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       # taz.de -- Lebenswertes in Mecklenburg-Vorpommern: Mit dem Bulli durch das Kulturland
       
       > Kultur ist nicht gerade ein Aushängeschild Mecklenburg-Vorpommerns. Wenn
       > man sich durch das Bundesland bewegt, entsteht ein anderer Eindruck.
       
   IMG Bild: Liedermacherin Barbara Thalheim und Schriftsteller Ingo Schulze vor dem VW-T2
       
       Ein grauer, wolkenverhangener sogenannter Sonntag in Parchim in
       Mecklenburg-Vorpommern, Ende August. Vor dem Rathaus steht ein grauweißer
       VW-Bulli T2b, Baujahr 1977, einst ein Hippie-Traum. An ihm prangt ein
       großer Aufkleber: „Wählen gehen!“. Davor ein Tisch mit Flyern und
       Broschüren, daneben Wahl-Pavillons von Grünen, SPD und Linken.
       
       Mathias Greffrath ist gerade 13 Tage mit diesem Bulli in
       Mecklenburg-Vorpommern unterwegs. [1][Jeden Tag eine Station, jeden Tag
       eine Veranstaltung] mit Schriftsteller:innen, Musiker:innen,
       Künstler:innen an Orten namens Tribsees, Ahrenshoop und jetzt Parchim.
       Greffrath, Soziologe und Journalist, will für den Wert der Demokratie
       werben; dafür, überhaupt eine Wahl zu haben. „Es gibt viele Menschen, die
       haben ziemlich konkrete Vorstellungen davon, wie eine lebenswertere Welt
       aussehen könnte“, sagt er zum Sinn und Zweck der Tour. „Doch sie engagieren
       sich nicht, weil sie die langweiligen Aktivitäten und die kleinen Schritte
       scheuen. Diese Leute zu erreichen, darum geht es.“
       
       In Parchim stehen ein paar Teenies, ältere Paare, eine muslimische Familie
       auf dem Schuhmarkt. Insgesamt vielleicht 40 Leute. Überschaubar. Stühle
       bleiben leer. Die Liedermacherin und Ost-Legende Barbara Thalheim steht
       unter einem Pavillon, die Gitarre in der Hand, sie erzählt Anekdoten, singt
       Songs wie „So leben wir in der Zeit der Stagnation“ und „Liebes
       Deutschland“. Der Berliner Verleger Christoph Links liest einen Text, der
       von den Wahlplakaten der unmittelbaren Nachwendezeit handelt.
       
       Es sind die Mühen der Ebene, die er und sein kleines Demokratieteam da
       beschreiten. Die Reise ist angelehnt an die Tour quer durch die BRD, die
       [2][Günter Grass] 1969 in einem VW-Bulli unternahm, um für Willy Brandt zu
       werben. Initiiert hat die Tour das Koeppenhaus Greifswald und die
       Projektkoordinatorin Kati Mattutat, die Wolfgang-Koeppen-Stiftung und das
       Bündnis „unteilbar“, das am 18. September zur Großdemo in Rostock aufruft.
       Greffrath versteht die Kulturbulli-Aktion auch als Anregung: „Es kommt zum
       Beispiel vor, dass sich der örtliche Gesangsverein mit einer
       Tourismusinitiative vernetzt“, sagt der 76-Jährige, „es entsteht eine Art
       von stadtinterner kleiner Öffentlichkeit durch diesen Impuls von außen.“
       
       Als Kulturland gilt Mecklenburg-Vorpommern dabei eigentlich nicht. Darüber
       kann man nur erstaunt sein, wenn man sich ein bisschen durch dieses Land
       bewegt. Denn in MV gehen Kulturinitiativen und zivilgesellschaftliches
       Engagament oft Hand in Hand, MV hat Künstler und Acts wie [3][Feine Sahne
       Fischfilet] und Marteria, MV hat Pop-Festivals wie die [4][Fusion], das
       3000 Grad, das Pangea oder das Immergut Festival. Es bewegt sich was, in
       der Coronakrise hat sich mit dem [5][“Kulturwerk MV“] ein Verband für Clubs
       und Livespielstätten gegründet. Doch wenn etwas über Landesgrenzen
       hinausstrahlt, sind es meist nur die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern.
       Kultur und Popkultur haben vielerorts einen schweren Stand, sind chronisch
       unterfinanziert.
       
       Wenige Meter vom Schuhmarkt entfernt sitzt Thomas Ott-Albrecht in seinem
       Büro im Jungen Staatstheater Parchim. Der 60-Jährige ist Intendant des
       Theaters, das Haus befindet sich noch in einem baufälligen ehemaligen
       Hotel. Der große Saal wurde 2014 wegen Einsturzgefahr geschlossen; als
       Ott-Albrecht nun durch den dunklen Raum hindurchführt, tropft es an einer
       Stelle von der Decke. Das ganze Theater stand oft kurz vor der Schließung.
       Auf die Frage, wie man einen solch rostigen Tanker navigiert, antwortet er:
       „Ich bin im Osten groß geworden und liebe daher das Mittel der
       intelligenten Anarchie.“
       
       In Parchim geschieht nun etwas Seltenes: Hier wird in Kultur investiert. In
       einer ehemaligen Getreidemühle [6][entsteht die „Kulturmühle“], das größte
       Kulturprojekt des Landkreises, für insgesamt 39,8 Millionen Euro. Dort
       zieht unter anderem das Jugendtheater ein, im Dezember 2022 soll die
       Eröffnung sein. Für das Junge Staatstheater (das ein Teil des
       Mecklenburgischen Staatstheaters ist) ist nun sogar eine Erhöhung des
       jährlichen Budgets von 2,4 Prozent vorgesehen, zuletzt erhielt es 1,67
       Millionen Euro jährlich vom Landkreis, dem Land und der Kommune.
       
       „Die Verantwortlichen in der Politik haben erkannt, wie wichtig das Theater
       für die Entwicklung einer Region sein kann“, sagt Ott-Albrecht. „Gerade im
       ländlichen Raum ist Kultur essenziell. Wir sind ein Bildungsort, wir regen
       junge Menschen zum Denken und Selberdenken an, zur Auseinandersetzung mit
       der Welt“, sagt er. Was das Theater für Einzelbiografien bedeutet, weiß er
       aus eigener Erfahrung: „Ich denke oft an den Schauspieler Steffen Siegmund,
       der heute im Thalia in Hamburg spielt. Er hat bei uns im Theaterjugendclub
       mitgemacht. Er kam aus sehr schwierigen Verhältnissen. Das Theater war
       seine Zuflucht, sein Ausweg.“
       
       Rostock, Kröpeliner-Tor-Vorstadt (KTV). Das Viertel ist so etwas wie das
       Kreuzberg von MV. Der subkulturelle Anstrich ist nicht zu übersehen,
       überall hängen Plakate, die für die Festivals [7][„Illustrade“] und
       [8][„Pop Off Shore“] werben (beide am zweiten Septemberwochenende). Im
       Kultur- und Medienzentrum Frieda 23 haben Selina Wippler und Victoria
       Teickner an einem Konferenztisch Platz genommen. Die beiden arbeiten für
       die Landesinitiative für Popularkultur und Kreativwirtschaft, kurz:
       [9][PopKW.]
       
       Wippler erklärt, wie bedeutend die Sparte Pop für die Regionalentwicklung
       sei. „Pop- und Clubkultur sind ein Wirtschaftsfaktor, sie sind aber in
       erster Linie ein sozialer Faktor. Wir schaffen es zum Beispiel,
       benachteiligte Kinder und Jugendliche mit popmusikalischen Angeboten
       erreichen. Wir sorgen dafür, dass ihnen Aufmerksamkeit und Anerkennung
       zuteil wird.“.
       
       Das gelingt etwa mit dem [10][Projekt PopToGo]. Jugendliche können sich im
       Songwriting, Rappen oder DJing ausprobieren, sie arbeiten dabei zum
       Beispiel mit dem Rostocker Rapper Ostmaul oder dem Geiger und Musiker
       Robert Beckmann (ehemals The Inchtabokatables) zusammen. „Wir haben in
       Rostock ein großes Problem mit Segregation“, sagt Wippler, „deshalb wollen
       wir mit solchen Angeboten vor allem auch Jugendliche aus den Randbezirken
       erreichen.“
       
       ## Pop gegen Nazis
       
       Angefangen hat die PopKW als Landesarbeitsgemeinschaft Rock und Pop 1999;
       damals vor allem, weil man der rechtsextremen Bandszene etwas
       entgegensetzen wollte. Das feste Budget lag 2019 bei jährlich 67.500 Euro
       von der Stadt Rostock und Land. Das reicht für die Personalkosten, für die
       Projekte müssen weitere Mittel erschlossen werden. „Es ist an der Zeit,
       dass Popkultur als Kultur anerkannt wird“, meint Teickner, „viel zu viele
       halten Pop nur für ein Jugendphänomen.“
       
       Dass Handlungsbedarf besteht, hat das Ministerium für Bildung, Wissenschaft
       und Kultur erkannt: 2020 hat man neue [11][„Kulturpolitische Leitlinien“]
       entwickelt. Eine Empfehlung: „Entwicklung einer Marke ‚Kulturland MV‘“. Um
       das zu erreichen, brauche es auch eine Kehrtwende in der Marketingstrategie
       des Landes, meint Wippler.
       
       Wie arg der Nachholbedarf ist, zeigt sich an mancher Stelle im
       Haushaltsplan: Zur „Förderung der Kreativwirtschaft“ stehen von Seiten des
       Wirtschaftsministeriums ganze 100.000 Euro jährlich zur Verfügung. Für ein
       ganzes Bundesland, wohlgemerkt. Daneben gibt es natürlich noch den Etat des
       Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, der sich in den
       vergangenen Jahren leicht erhöht hat (1,74 Milliarden) und bei dem Etliches
       für die Kultur abfällt.
       
       Anne Blaudzun sorgt sich vor allem um die Kulturetats nach der Krise. Die
       45-Jährige, Markenzeichen Hut und Totenkopf-Ringe an beiden Händen, ist in
       der Rostocker Subkultur fest verankert; sie ist seit zwanzig Jahren
       Redakteurin des [12][Literaturmagazins Risse]. In dem Heft publizieren
       ausschließlich Autor:innen und Schriftsteller:innen aus
       Mecklenburg-Vorpommern, seit 1998 gibt es das vom Land und von der Stadt
       Rostock geförderte Magazin. „Alle Haushalte werden jetzt sparen müssen.
       Dabei stand vielen Kulturprojekten doch schon vorher das Wasser bis zum
       Hals“, sagt Blaudzun bei einem Gespräch in einem Café in der KTV.
       
       ## „Kultur ist nicht umsonst zu haben.“
       
       Wie bei so vielen Kulturprojekten würde auch Risse ohne Selbstausbeutung
       nicht funktionieren. Zwei Themenhefte werden pro Jahr veröffentlicht,
       Autorenförderung wird dabei groß geschrieben, jedes Mal war bislang ein
       Debütant oder eine Debütantin dabei. „Wir achten besonders darauf, dass die
       Autorinnen und Autoren honoriert werden; auch, wenn es in der Höhe nur
       symbolische Beträge sein können. Wir wollen damit auch zeigen: Kultur ist
       nicht umsonst zu haben.“
       
       Die Zeitschrift schafft ihres Erachtens auch Ausgleich für eine sonst nicht
       gerade blühende Literaturlandschaft: „Es gibt einfach keine gute
       Infrastruktur für Literatur in Mecklenburg-Vorpommern. Die Verlage im Land
       kann man an einer Hand abzählen. Umso erfreulicher ist es, wenn sich neue
       Verlage etablieren wie zum Beispiel [13][Katapult] in Greifswald.“
       
       Am ersten Sonntag im September – einem, der seinem Namen mehr Ehre macht -,
       ist auch der grauweiße VW-Bulli in Rostock-Dierckow beim Mühlenfest
       angekommen. Tag 8 der Kultur-Tour, Barbara Thalheim ist wieder dabei,
       Schriftsteller Ingo Schulze liest aus seinem jüngsten Roman „Die
       rechtschaffenen Mörder“. Auf dem Platz herrscht Dorffestatmosphäre, die
       Leute sitzen auf Bierbänken bei Bratwurst oder Schmalzkuchen, der Applaus
       für Thalheim und Schulze wirkt eher pflichtbewusst. Matthias Greffrath
       wirkt nachdenklich, er spricht, als laufe die ganze Zeit eine Mission in
       seinem Kopf ab, die Mission Bürgerbewegung. „Wir müssen über Formen
       nachdenken und überlegen, wie wir noch mehr Leute erreichen.“ Die Formate
       müssten mehr knallen, meint er.
       
       Insgesamt, so hat es den Eindruck, braucht es in MV schlicht eine Kultur
       des (finanziellen) Ermöglichens und Möglichmachens. Trifft man all diese
       emsigen Menschen, hört man sie von ihren Projekten erzählen, kommt einem
       manchmal das in den Sinn, was die Grünen gerade im Wahlkampf vor sich
       herbeten: Die (Zivil-)Gesellschaft ist – auch im Osten – vielerorts weiter
       als die Politik. Man muss sie nur machen lassen.
       
       10 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.kultur-mv.de/veranstaltungen/in-welcher-gesellschaft-wollen-wir-leben-reden-wir-drueber-eine-bulli-tour-durch-mv.html
   DIR [2] /Als-Kritiker-ist-Grass-laengst-Geschichte/!5096546
   DIR [3] /Bauhaus-sagt-Feine-Sahne-Fischfilet-ab/!5539599
   DIR [4] /Fusion-Festival-in-Laerz/!5603969
   DIR [5] https://kulturwerk-mv.de/
   DIR [6] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/nordmagazin/Grundstein-fuer-die-Kulturmuehle-Parchim-gelegt,nordmagazin83442.html
   DIR [7] https://illustrade-festival.de/
   DIR [8] https://popoffshore.de/
   DIR [9] https://www.popkw.de/
   DIR [10] https://www.poptogo.de/pop2go/index.php
   DIR [11] https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/bm/Kultur/Kulturpolitische-Leitlinien/
   DIR [12] https://www.risse-mv.de/
   DIR [13] https://katapult-verlag.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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   DIR Schwerpunkt Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern
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