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       # taz.de -- Aktivistin in der Politik: Vom Tagebau in den Bundestag
       
       > Vor Kurzem hat Kathrin Henneberger noch Kohlebagger besetzt, jetzt will
       > sie für die Grünen ins Parlament. Kann das funktionieren?
       
   IMG Bild: Tagebau Hambach, 2019: Luisa Neubauer, Greta Thunberg und Kathrin Henneberger (v. l.)
       
       aus dem Dannenröder Forst und Lützerath taz | Als Kathrin Henneberger am
       Abend hastig den Laptop aufklappt, klebt noch Matsch von der Tagebaukante
       an ihren Sandalen. Eben erst hat die Klimaaktivistin ein
       Mobilisierungsvideo fertig gedreht. Mit Luftaufnahmen per Drohne und
       Handkamera, aufgenommen von einem professionellen Kameramann.
       
       „Wir müssen das 1,5-Grad-Ziel einhalten und die Klimakrise stoppen“, hatte
       sie den Tag über immer und immer wieder in die Kamera gesagt. Zuerst
       freundlich, dann mit Nachdruck. So lange, bis Wut in ihrer Stimme zu hören
       war. „Wir brauchen mehr Emotion.“ Henneberger, 34 Jahre alt, ist lange
       genug in der Klimabewegung aktiv, um zu wissen, dass mit wissenschaftlichen
       Fakten allein kaum jemand zu überzeugen ist. Stattdessen hat sie die Macht
       von Bildern zu nutzen gelernt.
       
       Die Kulisse, die sie für das Video gewählt hat, könnte kaum
       symbolträchtiger sein: [1][der Tagebau Garzweiler im Rheinischen
       Braunkohlerevier]. Ein gigantisches Loch in der Erde, kaum mehr als 50
       Kilometer von Köln entfernt. Seit Jahrzehnten baut RWE hier Braunkohle ab.
       Mit 89 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß pro Jahr ist der Energiekonzern Europas
       größter CO2-Produzent.
       
       Geht es nach Henneberger, soll damit so schnell wie möglich Schluss sein.
       „Einfach mal abschalten“, sagt sie. Der aktuelle Plan sieht anders aus. Die
       Bundesregierung will erst 2038 komplett auf Kohle verzichten. „Viel zu
       spät“, sagt Henneberger. Auch deshalb müsse sie jetzt in den Bundestag. Als
       [2][Aktivistin bei Ende Gelände] hat Henneberger in den vergangenen Jahren
       die monströsen Kohlebagger von RWE in der Grube mitblockiert. Auch in
       Polizeigewahrsam sei sie dabei geraten, sagt sie und grinst. „Bestimmt eine
       Handvoll Male.“
       
       Zum Prozess gekommen sei es aber nie. Konkreter wird sie nicht. Aber ihr
       Lächeln verrät: RWE eins auswischen, das Leben im Klimacamp, das ist die
       Welt, in der sie zu Hause ist. Eine Aktivismusbubble, in der es viel
       Idealismus, aber kaum inhaltliche Kompromisse in puncto Klimaschutz gibt.
       
       Nun kandidiert sie bei der Bundestagswahl für die Grünen. Auf Listenplatz
       20 in NRW. Für Henneberger bedeutet das: raus aus ihrer Komfortzone und
       rein in eine Welt, in der machtpolitisches Kalkül und wirtschaftliche
       Interessen von Bedeutung sind. Wie sie sich in der Politik schlagen wird,
       falls ihr Plan gelingt, ist noch völlig offen.
       
       In Umfragen liegen die Grünen derzeit zwischen 16 und 20 Prozent. Gemessen
       daran ist Hennebergers Listenplatz sehr aussichtsreich. Was sie mitbringt,
       ist die Street-Credibility, die sie sich in vielen Jahren des Protests
       erarbeitet hat. Außerdem die Verankerung in der Klimabewegung, die es so in
       dieser Tiefe bei den Grünen nicht mehr so oft gibt.
       
       Henneberger könnte neue, jüngere Wähler:innen für die Grünen
       mobilisieren. Auf sie zielt auch das eben gedrehte Video ab. Die Partei
       profitiert von ihr. Aber wie viel wird sie von sich aufgeben müssen, um
       politisch erfolgreich zu sein? Und wie viele Kompromisse wird die Bewegung
       ihr verzeihen?
       
       Mit ihrer Kandidatur gehört Henneberger zu einer neuen Generation von
       Grünen, die ins Parlament drängen. Sie sind aktivistisch, meist zwischen
       zwanzig und Mitte dreißig und – wenn es gut läuft – auch 2070 noch am
       Leben. Wie dringlich die Klimafrage für diese Generation ist, hat kürzlich
       auch noch einmal der Bericht des Weltklimarats deutlich gemacht.
       
       Er sei erwartbar gewesen, sagt Henneberger, die seit Jahren auf
       internationalen Klimakonferenzen dabei ist. „Wir erleben ja seit Langem,
       dass Vorhersagen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, viel
       schneller eintreffen als gedacht.“
       
       Was sie in solchen Momenten empfinde, sei weder Trauer noch Verzweiflung.
       „Die Emotion, die ich habe, ist eiskalte Wut.“ Um sie zu kanalisieren,
       mache sie Politik.
       
       Henneberger sagt, sie wolle sich noch nicht mit konkreten Strategien
       befassen. Jetzt sei erst mal Wahlkampf angesagt. Es ist Mitte August, und
       sie wird gleich zum ersten Mal auf die Direktkandidat:innen der
       anderen Parteien treffen. Ihr Wahlkreis ist Mönchengladbach. Dazu gehören
       auch die Dörfer um den Tagebau.
       
       ## Zu Besuch in Lützerath
       
       Etwas außer Puste hat sie sich in Lützerath in einen abgewetzten Sessel
       auf die Terrasse gesetzt. Hinter ihr eine alte Villa, drumherum der Garten,
       ein veralgter Pool, hohes Gras. „Chill Zone“, steht auf einem selbst
       gemalten Schild. Aber Kathrin Henneberger kann nicht chillen. Sie muss
       gleich ins Netz, um dort online zu diskutieren.
       
       Die Terrasse, auf der Henneberger hektisch in ihren Mails nach dem
       Zugangslink sucht, befindet sich in einem Ort direkt an der Abbruchkante
       des Tagebaus Garzweiler. Geht es nach dem Konzern, soll das Dorf in diesem
       Jahr weichen. Das wollen die Klimaaktivist:innen verhindern und haben
       eine Mahnwache errichtet. Außen herum ist ein buntes Protestcamp gewachsen.
       Zelte, Wohnwagen, Baumhäuser. Lagerfeuer, Komposttoilette und Soliküche.
       
       Hier, in Lützerath, sagt Henneberger, sei mittlerweile ihr
       Lebensmittelpunkt. Den letzten Sommer habe sie hier im Zelt gewohnt.
       Mittlerweile hat sie in einer nahen Kleinstadt mit Bahnhof eine Wohnung. Um
       sich bei der „Lohnarbeit“ besser konzentrieren zu können und um mobiler zu
       sein, wie sie sagt. So oft sie kann, steige sie aber aufs Rad und fahre
       über die Feldwege nach Lützerath.
       
       Hastig stöpselt sie sich die Kopfhörer ins Ohr und schaltet die Kamera ein.
       Der Verein Mehr Demokratie e. V. hat die Direktkandidat:innen zu der
       Diskussionsrunde eingeladen. Es geht um Bürger:innenräte und darum, ob
       zufällig ausgeloste Bürger:innenversammlungen demokratische Prozesse
       bereichern können.
       
       „Ich will ein bisschen pöbeln“, sagt Henneberger. Aber als der Moderator
       sie bittet, die Einstiegsfrage zu beantworten, bricht gerade die
       Internetverbindung ab. „Mist“, sagt Henneberger genervt und läuft eilig ins
       Haus auf der Suche nach besserem Netz. Im Klimacamp ist das Internet
       instabil.
       
       Henneberger ist in der Umwelt- und Klimabewegung groß geworden. [3][2018
       und 2019 war sie eine der Pressesprecherinnen von Ende Gelände.] Das
       Bündnis hat seit 2015 zivilen Ungehorsam in den Braunkohlerevieren im
       Rheinland und in der Lausitz organisiert. Auch die Baumbesetzungen im
       Hambacher und Dannenröder Forst hat es unterstützt. Henneberger sagt, sie
       habe damals viel Zeit im Hambi verbracht. Im regenbogenfarbenen
       Einhornkostüm hat sie Bäume besetzt.
       
       Was die derzeit größte Gefahr für die Demokratie sei, will der Moderator
       wissen, als Henneberger wieder zugeschaltet ist. Die Kandidat:innen von
       CDU, SPD und FDP verweisen auf den zunehmenden Rechtspopulismus. Dann ist
       Henneberger an der Reihe. „Für mich sind der Einfluss der fossilen
       Industrie auf die Politik und die Kriminalisierung von
       Klimaaktivist:innen das größte Problem“, sagt sie. „Ebenso wie eine
       Politik, die weder auf die Forderungen der jungen Generation noch auf die
       Expertise der Wissenschaftler:innen in Bezug auf den Klimawandel
       hört.“
       
       Der Moderator bedankt sich höflich, Hennebergers Worte verhallen
       unkommentiert. Günter Krings, der Kandidat der CDU, parlamentarischer
       Staatssekretär im Bundesinnenministerium und seit 2002 Mitglied im
       Bundestag, lässt sich die gesamte Veranstaltung über nicht von ihr
       provozieren. Er wird das Thema Klimaschutz bis zum Ende kein einziges Mal
       erwähnen, obwohl sie immer wieder darauf zu sprechen kommt.
       
       „Das ist das Problem an Onlinepodien“, sagt Henneberger später. „Wenn man
       sich nicht gegenübersitzt, kann man nicht gut aufeinander reagieren.“ Dazu
       die technischen Probleme. Es entsteht kein Dialog. Henneberger sagt, an
       Diskussionen habe sie eigentlich Spaß. „Ich saß als Grüne Jugendsprecherin
       schon auf unglaublich vielen Podien und habe mich mit anderen Kandidaten
       oder Parteijugendvorsitzenden gezofft.“
       
       Durch Corona sei der Wahlkampf anders. „Lahmer“, sagt Henneberger. „Das
       empfinden wir alle so.“ Viele Podien seien gar nicht erst geplant worden,
       die klassischen Bratwursttermine auf Volksfesten oder in Einkaufspassagen
       fänden nicht statt. Die Folge ist, dass Henneberger bis dato kaum auf
       politische Kontrahent:innen gestoßen ist. Auch Wähler:innen, die es zu
       überzeugen gilt, hat sie bisher kaum gesprochen.
       
       Wahlkampfstände, sagt Henneberger, seien sowieso nicht so ihr Ding. „Wenn
       ich länger als eine halbe Stunde irgendwo stehen muss, schlafe ich ein.“
       Sie ziehe es vor, in Mönchengladbach Flyer zu verteilen. „Eine Erinnerung
       daran, zur Wahl zu gehen, mehr wollen die meisten Menschen nicht.“ Ihr
       Thema macht derzeit sowieso ganz von alleine PR. Welche Auswirkungen der
       Klimawandel haben kann, hat Anfang Juli die Flutkatastrophe in
       Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz deutlich gemacht, bei der mehr als
       180 Menschen ums Leben gekommen sind.
       
       „Eine andere Welt ist möglich“, ist Hennebergers Wahlkampfslogan. Ihr
       Plakat erinnert an die Plakate von [4][Hans-Christian Ströbele]. Bunt,
       gezeichnet, ein großer Regenbogen, ein Einhorn, das auf einem Kohlebagger
       tanzt. Baumhäuser, eine inklusive Gruppe Menschen mit Transparenten, die
       hinter ihr stehen. Ein Gegenentwurf zu den sonst üblichen Konterfeis.
       
       „Ich finde es total komisch, mein Foto überall hängen zu sehen“, sagt
       Henneberger. „So gezeichnet ist das gleich viel weniger cringe.“ Anders als
       bekannte Fridays-for-Future-Aktivist:innen ist Henneberger keine typische
       Influencerin. Instagram beherrscht sie mit knapp 1.500 Followern nicht
       besonders gut. Ihre Stärke ist das Netzwerken. Dass dann andere stärker im
       Vordergrund stehen, scheint sie nicht zu stören.
       
       Ströbele, sagt Henneberger, sei für sie eine Inspiration. „Er hat einfach
       immer stabile Politik gemacht.“ Von 2002 bis 2013 holte er als einziger
       Bundestagsabgeordneter der Grünen in vier Wahlen in Folge das Direktmandat.
       
       In den Jahren der rot-grünen Bundesregierung war er einer der härtesten
       parteiinternen Kritiker von Joschka Fischers Außenpolitik. „Ströbele wählen
       heißt Fischer quälen“, lautete 2002 sein Wahlkampfslogan. Verhindern konnte
       er die Zustimmung seiner Partei zu den Kriegseinsätzen der Nato im Kosovo
       und der Bundeswehr in Afghanistan letztlich nicht. Wird das auch
       Hennebergers Rolle sein? Viel mahnen, aber nicht gestalten? Ein
       aktivistisches Feigenblatt für grüne Realpolitik?
       
       Henneberger lacht die Frage erst weg. Dann wählt sie ihre Worte mit
       Bedacht. „Ich komme aus einer ganz anderen Generation, aus einer ganz
       anderen Bewegung und aus einem ganz anderen Struggle als Christian
       Ströbele“, sagt sie. „Und für die Rolle als Feigenblatt bin ich wirklich
       viel zu unbequem.“
       
       Hennebergers Biografie ist durch und durch politisch. Aufgewachsen ist sie
       in der Kölner Südstadt, „im Schatten der Ölraffinerien von Shell“, wie sie
       erzählt, in einem Haushalt ohne Fernseher, mit einer älteren Schwester, die
       sich als Wissenschaftlerin mit der Klimakrise befasst. Der Vater war
       Restaurator, die Mutter Kunsthistorikerin. „Linksgrün versiffte
       Gutmenschen“, sagt Henneberger und grinst. Mit 13 schloss sie sich einer
       Kölner Jugendgruppe von Greenpeace an. Dort habe sie gelernt, Kampagnen und
       Proteste zu organisieren.
       
       Mit 15 trat sie der Grünen Jugend in Köln bei. „Hier durfte ich sein, wer
       ich bin“, sagt sie, „eine queere Teenagerin, die die Rahmenbedingungen
       ändern will.“ 2007 wurde sie in den Bundesvorstand der Grünen Jugend
       gewählt. 2008 war sie dessen Sprecherin. Zu einer Zeit, als die Grünen für
       Hartz IV stimmten, für eine Beteiligung am US-amerikanischen „war on
       terrorism“ in Afghanistan und einen Kompromiss beim Ausstieg aus der
       Atompolitik, der von vielen in der Klimabewegung heftig kritisiert wurde.
       
       2009 trat Henneberger dann nicht mehr an. „Ich hatte damals das Gefühl,
       dass ich in der Politik in Sachen Klimaschutz nicht viel erreichen kann,
       auch weil es keine starke Bewegung gab“, sagt sie heute. Sie kehrte der
       Parteipolitik den Rücken und radikalisierte sich.
       
       Im selben Jahr mobilisierte sie für die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen.
       Dort habe sie den Glauben daran verloren, dass Politiker:innen
       vernünftig handeln. Während viele die noch junge Klimabewegung verließen,
       habe sie gedacht: „Okay, Leute. Strategiewechsel.“
       
       Dieser Strategiewechsel war Ende Gelände. Gezielter ziviler Ungehorsam mit
       klarem Fokus auf ein Thema, medienwirksam inszeniert. „Die Bilder, die wir
       hier produziert haben, Tausende in der Kohlengrube, die gingen um die
       Welt“, sagt Henneberger. Es sei dem Bündnis zu verdanken, dass Kohlekraft
       in der Klimadebatte mittlerweile problematisiert werde. Ganz bewusst lobt
       sie sich nicht allein, sondern nennt sich Teil des Kollektivs. Sie braucht
       den Rückhalt aus der Bewegung, die Kraft der Straße, wenn sie im Parlament
       etwas erreichen will.
       
       Jetzt also wieder ein Strategiewechsel: zurück in die Politik. Statt
       Stimmung zu machen, will sie jetzt um Stimmen kämpfen. Diesmal sei es
       weniger Frust, der sie antreibt, sagt Henneberger. Vielmehr sei der Wechsel
       in die Politik der nächste logische Schritt. „Die Bewegung ist stark, wir
       haben die Fridays, die einfach nur rocken, mich braucht es hier nicht
       mehr“, sagt sie. „Was jetzt fehlt, sind Menschen in den Parlamenten, die
       sich von der Bewegung pushen lassen und versuchen, stabil für deren Ziele
       zu kämpfen.“
       
       In der Partei sei ihre Kandidatur nicht allen recht. Namen nennen will sie
       nicht. Nur so viel: Einzelne hielten sie wohl für zu emotional. Wieder
       lacht sie. Viele Grüne fremdeln mit der radikalen Klimabewegung. Ebenso wie
       die Klimabewegung mit der Partei. Grund dafür ist auch [5][die Rodung im
       Dannenröder Forst.] In der schwarz-grünen Koalition agierten die hessischen
       Grünen machtpolitisch und regelkonform. Der umstrittene Ausbau der A49 ist
       im Koalitionsvertrag verankert. [6][Der grüne Verkehrsminister Tarek
       Al-Wazir beharrte darauf.]
       
       In der Klimabewegung sehen viele die Grünen deshalb als Verräter. Eine
       Aktivistin, die aus der Bewegung zu den Grünen wechselt, hat womöglich
       keinen leichten Stand. Auch auf diese Diskussion lässt Henneberger sich
       nicht ein. Spaltungen? Gibt es in ihrem Universum offiziell nicht. Der
       Eindruck, den sie vermitteln will, ist der von Schulterschluss und
       Solidarität. „Sweet“ ist ein Wort, das sie häufig verwendet, egal ob sie
       von der Bewegung oder von ihren Parteikolleg:innen spricht. „Alle ganz
       sweet.“
       
       Anderntags am Telefon mit einem von Hennebergers Parteikollegen hört sich
       das anders an. „Der Dannenröder Wald ist die Geschichte eines abgebrochenen
       Dialogs“, sagt Sven Lehmann. Er wolle die hessischen Grünen nicht nur
       verteidigen, fügt er an. „Die haben ihren Anteil daran.“ Aber es sei auch
       schwierig, den Dialog aufrechtzuerhalten, wenn man als Abgeordneter
       beschimpft wird, weil es in den Verhandlungen nur für einen Kompromiss
       gereicht habe.
       
       Lehmann ist sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag und kennt
       Henneberger noch von der Arbeit bei der Grünen Jugend in Köln. Er sagt, an
       ihrer Person werde deutlich, wie wichtig eine glaubwürdige und effektive
       Brücke sei, die zwischen Politik und Bewegung kommuniziere. Dass der Dialog
       zwischen Bewegung und Grünen 2018 im Hambacher Wald nicht abgebrochen sei,
       habe auch mit ihr zu tun.
       
       Mehrfach sei er, ebenso wie andere Politiker:innen, als parlamentarischer
       Beobachter mit Henneberger im Wald gewesen. „Sie hat uns immer wieder
       eingeladen, mit Aktivist:innen bekannt gemacht und dafür gesorgt, dass
       wir uns für deren Anliegen einsetzten.“ Das habe nicht nur bei ihm
       funktioniert.
       
       Wie Henneberger ihre Rolle als Politikerin versteht, lässt sich an einem
       kalten Morgen Anfang Dezember beobachten, zehn Monate vor der
       Bundestagswahl. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Die Temperatur liegt
       unter null. Eine Gruppe von 15 Menschen wartet zu Beginn eines verschneiten
       Feldwegs in der Dunkelheit, dick eingepackt in mehrere Schichten
       Wintersachen. Ihr Atem gefriert in den dünnen Lichtkegeln der Stirnlampen.
       
       ## Zu Besuch im Dannenröder Forst
       
       Der Feldweg führt hinein in den [7][Dannenröder Forst], zu den
       Baumhausdörfern der Klimaaktivist:innen, die die Rodung des Waldes und den
       umstrittenen Ausbau der A 49 zwischen Kassel und Gießen verhindern wollen.
       Oder zu dem, was Anfang Dezember noch davon übrig ist.
       
       Die Menschen, die hier am Waldrand warten, sind keine Baumbesetzer:innen.
       Sie sind – wenn man so will – Teil der klima- und umweltaktivistischen
       Prominenz, Menschen mit Reichweite auf Social Media und darüber hinaus.
       Fridays-for-Future-Sprecherin Luisa Neubauer ist dabei, Autor Peter
       Wohlleben, die Vorstände von Greenpeace, Campact, BUND und Germanwatch.
       Fast alle sind zum ersten Mal im „Danni“. Eine Räumung durch die Polizei,
       wie sie zu erwarten ist, haben die wenigsten schon mal mitgemacht.
       
       Die Unterhaltungen sind gedämpft, als Kathrin Henneberger dazustößt.
       Hennarotes Haar, eisblaue Augen. Eine blaue, selbst gestrickte Wollmütze.
       Wegen Corona eine Stoffmaske mit Einhörnern drauf. Kurz sucht ihr Blick
       nach dem Gesicht von Luisa Neubauer. Unter Mütze, Kapuze, Maske und Schal
       ist es kaum auszumachen. Ein paar geflüsterte Worte. Dann formt die Gruppe
       einen Kreis. „Ich bin Katze“, sagt Henneberger und lächelt verschwörerisch
       in die Runde. „Ich mache hier manchmal so lustige Dinge im Wald.“
       
       Wenig später folgt die Gruppe dem roten Licht ihrer Stirnlampe. Henneberger
       hat den action part des Ausflugs organisiert. „Freunde zusammenführen“,
       nennt sie das. Dabei ist dieser Besuch sehr genau kalkuliert. Auch eine
       Presseerklärung ist geplant.
       
       „Kathrin ist gut vernetzt und hat einen Blick für den richtigen Move im
       richtigen Moment“, sagt Ruben Neugebauer Monate später via Zoom. Neugebauer
       hat Sea-Watch mitgegründet und ist Sprecher der NGO. Er war außerdem
       Hennebergers Mitbewohner in ihrer 6er-WG in Berlin-Neukölln, in der sie für
       Hauptstadtbesuche nach wie vor ein Bett im unbeheizten Wintergarten stehen
       hat.
       
       Henneberger habe eingefädelt, dass FFF-Sprecherin Luisa Neubauer und
       Seenotrettungskapitänin Carola Rackete zusammen einen Gastbeitrag für den
       Spiegel verfassten, sagt Neugebauer. Außerdem habe sie Greta Thunberg im
       August 2019 in den Hambi geholt. Luisa Neubauer bestätigt das: „Kathrin
       schrieb mir damals: ‚Kannst du nicht mal Greta in den Hambi einladen?‘ Ich
       war so: ‚Kathrin, please!‘ Aber als ich mit Greta beim Frühstück saß, habe
       ich sie gefragt: ‚Greta, the people from the Hambach Forest are inviting
       you.‘ Gretas Antwort: ‚Great! Let’s go.‘ “
       
       „Das war für die Klimabewegung wahnsinnig wichtig“, sagt Neugebauer. „Damit
       hat Kathrin die Reihen der radikalen Teile und Fridays for Future
       solidarisch geschlossen.“ Die Bild titelte am nächsten Tag: „Greta Thunberg
       im Hambacher Forst: Vermummte führt Klima-Kids durch besetzten Wald“.
       Gretas Besuch im Hambi machte klar, dass sich die Klimabewegung nicht
       spalten lässt.
       
       Pyrotechnik, Gewaltbereitschaft, Landfriedensbruch. Derartige Vorwürfe von
       konservativer Seite ist Henneberger als ehemalige Ende-Gelände-Sprecherin
       gewohnt. Sie rollt mit den Augen, wenn sie dazu befragt wird. „Das sind
       Versuche, die Bewegung zu kriminalisieren, um nicht über Inhalte sprechen
       zu müssen.“ Henneberger lässt sich davon nicht beirren. Ruft
       Journalist:innen vor großen Ereignissen persönlich an. Ist erreichbar,
       teilt Infos, vermittelt Protagonist:innen.
       
       Luisa Neubauer sagt, sie habe Henneberger zum ersten Mal auf der
       RWE-Hauptversammlung im Mai 2019 wahrgenommen. Henneberger war der
       Einladung der Kritischen Aktionäre gefolgt.
       
       Vier Minuten lang rechnete sie dort mit dem Energiekonzern ab. „Eure
       Verantwortungslosigkeit werden wir euch nicht mehr durchgehen lassen“, rief
       sie ins Mikrofon, während das Raunen im Saal immer lauter wurde. „Ich kann
       nicht tatenlos zusehen, wie ihr zerstört, und deswegen stelle ich mich
       zusammen mit Tausenden anderen vor eure Kohlebagger und stoppe sie. Wir
       sehen uns in der Grube!“ Seitdem hat sie bei RWE Hausverbot.
       
       Innerhalb der Klimabewegung gibt es aber auch Stimmen, die ihren Aktivismus
       bei Ende Gelände kritisch sehen. Henneberger sei schon immer mehr
       Parteipolitikerin gewesen, sagt eine Person, die sie aus ihrer Zeit bei dem
       Bündnis kennt. Das habe mit Klimagruppen im Rheinland immer wieder zu
       Konflikten geführt. Ins Detail gehen will die Person nicht. Die Solidarität
       überwiegt auch hier. Aber sie sagt, Henneberger habe sehr genaue
       Vorstellungen, die sie durchsetzen wolle, und das passe oft nicht zur
       kollektivistischen Bewegungsarbeit. Gebe es keinen Konsens, arbeite sie
       einfach alleine weiter daran.
       
       Um halb acht erreicht die von ihr angeführte Gruppe das verschneite Camp im
       Dannenröder Wald. Im Morgenlicht ragen die noch verbliebenen Bäume in den
       Himmel. Die letzten vier Baumhäuser hängen verloren in den Wipfeln. Weiter
       unten haben sich Aktivist:innen mit Klettergurten und Seilen an die
       Stämme geschnallt. Eine halbe Stunde später kommt die Polizei. Eine
       Hundertschaft in schwarzen Uniformen und weißen Helmen umstellt zügig das
       mit Brettern und Müll verbarrikadierte Camp. Im Baum kräht jemand die
       Titelmelodie von „Star Wars“ in ein Megafon. Der Kampf beginnt.
       
       Die Besucher:innengruppe um Henneberger kniet sich noch schnell für
       ein paar gute Bilder in den Matsch. Dann rettet sie sich auf ein Podest, um
       abzuwarten, was passiert. Als Luisa Neubauer von einem Aktivisten
       aufgefordert wird, symbolisch ebenfalls einen Baum zu besetzen, nimmt
       Henneberger sie in Schutz. „Lass dir nichts einreden“, sagt sie. „Jeder
       soll machen, wonach er sich fühlt.“
       
       Ihre Verwurzelung in der radikalen Klimabewegung mache einzelne Grüne
       nervös, sagt Henneberger. Befürchtet werde ein Joschka-Fischer-Moment, eine
       öffentliche Debatte zu ihrer Vergangenheit, in der die Legitimation von
       Gewalt zum Thema werde. Das bestätigt auch die NRW-Landesvorsitzende der
       Grünen, Mona Neubaur. „Dieser Bundestagswahlkampf ist ein Lagerwahlkampf:
       Alle politischen Mitbewerber gegen die Grünen“, sagt sie am Telefon.
       „Natürlich ist es da wichtig, gut vorbereitet zu sein.“ Sie stehe
       diesbezüglich mit Henneberger im Austausch.
       
       „Für uns Grüne ist vollkommen klar, dass wir Straftaten nicht als Mittel
       zur Durchsetzung politischen Willens sehen“, sagt Neubaur. Henneberger
       sagt, sie mache sich keine Sorgen. „Ich bin schon sehr viel geschubst
       worden von der Polizei, und vermutlich könnte es eine mehrstündige Doku
       darüber geben, wie ich mit der Polizei diskutiere, aber was Krasseres habe
       ich nie gemacht.“
       
       Den Listenplatz in NRW habe sie sich hart erarbeiten müssen, sagt
       Henneberger. „So sehr wie um diesen Platz habe ich noch nie gekämpft.“
       Eigentlich habe sie auf einen besseren gehofft. So sei es mit den
       Kreisverbänden abgesprochen gewesen. Als dann andere weibliche
       Kandidatinnen nach vorne drängten, wich sie auf einen der „offenen Plätze“
       aus. Bis zum Schluss habe sie mit einer männlichen Gegenkandidatur rechnen
       müssen. Doch sie habe Druck gemacht. Am Ende sei der Mann nicht gegen sie
       angetreten.
       
       Henneberger sagt, sie wolle vor der Wahl weder über Koalitionen noch über
       mögliche Kompromisse spekulieren, aber ihre präferierte Konstellation sei
       „eine progressive, linke Koalition“. Will heißen Rot-Rot-Grün. „Man sagt
       immer: Damit kann man die progressivste Politik machen, aber mit
       Wagenknecht und der SPD wird das trotzdem nicht leicht.“
       
       Armin Laschets Politik, die sie aus NRW gut kennt, nennt sie „desaströs“.
       Sie deutet in Richtung Tagebaukante. „Wenn wir uns 150 Meter von uns
       entfernt anschauen, wie Laschets Politik einfach alles zerstört, dann sind
       das keine schönen Aussichten.“ Wie sie mit dieser Haltung eine
       schwarz-grüne Koalition mittragen könnte? „Das frage ich mich auch.“
       
       Wenn Henneberger über ihre zukünftige Arbeit im Parlament spricht, klingt
       das, was sie sich vorgenommen hat, ganz einfach. „Mein Büro wird das Büro
       der Bewegung sein“, sagt sie. „Was ich im Parlament mache, das will ich
       sehr eng mit der Bewegung absprechen, weil wir eine Familie sind.“ Dass sie
       damit Partikularinteressen vertritt, sieht sie nicht als Problem. Im
       Gegenteil: „Wer vertritt denn die Menschen in den Dörfern um den Tagebau,
       die bleiben wollen? Wer vertritt die jungen Menschen, die auf die Straße
       gehen und noch nicht wählen können?“
       
       „Im Parlament werden politische Entscheidungen ausgehandelt, die für die
       gesamte Gesellschaft gelten, also auch für die Wirtschaft und die
       Industrie“, sagt Sven Lehmann, ihr Weggefährte aus Köln, seit 2017 für die
       Grünen im Bundestag. Ohne Kompromisse gehe das nicht. Henneberger hält
       dagegen. „Diejenigen, die im Bundestag die Interessen der fossilen
       Industrie verteidigen, haben auch nicht alle Menschen im Blick.“ Sie stehe
       wenigstens dazu, wessen Vertreterin sie sei.
       
       Läuft alles nach Plan, ist Henneberger nicht allein. Mehr als 70 Menschen
       unter 35 Jahren kandidieren in diesem Jahr auf grünen Landeslisten für den
       Bundestag. Das sind mehr als in den anderen Parteien. Henneberger sagt, sie
       habe längst begonnen, sich zu vernetzen. Karl Bär, 36 Jahre, der auf
       Listenplatz 12 in Bayern antritt, hat Henneberger im Klimacamp in Lützerath
       besucht. Er setzt sich für ökologische Landwirtschaft ein und kämpft gegen
       Ackergifte. Ebenso Jan-Niclas Gesenhues, der grüne Kandidat aus dem
       Münsterland, Listenplatz 8. „Absoluter Biodiversitätsexperte“, sagt
       Henneberger.
       
       „Meine Bezugsgruppe“, nennt sie die Truppe scherzhaft. Man habe vereinbart,
       sich im Bundestag inhaltlich zu unterstützen. „Das ist für mich hier alles
       keine Egoshow.“
       
       4 Sep 2021
       
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