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       # taz.de -- Thomas de Maizière über Konservatismus: „Eher Haltung als Position“
       
       > Hat die Union kein konservatives Profil mehr? Doch, sagt Ex-Minister
       > Thomas de Maizière. Es gehe um Verlässlichkeit und die Integration vieler
       > Strömungen.
       
   IMG Bild: Für ihn bedeutet Konservatismus vor allem Verlässlichkeit: CDU-Politiker Thomas de Maizière
       
       taz: Herr de Maizière, für die CDU [1][sieht es gerade gar nicht gut aus].
       Manche behaupten, das habe mit dem Verlust an Profil, namentlich eines
       konservativen Profils, zu tun. Was heißt heute eigentlich: konservativ? 
       
       Thomas de Maizière: Früher konnte man das an verschiedenen Positionen
       festmachen, etwa in der Familienpolitik, aber das hat sich geändert. Es
       gibt kein klassisches konservatives Weltbild mehr wie in den 70er oder 80er
       Jahren. Für mich ist Konservatismus eher eine Haltung als eine Position.
       
       Was für eine Haltung? 
       
       Die Aufgabe wichtiger zu nehmen als sich selbst. Den Staat nicht zu
       verteufeln, sondern ihm eine wichtige Aufgabe zuzuschreiben. Veränderungen
       zu bejahen, aber dafür zu sorgen, dass sie in geordneten Bahnen vonstatten
       gehen. Loyal zu sein und verlässlich.
       
       Das trifft auch auf viele Politiker:innen aus Parteien zu, die nicht
       als konservativ gelten. 
       
       Ja, das stimmt. Eine bestimmte Form von Selbstdisziplin, kein
       trompetenhaftes Auftreten – das können andere auch haben. Die Union hat das
       Konservative nicht allein gepachtet.
       
       Sie sprachen gerade von Verlässlichkeit. Wird dieser Wert gerade in
       Afghanistan mit Blick auf [2][die so genannten Ortskräfte] nicht verraten? 
       
       Die Bundeswehr macht derzeit einen vorzüglichen Job. Die
       Verteidigungsministerin hat in einem Brief an die Abgeordneten mitgeteilt,
       dass die Bundeswehr 75 Prozent ihrer Ortskräfte schon vor den turbulenten
       Tagen nach Deutschland geholt hat. Das ist gut.
       
       Aber dabei geht es eben nur um die Ortskräfte, die zuletzt für die
       Bundeswehr gearbeitet haben. Das ist nur ein kleiner Teil. 
       
       Ich möchte als ehemaliger Minister nichts sagen zu den aktuellen
       Entwicklungen, auch aus Respekt meinen Nachfolgern gegenüber. Wir hatten
       gehofft, dass die Ortskräfte so eine Art Hefeteig für die neue afghanische
       Gesellschaft werden können. Und der Moment, in dem wir die besten Köpfe für
       alle sichtbar nach Deutschland holen, ist das Signal an die afghanische
       Gesellschaft, das alles verloren ist. Dieses Signal möglichst spät zu
       geben, dafür habe ich Verständnis.
       
       Aber der Preis dafür ist, dass viele, [3][viele Menschen in Lebensgefahr]
       sind. Als Verteidigungsminister konnten Sie einst einerseits die
       Reduzierung der deutschen Truppen verkünden, weil das afghanische Militär
       selbst stark genug sei. Gleichzeitig meldeten unter anderem die UN den
       Anstieg der Gewalt vor Ort. Schwante Ihnen da nicht, dass der Westen mit
       falschen Vorstellungen unterwegs ist? 
       
       Wir haben Lageberichte gemacht, die jetzt als zu optimistisch kritisiert
       wurden, aber durchaus realistisch waren. Vielleicht haben wir alle zusammen
       einen kommunikativen Fehler gemacht: Um Zustimmung für den Einsatz in der
       deutschen Bevölkerung zu erzielen, haben wir die Ziele nach vorne
       geschoben, die besonders schwer zu erreichen waren: Demokratie,
       Menschenrechte, Gleichberechtigung und so weiter. Nach dem erfolgreichen
       Terrorkampf war das eigentliche Ziel, ein stabiles Land mitaufzubauen. Eine
       Lehre könnte sein, dass man die Ziele für internationale Missionen
       realistischer und bescheidener setzt.
       
       Also herrschte zu Ihrer Zeit keine Fehleinschätzung? 
       
       Wir haben schon diskutiert: Wie lange bleiben wir? Einen Abzug wollten wir
       an Bedingungen knüpfen. Aber wenn klar wird, dass diese Bedingungen nie
       eintreten, dann muss man entweder ewig bleiben – oder mit dem Risiko gehen,
       dass es nicht gelingt. Dass das jetzt so überstürzt war, ist vor allem
       Donald Trump, aber auch Joe Biden zuzuschreiben. Ich weiß von Ortskräften,
       die alle Papiere hatten und trotzdem nicht gekommen sind, weil auch sie
       dachten, sie hätten noch Zeit. Natürlich ist es sehr schwierig zu sagen,
       dass man alles richtig gemacht hat. Aber jetzt pauschal zu sagen, wir
       hätten die Ortskräfte im Stich gelassen, ist mir auch zu schwarz-weiß.
       
       Jenseits von Werten wie Verlässlichkeit: Wir suchen immer noch nach dem
       konservativen Profil der CDU. 
       
       Die CDU kann kein rein konservatives Profil haben, das hatte sie auch nie.
       Denn die Union vereint viele Strömungen. Sie muss den Anspruch haben,
       Volkspartei zu sein. Das ist Chance und Gefährdung zu gleich. Volkspartei
       heißt, ein vernünftiges Politikangebot nicht nur für eine bestimmte
       Klientel zu machen, sondern für eine möglichst breite Mehrheit der
       Bevölkerung. Das heißt zwingend weniger Profil, denn es bedeutet Mehrheiten
       zu finden und Kompromisse zu schließen. Und es bedeutet, für den
       Zusammenhalt der Gesellschaft zu sorgen. Der Zeitgeist hält das für
       altmodisch und überholt, aber die Politik muss das Gemeinwohl ins Zentrum
       stellen und unterschiedliche Interessen abwägen und berücksichtigen.
       
       Konservative in der CDU und auch rechts davon sagen: Angela Merkel habe die
       Partei entkernt, konservative Werte verraten. [4][Wehrpflicht],
       [5][Atomkraft], der [6][klassische Ehebegriff] – ist da etwas Konservatives
       verloren gegangen? 
       
       Nein.
       
       Nein? 
       
       Die Kernkraft war immer nur ein Instrument und hat mit konservativen Werten
       nichts zu tun. Auch eine Wehrpflicht, die faktisch zum Schluss ohnehin
       nicht mehr vollzogen wurde, ist nicht per se konservativ. Konservativ ist,
       dass wir jungen Menschen sagen, dass das Leben auch Pflichten mit sich
       bringt, nicht nur Rechte und Ansprüche. Und bei der Ehe für alle hatte sich
       schlicht die Einstellung in der Gesellschaft und auch in Teilen der Union
       geändert. Das waren richtige und wichtige Entwicklungen, übrigens
       vorangetrieben vom Bundesverfassungsgericht.
       
       Aus Ihrer Sicht geht es also gar nicht um ein Profil, das mehr oder weniger
       konservativ ist, sondern um die Frage, ob es integrativ ist oder
       ausdifferenzierend? 
       
       Genau, und die Breite geht auf Kosten der Tiefe. Aber in einer krisenhaften
       Welt sollten wir den Zusammenhalt suchen: Wir brauchen eine handlungsfähige
       Regierung und keinen sich ständig widersprechenden Koalitionsausschuss von
       womöglich drei Regierungsparteien mit zwei Vizekanzlern und so weiter.
       
       Nun war Handlungsfähigkeit auch etwas, das der Regierung unter Angela
       Merkel zuletzt abhanden zu kommen schien. Bei [7][Corona], bei der
       [8][Flutkatastrophe], jetzt bei Afghanistan funktioniert die
       Selbstbeschreibung der CDU, dieses „Wir können Krise“ nicht mehr. 
       
       In der Coronakrise sollte die Kanzlerin die Krise managen, war aber
       rechtlich betrachtet zunächst gar nicht zuständig. Sie hat sich die
       Zuständigkeit politisch angemaßt – und die Ministerpräsidenten waren froh,
       dass sie dies tat. Und als sich das dann im vergangenen Herbst änderte,
       entstand der Eindruck, dass wir nicht gut regiert werden. Wenn die
       rechtlichen Zuständigkeiten und die faktischen Erwartungen der Bevölkerung
       auseinanderklaffen, dann entsteht ein Problem.
       
       Nehmen wir den Gesundheitsmister und seine vielen unerfüllten Versprechen.
       Die Ministerpräsidenten, die sich nicht an Absprachen halten. Oder die
       [9][Maskenaffäre] der Union. Das Bild, das bleibt: Die können gar nicht so
       gut regieren, wie wir immer dachten. Das ist ein Problem für die Union. 
       
       Das bestreite ich nicht. Aber im europäischen Vergleich stehen wir gut da.
       Die niedrigen Todeszahlen, die hohe Impfquote, die stabile Lage der
       Wirtschaft – objektiv ist es ganz gut gelaufen. Aber subjektiv überwiegt
       die Einschätzung: Das war mindestens nicht gut genug. Und das hat mit
       unserem eigenen Anspruch zu tun, aber auch mit Kommunikation, mit
       mangelnden Zuständigkeiten und auch mit viel Geschnatter, was Menschen
       immer verunsichert.
       
       Die enormen Widersprüche auch gerade unter den Unionsministerpräsidenten –
       das, wie Sie sagen: Geschnatter – war ja Teil des Kampfes um die
       Kanzlerkandidatur. 
       
       Die Krise wurde gar nicht so schlecht gemanagt, bevor diese Frage aufkam.
       Und, vielleicht ist auch das konservativ: Aus meiner Sicht wird zu viel auf
       die Performance und zu wenig auf die Substanz geschaut. Ein
       Erfolgsgeheimnis von Merkel ist wahrscheinlich, dass man sie für seriös und
       für substanziell hält.
       
       Wenn man etwas holzschnittartig vorgeht, kann man die Männer im Umfeld der
       Kanzlerin in zwei Kategorien einordnen: Die, die nie verschmerzt haben,
       dass eine Frau aus dem Osten den Posten inne hat, der vermeintlich ihnen
       gehörte: Roland Koch und Friedrich Merz zum Beispiel. Und auf der anderen
       Seite die Loyalen: Volker Kauder, Peter Altmaier – und natürlich Sie. Wie
       erklären Sie sich das? 
       
       Weiß ich nicht. Zum guten Regieren gehört jedenfalls Loyalität, wie im
       Sport. Wenn dort einer gut im Team spielt, ist er ein guter Teamplayer. In
       der Politik heißt es: Er sei farblos. Das finde ich nicht richtig. Wenn man
       Teil einer Regierung unter einer Kanzlerin ist, dann kann man nicht
       gleichzeitig gegen sie sein.
       
       Horst Seehofer konnte das sehr wohl, nachdem Angela Merkel ihm das
       Innenministerium gab und Sie daraufhin [10][leer ausgingen]. Zweimal
       mussten Sie gegen Ihren Willen das Ministerium wechseln. Denkt man da nicht
       irgendwann: Jetzt reicht’s mal? 
       
       (lacht) Die beiden Wechsel sind mir schwergefallen, das stimmt. Aber im
       Nachhinein war das in Ordnung. Und ich bin auch sehr gerne zum zweiten Mal
       Innenminister gewesen. Aber wenn man nach zwölf Jahren wegen
       Koalitionsarithmetik nicht mehr berücksichtigt wird, kann man nicht
       ernsthaft meckern.
       
       Heißt unterm Strich aber: Loyalität wird nicht belohnt. 
       
       Zwölf Jahre gerne Bundesminister zu sein, war doch Lohn genug.
       
       29 Aug 2021
       
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