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       # taz.de -- Kanzlerkandidatur und Bundestagswahl: Mehr Utopie wagen
       
       > Bloß nicht WählerInnen überfordern, lautet die Devise im Wahlkampf. Diese
       > Ängstlichkeit hat etwas Lähmendes.
       
   IMG Bild: Hoffen auf den Wind der Veränderung
       
       Dieser Wahlkampf ist kurios. Armin Laschet, eigentlich Chef beim „Team
       Stillstand“, [1][geht in die Offensive], weil er muss. Das führt schon nach
       den Gesetzen der Logik zu gewissen Widersprüchen. Auf der anderen Seite, wo
       eigentlich „Team Vorwärts“ Tempo machen müsste, [2][steht Olaf Scholz
       bewegungslos da und schaut zu], wie Annalena Baerbock den Endspurt
       versucht, wenn auch mit angezogener Handbremse.
       
       Ginge es um nichts, wäre es vielleicht das Beste, sich mit bitterem Lachen
       abzuwenden, den Ausgang der Bundestagswahl für irrelevant zu erklären und –
       grundsätzliche Sympathien für „Team Vorwärts“ vorausgesetzt –
       ausschließlich auf außerparlamentarischen Druck für eine politische Wende
       zu setzen.
       
       Tatsächlich ist ja davon auszugehen, dass auch eine fortschrittliche
       Regierung allenfalls dann entschieden genug handeln würde, wenn starke
       gesellschaftliche Bewegungen ihr Beine machen. Aber es ist nicht egal, wer
       regiert. Das Ergebnis dieser Wahl wird darüber entscheiden, ob sich
       Spielräume öffnen für die ökologisch-ökonomisch-soziale Transformation, die
       wir brauchen.
       
       Doch das Niveau der politischen Auseinandersetzung in diesem Wahlkampf ist
       den krisenhaften Veränderungen der Gegenwart bei Weitem nicht angemessen.
       In unterschiedlichen Abstufungen begehen die drei Parteien, deren
       Spitzenleute sich um einen Platz im Kanzleramt bewerben, denselben Fehler.
       Statt an den notwendigen Veränderungen orientieren sie sich an einer
       vermeintlichen Stimmung bei den Wählerinnen und Wählern, die sie ständig
       selbst reproduzieren und verstärken.
       
       ## Die Mitte, der magische Ort
       
       Mit anderen Worten: Aus „Angst vorm Wähler“, die ihnen [3][nach dem ersten
       Triell bei RTL] selbst Günther Jauch bescheinigte, verzichten die
       Kandidatin und die Kandidaten auf den Versuch, die gesellschaftliche
       Hegemonie für größere Ziele zu erkämpfen. „Die Menschen“, so ist oft zu
       lesen, hätten Angst vor allzu radikalen Reformen. Deshalb müsse sich mit
       utopischem Überschuss zurückhalten, wer viele von ihnen mitnehmen wolle.
       
       So entsteht jene Ideologie des Pragmatismus, die mit Robert Habecks Satz
       „Wir sind pragmatisch und spielen nicht Wünsch-dir-was“ hinreichend
       umschrieben ist. Darin drückt sich ein Mangel aus, den der
       Literaturwissenschaftler Jürgen Link „Antagonismuslosigkeit“ nennt: Die
       notwendige Artikulation grundsätzlichen Widerspruchs geht im Normalismus
       einer Politik verloren, die sich an einer imaginären Mitte orientiert.
       
       Dass die Angst vor politisch gesteuerter Transformation in der Gesellschaft
       oft größer ist als die Angst vor den immer noch als abstrakt wahrgenommenen
       Folgen des Klimawandels, den globalen Ausbeutungsverhältnissen und
       internationalen Konflikten – das mag sogar stimmen. Auf den vertrauten
       Routinen des Alltagslebens zu beharren, ist ja verständlich.
       
       Aber wer sagt, dass diese Stimmung eine unwandelbar feste Größe ist? Wer
       sagt, dass sie nicht zu wenden wäre durch eine entschlossene Kampagne des
       Aufbruchs? Wer will wissen, ob mit einem erkennbaren Kampf um neue
       Perspektiven nicht auch Stimmen zu gewinnen wären? Es hat ja lange niemand
       mehr probiert.
       
       ## Alltag und Alternativen
       
       Die Hegemonie im kollektiven Bewusstsein verändern zu wollen, bedeutet
       keineswegs, dass Politik vorschreiben soll, wie die Leute zu denken und zu
       leben haben. Natürlich soll sie „Menschen nicht umerziehen“, wie Habeck es
       einmal formulierte. Aber allzu leicht wird dabei vergessen, dass Politik
       auch die Aufgabe haben kann, für Ideen zu werben, die im Lebensgefühl der
       Mehrheit noch nicht verankert sind. Dass erst das Benennen von Alternativen
       den Einzelnen Denkräume eröffnen kann, in denen letztlich auch ein besseres
       Leben im Alltag aufscheint.
       
       Dass gerade jetzt die Häufung unterschiedlicher Krisen von Corona über
       Klimafolgen bis Afghanistan für Verunsicherung sorgt, wird jede und jeder
       an sich selbst und in vielen Gesprächen spüren. Immer deutlicher wird
       vielen Menschen, dass es so wie bisher nicht weitergehen wird.
       
       Aber das heißt: Wenn heute etwas alternativlos sein sollte, dann wäre es
       eigentlich der Versuch, deutlich zu machen, dass es besser ist, jenes noch
       unbestimmte Andere, das folgen wird, selbst in die Hand zu nehmen, als
       festgeklammert an Routinen auf die Katastrophe zu warten.
       
       Mit anderen Worten: Der befreiende Gedanke, aus den Krisen der Gegenwart
       heraus den Weg zu einer klimaschonenden, nicht mehr „imperialen“, weniger
       gehetzten Lebensweise zu finden, wird immer drängender. Wenn Politik hier
       keine radikalen Anstöße gibt, gibt sie dem Gefühl noch Nahrung, sich
       ängstlich hinter den Palisaden eines noch leidlich funktionierenden Alltags
       verstecken zu müssen. Damit lässt sie diejenigen, die Auswege aus der
       Festung suchen, mit ihrem Engagement allein.
       
       ## Aus Mutti sollte Onkel werden
       
       Jürgen Link hat die Kritik an der chronischen Unterversorgung mit Utopie so
       zugespitzt: „Man sagt, man muss die Leute dort abholen, wo sie sind. Ich
       auch. Aber man soll sie nicht wieder dahin zurückbringen, wo sie waren.“
       
       Der Vorwurf des vorauseilenden Gehorsams gegenüber vermeintlichen
       Stimmungen (und Koalitionsoptionen) trifft Sozialdemokraten, Union und
       Grüne nicht gleichermaßen. Es gibt, trotz utopischer Unterversorgung bei
       allen, Unterschiede.
       
       Am einfachsten ist die Sache bei der CDU/CSU und Armin Laschet. Sie machen
       eigentlich einen konsistenten Wahlkampf: Der Mangel an Reformbotschaften
       passt zu ihrem politischen Programm. Es war deshalb folgerichtig, dass
       Laschet zunächst versucht hat, die bewährte Strategie Angela Merkels zu
       kopieren. Er versuchte, der „Antagonismuslosigkeit“ eine Stimme zu
       verleihen: Fürchtet euch nicht, nichts wird verboten, alles bleibt, wie es
       ist – nur aus „Mutti“ wird „Onkel“, das war die unausgesprochene Devise.
       
       Sie folgte dem Handbuch der „asymmetrischen Demobilisierung“. Dessen
       wichtigste Regeln lauten: Leg dich nicht fest, biete keine Angriffsflächen,
       spiele den „Für alle da“-Politiker, narkotisiere die Öffentlichkeit – dann
       ist die Chance am größten, dass die potenziellen Wähler*innen der
       Konkurrenz zu Hause bleiben.
       
       Es gehört zu den guten Nachrichten dieses Wahlkampfs, dass Laschet damit
       gescheitert ist. Für die Glaubwürdigkeit als erfahrener, leutseliger
       Verwalter der bestehenden Verhältnisse hat die Landesvaterrolle in
       Nordrhein-Westfalen nicht gereicht, schon gar nicht nach Laschets
       erratischer Coronapolitik. Hinzu kam Markus Söder, der die
       Einschläferungsstrategie von Anfang an bekämpft hat. Und angesichts der
       diversen Krisen dürften die einschläfernden „Weiter so“-Botschaften selbst
       bei manchen derjenigen lächerlich gewirkt haben, die gerne daran glauben
       würden.
       
       ## Scholz, der Narkosespezialist
       
       Nun hat Armin Laschet zwar vom Ton her auf Angriff geschaltet, aber an der
       Politik des Stillstands, für die er wirbt, ändert das nichts. Und sollten
       Inhalte noch irgendeine Rolle spielen – wenigstens bei Megathemen wie dem
       Klimaschutz –, wird ihn die neue Aggressivität auch nicht mehr retten. Es
       sei denn, die alte Leier von der „Linksrutsch“-Gefahr würde doch noch
       einmal funktionieren.
       
       Schade nur, dass Olaf Scholz nun ziemlich erfolgreich in die Rolle des
       Anästhesisten geschlüpft ist. Was er als derzeitiger Führungsmann des
       „Teams Vorwärts“ anstellt, wäre mit kontrollierte Offensive schon
       beschönigend beschrieben. Klimaschutz kommt bei dem SPD-Kandidaten fast nur
       als industriepolitisches Projekt vor.
       
       „Keine Verbote!“, Selbstlob für die Evakuierungen aus Kabul ohne halbwegs
       angemessener Demut gegenüber den schuldhaft nicht Geretteten, das fast
       schon eindeutige Nein zu einer Koalition mit der Linkspartei – das sind
       unüberhörbare Botschaften. Da ist es fast erstaunlich, dass Olaf Scholz die
       Forderung nach einem höheren Mindestlohn und höheren Steuern auf
       Spitzeneinkommen überhaupt noch erwähnt. Mit Merkelismus gegen Merkels
       Partei, das ist die Devise.
       
       Auch bei der Abgrenzung von der Linkspartei spielt sich Erstaunliches ab.
       Fast begeistert stürzen sich Scholz wie Laschet auf die Behauptung, die
       Linksfraktion habe den Evakuierungseinsatz in Kabul im Bundestag
       „abgelehnt“ (Laschet). Das haben zum einen nur wenige ihrer Abgeordneten
       getan – 7 von 69. Zum anderen ist es zynisch, wenn diejenigen, die noch im
       Juni eine großzügige Ausreiseregelung für Ortskräfte ablehnten, jetzt einer
       Oppositionspartei vorwerfen, mit ihren Minderheitsvoten die Gefährdung von
       Menschenleben in Kauf genommen zu haben.
       
       Annalena Baerbock kann für sich in Anspruch nehmen, dass der Vorwurf des
       Zynismus sie in dieser Sache nicht trifft. Schließlich hatten die Grünen
       seit Langem und fast schon verzweifelt eine Lösung für die Ortskräfte
       gefordert. Aber auch Baerbock ließ es sich nicht nehmen, den Vorgang zu
       einer ziemlich rigiden Abgrenzung von der Linkspartei zu nutzen.
       
       ## Wo bitte geht es hier zur Ampel?
       
       Diese Abgrenzungsmanöver machen eine Ampelkoalition mit den knochenharten
       Marktliberalisten der FDP immer wahrscheinlicher. Das sind schlechte
       Aussichten für eine Regierung der Transformation. Warum aber die in der Tat
       unberechenbare Außenpolitik der Linkspartei ein zwingender Hinderungsgrund
       für eine Koalition sein soll, die diametral entgegengesetzten Ansichten der
       FDP zu staatlicher Regulierung aber nicht – das fragt indes kaum jemand.
       
       Ansonsten stehen die Grünen mit Annalena Baerbock unter den drei
       favorisierten Parteien in Sachen Veränderungsbereitschaft am ehesten vorn.
       Die Kanzlerkandidatin redet wenigstens von Aufbruch, und der geht bei ihr
       in Richtung Transformation. Wahrscheinlich haben sogar die meisten Menschen
       längst vergessen, wie der Programmparteitag alle Wünsche nach einem
       schärferen Profil etwa in der CO2-Bepreisung abgebügelt hat.
       
       Aber reicht das, um Laschet („Wir stehen im Wind der Veränderung“) eine
       Botschaft entgegenzusetzen, die nach Rückenwind für den Wandel klingt?
       Bisher eher nicht. Jene, die sich selbst zum „Team Vorwärts“ rechnen,
       sollten es mit einem abgewandelten Zitat von Willy Brandt versuchen: „Mehr
       Utopie wagen.“
       
       5 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kanzlerkandidat-Laschet-stellt-Koepfe-vor/!5798942
   DIR [2] /Olaf-Scholz-vor-der-Bundestagswahl/!5794166
   DIR [3] /Steuerpolitik-im-TV-Triell/!5792727
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stephan Hebel
       
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