäuser für jede Behandlung einer bestimmten Krankheit eine
       festgelegte Summe“, erklärt Heise. Im System wird der Behandlung jeder
       Krankheit ein bestimmter Preis zugeordnet, den die Krankenhäuser von den
       Krankenkassen erhalten. Außerdem fließen Faktoren wie Begleiterkrankungen
       oder Alter der Patient:innen in die Abrechnung ein.
       
       Die Kernidee des DRG-Systems ist, Krankenhäuser auf mehr Effizienz zu
       trimmen, was vor allem die schnellere Behandlung von Patient:innen
       bedeutet. Wie lange ein:e Patient:in tatsächlich braucht, um wieder
       gesund zu werden, findet keine Beachtung: Im DRG-System wird nur die
       durchschnittliche Behandlungszeit einer Diagnose bezahlt. Überschreiten
       die Krankenhäuser diese, machen sie Verluste.
       
       „Ein Chefarzt weiß ja über die wirtschaftliche Situation seiner Abteilung“,
       erklärt Kunkel. „Das Erste, was er auf einem Behandlungsbogen sieht, ist
       deshalb, ob der Patient noch im ökonomischen Bereich liegt. Sieht die
       [10][Fallpauschale] 3 bis 5 Tage Behandlung vor, muss der Patient auch nach
       5 Tagen entlassen sein.“
       
       ## „Blutige Entlassungen“
       
       Tatsächlich würden Patient:innen teilweise zu früh entlassen, sagt auch
       Heise. [11][„Blutige Entlassungen“] heißen vorzeitige Entlassungen aus rein
       wirtschaftlichen Gründen. „Aber wenn man Patient:innen früher
       rausschmeißt, wird die Arbeit einfach auf den nachstationären Bereich
       verlagert. Dann müssen Hausärzt:innen und vor allem auch die Angehörigen
       ran. Die bezahlt niemand“, sagt die Pflegerin.
       
       Umgekehrt gelte, so Kunkel: Bezahle das DRG-System eine Behandlung länger,
       als der:die Patient:in dies benötige, würde die Therapie auch mal in
       die Länge gezogen. „Der Patient wird so zur Ware“, fasst Heise zusammen.
       
       Konsequenzen habe das DRG-System aber nicht nur für Patient:innen, sondern
       auch für die Pflegekräfte. Denn lange seien auch Personalkosten im
       DRG-System einkalkuliert gewesen. „Das bedeutet: Wer die gleiche Anzahl
       Patient:innen mit weniger Personal behandelt, steigert seine Gewinne“,
       erklärt Heise: Klar, dass das zu Überlastung führe.
       
       Letzteres Problem könnte das [12][Pflegepersonalstärkungsgesetz]
       tatsächlich lösen, da durch dieses alle neuen Personalkosten direkt von den
       Krankenkassen refinanziert werden. „Die Krankenhäuser können also einfach
       mehr Personal einstellen, ohne dass sie das was kostet“, sagt Heise
       durchaus anerkennend. Und ergänzt: „Leider sind die Arbeitsbedingungen
       immer noch so beschissen, das ganz viele Menschen diesen Job nicht ausüben
       wollen.“ Das sei „schade“, denn „wenn man Zeit zum Pflegen hat“, sei die
       Pflege ein wunderschöner Beruf.
       
       Heise kann deshalb der Argumentation der Vivantes-Klinikleitung nichts
       abgewinnen, laut der der Entlastungstarifvertrag zu einer Einschränkung der
       Versorgungskapazitäten führen würde. Sie ist sich sicher: „Das bleibt nicht
       lange so.“ Denn der Fachkräftemangel liege primär an den miserablen
       Arbeits- und Ausbildungsbedingungen. Tatsächlich kam eine [13][Studie der
       Arbeitnehmerkammer Bremen], auf die sich auch die Krankenhausbewegung
       beruft, zu dem Schluss, dass die bundesweit fehlenden Pflegestellen
       ausgeglichen werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbesserten.
       
       In einer Verdi-Befragung von 300 Berliner Pflegeazubis konnte sich Anfang
       August [14][die Hälfte der Befragten] nicht oder eher nicht vorstellen,
       längerfristig in der Pflege zu arbeiten. 75 Prozent erklärten, der Beruf
       sei mit ihren Vorstellungen von Freizeit und Familie schwer vereinbar.
       
       Kunkel ist überzeugt, dass sich dies durch den Entlastungsvertrag ändern
       würde: „Mit dem Tarifvertrag Entlastung ändert sich die Logik des
       Gesundheitssystems“, sagt er. „Sind Personalstandards erst einmal
       festgelegt, können sich die Krankenhäuser nicht mehr gegenseitig
       herunterkonkurrieren.“ Er vermutet sogar: „Möglicherweise erleben wir
       bereits den Kollaps des DRG-Systems.“ Die entscheidende Frage lautete
       deshalb derzeit eigentlich: „Was kommt danach?“
       
       Konzepte gebe es genug. „Entscheidend“ sei eine Rückkehr zu einem
       Finanzierungsmodell, das sich an den tatsächlich entstandenen Kosten eines
       Krankenhauses orientiert. Im Gesundheitssystem sollten planerische
       gegenüber marktwirtschaftlichen Ansätzen wieder bevorzugt werden. Um das zu
       finanzieren, solle eine allgemeine Bürgerversicherung das bestehende System
       der Zwei-Klassen-Versicherungen ersetzen, so Kunkels Lösungsvorschläge.
       
       Und für die Pflegenden schlägt er das System „[15][bedarfsgerechte
       Personalmessung 2.0]“ vor, das 2020 von Verdi gemeinsam mit der Deutschen
       Krankenhausgesellschaft und dem Pflegerat entwickelt wurde. Im Kern geht es
       dabei darum, für jede:n Patient:in zu erfassen, wie viel Personal für
       gute Pflege nötig ist. So entsteht eine Personalbemessung, die die
       Krankenhäuser dann stellen müssten. Aktuell prüft das
       Bundesgesundheitsministerium die Umsetzung.
       
       4 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://berliner-krankenhausbewegung.de/
   DIR [2] /Es-darf-wieder-gestreikt-werden/!5791382
   DIR [3] /Arbeitskaempfe-in-Berlin/!5505224
   DIR [4] /Outsourcing-bei-der-Charite/!5407617
   DIR [5] https://gesundheitohneprofite.noblogs.org/
   DIR [6] https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern--rettet-die-medizin--8876008.html
   DIR [7] https://www.fresenius.de/media_library/Fresenius_Geschaeftsbericht_2020.pdf
   DIR [8] https://www.spiegel.de/politik/bluem-laesst-den-kleinen-mann-bluten-a-58530015-0002-0001-0000-000013492920
   DIR [9] https://flexikon.doccheck.com/de/DRG-System
   DIR [10] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/krankenhausfinanzierung.html
   DIR [11] https://www.aerzteblatt.de/archiv/55105/Anschlussheilbehandlung-Blutige-Entlassung-verlagert-Kosten-in-die-Reha
   DIR [12] https://www.pflege.de/pflegegesetz-pflegerecht/pflegepersonal-staerkungsgesetz/
   DIR [13] https://arbeitnehmerkammer.de/service/presse/pressemitteilungen/bremer-befragung-viele-pflegebeschaeftigte-wuerden-wieder-einsteigen.html
   DIR [14] /Aus-Azubis-koennen-streiken/!5788402
   DIR [15] https://gesundheit-soziales.verdi.de/themen/entlastung/++co++27e4ac2e-361f-11ea-9b55-525400940f89
       
       ## AUTOREN
       
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       Die Berliner Hebamme Denise Klein-Allermann kennt den Arbeitsalltag in
       kleinen und großen Kliniken. Sie wünscht sich mehr Zeit für die Frauen.
       
   DIR Pflegestreik erfolgreich: Durchbruch bei Vivantes
       
       Verdi und Vivantes haben sich auf ein Eckpunktepapier für einen
       Entlastungsvertrag geeinigt. Nun geht es um die Tochterunternehmen.
       
   DIR Kranke Familienmitglieder: Viele bereit zur Angehörigenpflege
       
       Ein Viertel der Jüngeren hat schon Verwandte gepflegt, zwei Drittel sind
       dazu bereit. Aber nur wenige nehmen Beratungs- und Unterstützungsangebote
       an.
       
   DIR Warnstreik an 28 Berliner Schulen: Streiken macht Schule in Berlin
       
       Die Pflegekräfte streiken schon für bessere Arbeit, jetzt fordern auch
       Lehrkräfte einen „Tarifvertrag Gesundheitsschutz“. Warnstreik am Mittwoch.
       
   DIR Arbeitskampf der Krankenhausbewegung: Keine Entlastung vom Streik
       
       Der Streik der Klinikbeschäftigten läuft auf Hochtouren: Etwa jedes siebte
       Krankenhausbett von Charité und Vivantes wird bestreikt.
       
   DIR Streik der Pflegenden in Berlin: Folgerichtig und sinnvoll
       
       Die Beschäftigten der landeseigenen Berliner Krankenhausbetriebe treten in
       den unbefristeten Streik. Und ihr Druck hat schon Wirkung gezeigt.
       
   DIR Streik der Krankenhausbeschäftigten: Unbefristeter Arbeitskampf kommt
       
       Am Donnerstag beginnt der Erzwingungsstreik der Berliner
       Krankenhausbeschäftigten. Sie wollen ihre Ziele in den nächsten zwei Wochen
       durchsetzen.
       
   DIR Pfleger*innen wollen streiken: „Wir können nicht mehr“
       
       Stella Merendino engagiert sich in der Berliner Krankenhausbewegung. Die
       Pflegerin erlebt täglich, was Überlastung bedeutet. Ein Gastbeitrag.
       
   DIR Berliner Krankenhausbewegung: Erfolgreiche Urabstimmung
       
       Die gewerkschaftlich organisierten Krankenhaus-Mitarbeitenden wollen es
       wissen: 98 Prozent stimmten in einer Urabstimmung für Streik.
       
   DIR Pflege-Anwälte im Interview: „Die Arbeitgeber können blockieren“
       
       Öffentliche Unternehmen kämpfen in Berlin heute mit denselben Mitteln wie
       private Firmen, so die Anwälte Daniel Weidmann und Benedikt Rüdesheim.
       
   DIR Berliner Krankenhausbewegung: Druck führt nicht zu Entlastung
       
       Die streikenden Pflegekräfte in Berlins landeseigenen Krankenhäusern stoßen
       auf Repression. Die Politik sieht zu.
       
   DIR Es darf wieder gestreikt werden: Der Kampf geht weiter!
       
       Vivantes muss vor dem Arbeitsgericht eine Niederlage einstecken. Die
       Vivantes-Beschäftigten dürfen ihren Warnstreik fortsetzen.
       
   DIR Arbeitskampf des Klinikpersonals: Vivantes bestreikt Rot-Rot-Grün
       
       Der verkorkste Beginn der Streiks bei den landeseigenen Kliniken zeigt: Auf
       Berlin kommt wohl ein mit allen Mitteln geführter Arbeitskampf zu.