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       # taz.de -- Maßeinheiten in Europa: Das metrische System
       
       > Dass Maßeinheiten einfach sind, verdanken wir den Vordenkern der
       > Französischen Revolution: Sie machten aus Ellen und Füßen endlich
       > Meter.
       
       In „Pulp Fiction“, dem Kultfilm von Quentin Tarantino von 1994, unterhalten
       sich zwei Gangster über die Europäer:
       
       „Weißt du, was das Abgefahrenste an Europa ist? Das sind die kleinen
       Unterschiede … Weißt du, wie die einen Quarterpounder mit Käse in Paris
       nennen?“
       
       „Die nennen ihn nicht einen Quarterpounder mit Käse?“
       
       „Nein, Mann, die haben das metrische System. Die wissen gar nicht, was ein
       Quarterpounder ist.“
       
       „Wie nennen die ihn?“
       
       „Die nennen ihn Royale mit Käse.“
       
       Der Dialog ist legendär. Er fängt sehr gut das amerikanische Unverständnis
       für europäische Maßeinheiten ein. Europäer wiederum halten Amerikaner für
       verrückt, wenn sie mit deren Gewichten, Längen oder Geschwindigkeiten beim
       Filmegucken nicht zurande kommen. Oder beim Bestellen im Restaurant. Oder
       beim Shoppen im Klamottenladen. Oder beim Ausfüllen von Formularen mit den
       persönlichsten Angaben.
       
       Inches, Feet, Yards und Meilen – ein einziger Wirrwarr. Verwechslungen mit
       dem metrischen und dem angelsächsischen oder auch imperialen Einheitssystem
       haben sogar schon für größeren Ärger gesorgt als ein zu kleines Steak auf
       dem Teller oder eine zu enge Jeans auf den Hüften. Es hat deswegen schon
       Notlandungen und Unfälle im Weltraum gegeben, nur weil irgendjemand zu stur
       auf seinen Gewohnheiten beharrte. Aber der Reihe nach.
       
       Auch hierzulande war das Messen einst bekloppt. Von der Antike bis ins
       späte 19. Jahrhundert mussten sich die Leute nach den Körpermaßen ihrer
       aktuellen Herrscher richten. Mal war der Abstand von der Nasenspitze zum
       ausgestreckten Daumen entscheidend, mal die Länge eines Fußes – und das zum
       Teil von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Manche Händler rechneten mit der
       [1][Braunschweiger Elle], die einen guten halben Meter maß. Andere
       benutzten die Münchener Elle, die locker zwanzig Zentimeter länger war.
       Rechenfehler und Missverständnisse beim Handel waren da vorprogrammiert.
       
       Diese unverhältnismäßige Abhängigkeit vom Größenwahn der Regierenden mit
       ihren auf sich bezogenen Ellen und Füßen und Spannen ging den Vordenkern
       der Französischen Revolution gehörig gegen den Strich. Und so führte der
       Nationalkonvent 1795 das metrische System ein, das sich fortan auf der
       ganzen Welt durchsetzen sollte. Die ursprüngliche Idee: einheitliche
       Größen, die allgemein gültig und für alle nachvollziehbar sind, weil sie
       sich auf Phänomene unserer aller Mutter Erde beziehen. Dafür hatten sich
       zwei renommierte Astronomen auf die Socken gemacht, um mal eben die Welt zu
       vermessen.
       
       Die beiden mussten nun nicht gleich den gesamten Planeten ablaufen. Ein
       popeliger Längengrad reichte schon aus. Und so nahmen sich Jean-Baptiste
       Delambre und Pierre Méchain den Meridianbogen zwischen Dünkirchen und
       Barcelona vor, um daraus den Erdumfang zu berechnen. Der eine lief nach
       Norden, der andere nach Süden, beide mit einem Sack wissenschaftlicher
       Präzisionsinstrumente im Gepäck, um sich eine Methode zunutze zu machen,
       die bis heute in der Landvermessung bekannt ist: die Triangulation.
       
       Die Forscher kletterten Kirchtürme und Berge hinauf, um von oben
       auszumessen, in welchem Winkel andere Kirchtürme und Berge zu sehen waren.
       Dank altbekannter Geometrie ergab sich dabei eine Sammlung hilfreicher
       imaginärer Dreiecke, mit denen sich die Gesamtstrecke zwischen Anfang und
       Ende des Längengrads hochrechnen ließen. Von misstrauischen Bauern gejagt
       oder flachgelegt von Hunger und Krankheiten zog sich die Vermessung in den
       Kriegswirren der Revolution zwar ein bisschen hin. Doch nach sieben Jahren
       hatten Delambre und Méchain die Bezugsgröße unseres metrischen Systems
       gefunden: den zehnmillionsten Teil der Strecke vom Nordpol zum Äquator –
       der Meter.
       
       Der Meter wurde aus Platin zu einem Ur-Meter gegossen. Von ihm wurden
       weitere Einheiten für Gewichte und Volumen abgeleitet. Ein Kilogramm
       entsprach dem Gewicht an Wasser, das in einen Würfel mit einer Kantenlänge
       von einem Zehntelmeter passt. Kleinere und größere Einheiten wurden in
       Zehnerschritten anstatt wie zuvor in albernen Dutzenden gerechnet. Warum
       uns das Rechnen in Dezimalstellen viel einfacher erscheint, lässt sich an
       zwei Händen abzählen.
       
       Die Dezimalrevoluzzer gingen sogar so weit, dass sie konsequenterweise auch
       die Zeitrechnung den Zehnern unterwerfen wollten. Im republikanischen
       Kalender gab es zehn Wochentage, die jeweils in zehn Stunden mit je 100
       Minuten à 100 Sekunden eingeteilt waren. Die neue Sekunde war dadurch etwas
       kürzer als die alte, die neue Minute länger als die alte und die
       Revolutionsstunde mehr als doppelt so lang.
       
       Doch irgendwie wollte sich die Idee nicht durchsetzen. Die Bevölkerung kam
       auf den Trichter, dass sie nun an neun Tagen in der Woche arbeiten musste.
       Also wurde der republikanische Kalender ein paar Jahre nach seiner
       Einführung wieder abgeschafft.
       
       Trotzdem war das metrische System modern und in sich stimmig und trieb
       somit die Revolution voran. Nach und nach übernahmen die Länder auf der
       ganzen Welt die Zählweise. Auch wenn sich später herausstellte, dass
       Delambre und Méchain bei ihrer Definition des Meters daneben lagen. Sie
       hatten sich um 0,2 Millimeter vermessen. Die Dicke von zwei Blatt Papier.
       
       Der Fehler blieb auch in der Rechnung, als der Meter nicht mehr von einem
       Metallstab, sondern durch die Lichtgeschwindigkeit festgelegt wurde. Eine
       Korrektur war nicht nötig, denn schließlich ging es ja um die einheitliche
       Einheit selbst – und nicht um das, was sie ursprünglich bezeichnet. Heute
       ist ein Meter die Strecke, die das Licht in einer 1/299.792.458 Sekunde
       zurücklegt.
       
       Auch für andere gängige Größen, die wir brauchen, um die Phänomene auf der
       Welt zu beschreiben, wurden mit der Zeit exakte Werte gefunden. Seit gut
       zwei Jahren richten sich alle sieben wesentlichen Einheiten nach
       Naturkonstanten: der Meter, das Kilogramm, die Sekunde. Kelvin für die
       Temperatur, Ampere für die Stromstärke, Candela für die Lichtstärke und Mol
       für die Stoffmenge.
       
       Wissenschaftlich gesehen und halbwegs offiziell zählt die gesamte
       Menschheit metrisch. Auch wenn es manchmal heißt, dass die stolzen USA sich
       dessen verweigern würden, zusammen mit Myanmar und Liberia. Dort wird in
       Studien metrisch gerechnet; nur im alltäglichen Gebrauch kommt es hin und
       wieder zu Verwirrungen – und manchmal eben auch im Alltag der Wissenschaft.
       
       Und so musste [2][1983 eine kanadische Boeing] mit kaputter
       Treibstoffanzeige notlanden, weil ihr Tank in Gallonen gemessen, jedoch in
       Litern gefüllt wurde. Mitten im Flug ging dem Jet der Sprit aus, er
       verwandelte sich in ein überdimensionales Segelflugzeug. Wie durch ein
       Wunder gelang den Piloten die Landung.
       
       Im Spätsommer [3][1999 verloren Forschende der Nasa] den Kontakt zu einem
       ihrer Satelliten. Der Climate Orbiter sollte nach seiner neunmonatigen
       Reise den Mars umfliegen und untersuchen. Doch kaum war die Sonde in die
       Umlaufbahn des Roten Planeten eingeschwenkt, verglühte sie. Die
       Kontrollzentren in Denver und Pasadena hatten die Schubkraft des Orbiters
       in unterschiedlichen Maßeinheiten gerechnet. Die einen in Metern und
       Kilogramm, die anderen in Feet und Pounds. Das Ergebnis: eine
       Fehlkalkulation von 40 Kilometern und 125 Millionen verbrannte Dollar.
       
       Aber das stoffelige imperiale System mit seinen Einheiten gibt den
       Amerikanern wenigstens noch, nun ja, ein Mikrogramm Charme. Gangsterfilme
       haben Popgeschichte geschrieben, weil wir uns so gern über Pfund, Fuß,
       Meilen, Pint, Gallonen und Yards lustig machen. Überlassen wir es den
       angelsächsisch Rechnenden, wann sie ihre ulkige Zählweise endgültig
       aufgeben. Oder wie es der Amerikaner sagt: „We approach the metric system
       inch by inch.“
       
       5 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Alte_Ma%C3%9Fe_und_Gewichte_(Braunschweig)
   DIR [2] https://www.tf.uni-kiel.de/matwis/amat/mw1_ge/kap_2/basics/yard.html
   DIR [3] /Archiv-Suche/!1268512&s=yard+meter+inch&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
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