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       # taz.de -- Rezeption von Rapper Kanye West: Seine Widersprüche
       
       > Rapper Kanye West steht immer wieder für sein Verhalten in der Kritik.
       > Als Künstler wird er aber weiterhin fast ausnahmslos gefeiert. Warum?
       
   IMG Bild: Kanye West bei der Vorstellung seines Albums „DONDA“ im Juli in Atlanta, Georgia
       
       Ich wurde angefragt mit: „Wo bleibt deine ‚Donda‘-Review?“ Meine Antwort
       lautete: „Hab keinen Bock, das zu hören.“ Das Drumherum der letzten Wochen
       und die Ausreißer der letzten Jahre haben bei mir zu einer
       Kanye-Resignation geführt. Seit Jahren hat mich Kanye immer wieder
       überrascht, genervt und verwirrt, aber jedes Mal wieder verzaubert. Zu
       „Yeezus“ war ich genervt, zu „The Life of Pablo“ war ich genervt, zu „ye“
       war ich genervt, zu „Jesus is King“ war ich genervt, trotzdem habe ich
       immer reingehört. Diesmal hat es zum ersten Mal nicht geklappt, daher ist
       das keine musikalische Review, [1][von denen es gerade eh mehr als genug
       gibt.] Tage nach Release habe ich das Album doch angehört und ja, Kanye
       West bleibt das musikalische Ausnahmetalent, was die Kritik an seiner
       Person nicht schmälert.
       
       Die Veröffentlichung von „Donda“ war so chaotisch, dass ich irgendwann
       ausgestiegen bin. Es erschien aus dem Nichts, ohne Feature-Angaben, dafür
       mit späteren Song-Änderungen. Heute denke ich: Kanye tritt mehr und mehr
       als Kurator statt als Rapper auf. Ist es nicht eigentlich gut,
       Möglichkeiten des Streamings zu nutzen und Songs zu ändern, auszutauschen
       oder komplett zu löschen? Auch unser Konsumverhalten können wir
       hinterfragen: Warum haben wir die Erwartungshaltung an Musik, dass es ein
       fertig abgepacktes, perfektes Produkt sein muss?
       
       Menschen, auch ich, neigen dazu, eindimensional zu urteilen und zu
       vergessen, dass Kanye eine fast zwanzigjährige Karriere auf dem Buckel hat.
       Viele, die Kanye heutzutage zu Recht kritisieren, lästern abschätzig über
       diejenigen, die jedes Mal glaubten, dass die Alben pünktlich veröffentlicht
       werden, trotz unzähligen Aufschiebens, oder die trotz aller Fehlgriffe der
       letzten Jahre neugierig blieben. Gerade weil er seit Jahren dieses Talent
       besitzt, sich für Menschen immer wieder interessant zu machen, ist es nur
       arrogant, diejenigen zu verpönen, die weiter zuhören. Nur weil jemand
       problematisch ist, heißt es nicht, dass er popkulturell, gesellschaftlich,
       gar politisch keine riesige Bedeutung haben kann. Gerade deshalb sollte man
       erst recht über Kanye reden. Über das Genie, aber eben auch über alles, was
       schiefläuft. Denn er ist vieles, aber nie irrelevant.
       
       Man könnte den ganzen Zeitstrahl abarbeiten, von problematischen Dingen,
       die Kanye West getan hat, es gibt ganze Artikel wie „Here Is The Definitive
       Timeline Of Kanye West’s Controversies“. [2][Kanye relativierte Sklaverei]
       und [3][kumpelte mit Donald Trump] an. Zweiteres ist in Rap-Kreisen gar
       nicht so selten, schließlich gilt Trump als Inbegriff für Reichtum, jeder
       wollte [4][„up like Trump“] sein. Ist es überraschend, dass ein
       Superreicher einen anderen Superreichen unterstützt?
       
       ## Berechtigte Kritik
       
       Warum ich diese alte Debatte hier überhaupt anbringe? Um anzuregen, sich
       von Identitäten zu lösen, wenn man versucht herauszufinden, warum jemand
       problematisch handelt, und um aufzuzeigen, wie wir selbst die
       Erwartungshaltung an Kanye haben, dass er, wie viele andere reiche
       Prominente of Color, linksliberale Ansichten vertreten muss, die die
       Hoffnung auf eine schönere Welt propagieren, aber dennoch Millionen und
       Milliarden anhäufen und eben doch nicht sind „wie wir“. Auch Kanye hat ein
       Recht auf eine Meinung, die unserer komplett widersprechen kann. Dass wir
       empört sind, weil wir etwas „Wokeres“ erwartet haben, ist gar nicht sein
       Problem, sondern unser eigenes. Sobald wir aufhören, prominente Menschen
       auf Podeste zu stellen, zu idealisieren und ihnen automatisch Eigenschaften
       zuzuordnen, könnte das verändern, wie wir über Kunst, aber auch wie wir
       über Psyche sprechen, aber dazu gleich.
       
       Bei „Donda“ hagelte es berechtigte Kritik zu den Kollaborateuren von Kanye
       West. So arbeitete Kanye mit [5][Marilyn Manson zusammen, gegen den
       Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs erhoben wurden], ließ sich von Chris
       Brown, der unter anderem wegen Körperverletzung verurteilt wurde, ein paar
       Zeilen einsingen, und gab bei einem Release-Event DaBaby die Bühne, um sich
       über Cancel Culture auszulassen, der sich kurz zuvor homofeindlich äußerte.
       Ironischerweise ist Kanye Co-Produzent des Songs „Industry Baby“ von Lil
       Nas X, dem wohl bekanntesten homosexuellen US-Rapper, der DaBaby zuletzt
       als meistgestreamten Rapper einholte.
       
       Ferndiagnosen sind gefährlich und was ab hier zu lesen ist, ist
       Spekulation, was Teil von Kanyes Charakter und was seine diagnostizierte
       bipolare Störung ist. Das ist selbst bei Menschen, die man kennt, nicht
       einfach, schon gar nicht bei irgendeinem Rapper aus Chicago. Es könnte
       zumindest eine Erklärung für dieses Release, für sein Verhalten, für alles
       sein. Bipolarität kann genetische Ursachen haben, kann aber auch durch
       traumatische Ereignisse ausgelöst werden. Der Tod seiner Mutter, nach der
       das Album benannt ist, zahlreiche öffentliche Nervenzusammenbrüche und die
       Tatsache, dass sein Leben permanent kommentiert wird, ist bestimmt nicht
       förderlich.
       
       ## Verantwortung übernehmen
       
       Gerade wegen der öffentlichen Thematisierung seiner Psyche ist Kanye im
       Vergleich zu vielen anderen Superstars trotz aller Eskapaden so wichtig. Es
       ist gerade sehr modern zu sagen, dass man mehr über Psyche sprechen sollte,
       aber das gilt nicht für alle beziehungsweise nur so weit, wie die Krankheit
       in das akzeptable Bild hineinpasst. Gerade von PoC wird in der
       Entertainmentbranche erwartet, dass sie vor allem performen. Solange sie
       sich in diesem Rahmen aufhalten, sind sie akzeptiert, weil kontrollierbar.
       [6][Auch in der taz erschienen Texte], die ihn als „durchgeknallten
       Superstar“ betiteln. Auch von einer „[7][Ästhetik der Depression“] ist die
       Rede. Das impliziert: Eine psychische Erkrankung darf in der Popkultur dann
       stattfinden, wenn sie produktiv ist. Wenn schon psychisch krank, dann soll
       es geil klingen oder gut aussehen.
       
       Wie beim Politischen: Seine Krankheit bleibt nicht nur romantisch beim
       „Lass mal darüber reden, Repräsentation ist so wichtig!“, sondern zeigt
       sich brutal mit allen unberechenbaren, positiven sowie negativen Seiten.
       Psychische Krankheiten sind nun mal nicht eindimensional, gerade bipolare
       Störungen nicht, wie der Name schon verrät. Sie können ekelhaft sein und
       einen Menschen zerstören. Paradoxerweise fühlen wir uns davon unterhalten
       und befeuern das alles. Indem wir immer wieder Mental Breakdowns oder
       Twitter-Tiraden konsumieren, verbreiten und diskutieren, und damit schließt
       sich dieser Artikel vollkommen ein, demonstrieren wir: Es entertaint uns,
       sonst hätten wir von Kanye doch schon längst abgelassen, gerade wenn wir
       ihn für so problematisch halten. Wer profitiert von Kanyes regelmäßigen
       Meltdowns? Wir? Alle, die an ihm mitverdienen? Ihm die Kunst, die er so gut
       kann und liebt, wegzunehmen, wäre vermutlich auch keine sinnvolle Maßnahme.
       Es scheint Dynamiken zu geben, die davon profitieren, dass Kanye sich nicht
       in Ruhe zurückzieht und durch kontroverse Aussagen polarisiert.
       
       Psychisch krank zu sein, kann schlechtes Verhalten erklären, aber nicht
       legitimieren. Und genau das ist so wichtig zu betonen. Auch als erkrankte
       Person möchte man als Mensch mit Rechten und Pflichten wahrgenommen werden.
       Verantwortlich gemacht zu werden heißt auch: Man wird respektiert. Man wird
       nicht als verloren angesehen. Deshalb muss Kanye für Fehlverhalten zur
       Verantwortung gezogen werden. Ein bekanntes Beispiel für unsoziales
       Verhalten ist sein Umgang mit Taylor Swift. Er machte sie vor einem
       Millionenpublikum fertig, ließ seine Fans „F*ck Taylor Swift“ auf Konzerten
       singen und erstellte sie als nackte Wachsfigur in einem Musikvideo. Nur,
       weil er selbst krank ist, ist es keine Entschuldigung dafür, die Psyche
       einer weiteren Person zu gefährden.
       
       ## Kritik klar benennen
       
       Die letzten Tage las man oft: „Mental health matters until it’s kanye
       west“. Ja, gerade Schwarze Männer unterliegen bei diesem Thema enormen
       Stigmata. Der Druck, Männlichkeit aufrechtzuerhalten, oder der statistisch
       schlechtere Zugang zu Krankenversorgung sind nur zwei von vielen Faktoren,
       warum gerade Schwarze Männer in den USA, aber auch hierzulande, die unter
       psychischen Problemen leiden, schwieriger Hilfe bekommen. Nicht selten wird
       Verhalten, das auf eine erkrankte Psyche zurückzuführen ist, als aggressiv
       aufgefasst, [8][was auch in Deutschland bis zum Tod führen kann]. So wird
       auch Kanye als unberechenbar und geisteskrank dargestellt. Auch die
       Performances zu „Donda“, dass er zum Beispiel in der Halle, in der er
       auftrat, schlief, galten nicht als künstlerisch, sondern als irre, da sie
       nicht sofort verstanden wurden.
       
       Es ist ein schmaler Grat zwischen Mental Health thematisieren,
       normalisieren und entstigmatisieren auf der einen und romantisieren,
       verurteilen und vermarkten auf der anderen Seite. Bei Kanye ist es
       irgendwie alles. Aber wie damit umgehen? Ich halte nichts von Dogmatismus.
       Viele wünschen sich, jemand würde ihnen vorgeben, was der richtige Umgang
       mit Künstler*innen wie Kanye West ist. Ich glaube, der Mensch ist schlau
       genug, um Widersprüche auszuhalten, Kanye als musikalisches Genie
       anzuerkennen, aber trotzdem Kritik an ihm klar zu benennen. Und wenn man
       das Album nicht hört, dann dreht sich die Welt trotzdem weiter.
       
       8 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Miriam Davoudvandi
       
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