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       # taz.de -- Wie hat uns 9/11 geprägt?: Rückkehr im Sarg
       
       > Drei Protokolle über Verschwörungsmythen auf dem Schulhof, die
       > Studienfachwahl und Söldner.
       
       Im Kiosk, am Bahnhof, zu Hause: Warum wissen wir noch so genau, wo uns die
       Bilder vom einstürzenden World Trade Center erreichten? Auch weil sie uns
       nachhaltig beeinflusst haben. Sie formten unsere Politik, unser Empfinden,
       unsere privaten Entscheidungen und manchmal auch Denkmuster – egal ob in
       Deutschland oder in Uganda. Drei Menschen erzählen von den Folgen, die 9/11
       für sie und ihr Umfeld hat.
       
       ## Für das „Alte Europa“ – Jannis Hagmann
       
       Für mich war New York damals weit entfernt, die Twin Towers kannte ich
       nicht einmal vom Namen her, und doch weiß ich noch, wie ich im
       Arbeitszimmer meiner Mutter saß und die Türme fallen sah. Bis heute ist
       dieses Gefühl da, 9/11 unmittelbar miterlebt zu haben, physisch anwesend
       gewesen zu sein.
       
       Ich setzte mich erstmals körperlich in Bezug zum Weltgeschehen. Für mich
       ist es diese fast leibliche Betroffenheit, die 9/11 zu einem historischen,
       generationsprägenden Ereignis machte. Unsere Schutzmacht war angegriffen
       worden, und das mit einer Waffe, die uns konkret mit jenem eigentlich
       fernen Anschlagsort verband: In den Flugzeugen hätten wir sitzen können. Es
       war der perfekte globale Terror.
       
       Die Türme fielen zwei Tage vor meinem 18. Geburtstag. Vor mir lagen Abitur,
       Zivildienst, Studiums- und Berufswahl. Und plötzlich war es da, das
       Hintergrundrauschen, das mein weiteres Aufwachsen begleiten würde. Der
       Ost-West-Konflikt hatte ausgedient. Der Islam-West-Konflikt bestimmte nun
       die weltpolitischen Konfliktlinien, zwischen denen sich meine Generation
       zwangsweise bewegen würde, warf die Fragen auf, zu denen wir uns zu
       verhalten haben würden. Ob ich wollte oder nicht, unser Konflikt würde der
       vermeintliche „Kampf der Kulturen“ sein. Samuel Huntington steht noch heute
       in meinem Bücherregal.
       
       Eineinhalb Jahre später, der 15. Februar 2003 ist mir in Erinnerung
       geblieben, holte ich mit meinen Freunden die Trommeln aus unserem
       Bandproberaum. Hunderte folgten uns, als wir lärmend von Berlin-Kreuzberg
       Richtung Brandenburger Tor zogen, um gegen den drohenden Irakkrieg zu
       demonstrieren. Leute wie der Regisseur Michael Moore und UN-Inspekteur Hans
       Blix waren unsere Helden, und ja, auch Gerhard Schröder und Joschka
       Fischer, die gemeinsam mit Frankreich das „Alte Europa“ verkörperten, auf
       das wir in unserem jugendlichen Antiamerikanismus so stolz waren.
       
       Mehr noch als 9/11 war es der Irakkrieg, der zu meinem „defining moment“
       wurde. Dass die USA 2003 auf der falschen Seite der Geschichte standen, war
       für uns keine Frage. Ich erinnere mich, wie ein Freund uns privat mit einem
       UN-Inspekteur bekanntmachte, der uns bestätigte: Einsatzfähige
       Massenvernichtungswaffen hat der Irak nicht. US-Außenminister Colin Powell
       bezeichnete seine Lüge von Saddams mobilen Biowaffen-Labors später als
       „Schandfleck“ in seiner Karriere.
       
       In meinem Studium der Islamwissenschaft war es später nicht verbreitet,
       sich mit Terrorismus auseinanderzusetzen. Wer zum Geheimdienst wollte,
       wurde misstrauisch beäugt. Islamistische Bewegungen spielten zwar eine
       Rolle, aber letztlich ging es um den Versuch, Zusammenhänge zu verstehen,
       Kulturen kennenzulernen. Fast alle begegneten wir dem „islamischen
       Kulturkreis“, wie Huntington es genannt hatte, mit einer Offenheit und
       Sympathie, die vielleicht auch aus Trotz geboren war – ein Zugang, der
       einigen von uns heute vorgeworfen wird, wo möglichst schnell moralisch
       geurteilt und wenig differenziert wird.
       
       ## Neue Jobs und neuer Terror – Mark Ntege
       
       An jenem Tag saß ich vor dem Fernseher und habe zufällig in den Nachrichten
       gesehen, wie die Flugzeuge das World Trade Center trafen. Es war eine
       Livesendung. Ich war 15 Jahre alt und konnte es zunächst gar nicht fassen.
       In den ersten fünf Minuten dachte ich, es sei ein Witz. Ich hätte mir
       selbst in meinen schlimmsten Träumen niemals ausmalen können, dass
       Terroristen Flugzeuge in Hochhäuser fliegen.
       
       Aber dann habe ich mich durch die Sender gezappt und überall kam die
       Nachricht von den einstürzenden Türmen. Es schien also wahr zu sein. Ich
       bin an jenem Tag nicht in die Schule gegangen, weil ich nicht vom Fernseher
       wegkam. Ich wollte unbedingt wissen, was passiert war.
       
       Überall in Uganda begannen die Menschen wild zu diskutieren, alle waren so
       schockiert. Wir Ugander haben viele Verwandte in den USA. Die Telefone
       standen nicht mehr still. Jeder wollte wissen, ob die Angehörigen in
       Sicherheit sind.
       
       In Uganda haben wir eine große muslimische Gemeinde, fast 15 Prozent der
       Bevölkerung sind Muslime. An diesem Tag füllten sich landesweit die
       Moscheen. Die Imame beteten für Frieden. Sie verurteilten die Anschläge und
       distanzierten sich von den Terroristen. Sie hatten Angst, dass es auch in
       Uganda zu antiislamischen Tendenzen kommt.
       
       Die muslimischen Führer aus ganz Ostafrika kamen kurz darauf zu einer
       Konferenz hier in Kampala zusammen, um ein Zeichen zu setzen. Man muss
       hinzufügen: 1998, also nur drei Jahre vor dem 11. September 2001, hatten
       Terroristen Bomben in den US-Botschaften in Kenia und in Tansania gezündet.
       Viele hundert Menschen starben. Wir hatten also am 11. September schon
       Erfahrung mit Anschlägen wie diesen. Deswegen kam die Reaktion der
       ostafrikanischen Imame unmittelbar.
       
       ## Wie sich das Leben nach 9/11 verändert
       
       Von diesem Tag an hat sich für uns Ugander unser tägliches Leben sehr
       verändert. Jedes Mal, wenn ich in einen Supermarkt gehe oder in ein
       Einkaufszentrum, in eine Bank oder ein Regierungsgebäude, muss ich einen
       Sicherheitscheck passieren. Überall stehen seither Securityguards und
       scannen dich auf Waffen, Taschen müssen überprüft werden. Vor 9/11 gab es
       das nirgends.
       
       Uganda war ein sicheres Land. Wir hatten zwar zuvor einige Anschläge in der
       Hauptstadt Kampala erlebt und dabei starben jeweils 10 oder 15 Menschen.
       9/11 aber war so viel schlimmer als das, was wir bislang erlebt hatten.
       Erst 2010 gab es dann in Kampala eine 9/11-Situation. Damals gingen abends,
       als das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft im Fernsehen lief, in den
       überfüllten Kneipen Bomben hoch. Über 70 Menschen starben.
       
       Ich erinnere mich, dass mich eine Freundin anrief. Sie war hoch schwanger
       und ihre Fruchtblase war geplatzt. Sie konnte ihren Ehemann nicht auf dem
       Handy erreichen, damit der sie ins Krankenhaus bringen konnte. Sein Telefon
       war ausgeschaltet. Als wir im Krankenhaus ankamen, sahen wir die
       Krankenwagen, die die Verletzten brachten. Vom Eingang der Notfallstation
       bis zum Operationssaal war der Fußboden voller Blut. Es war einfach
       grausam. Das war unser ugandischer 9/11.
       
       Uganda hat langfristig vom sogenannten Feldzug gegen den Terror profitiert.
       Ugandas Präsident Yoweri Museveni hatte die USA im Vorfeld der Anschläge
       vor den Terroristen gewarnt. Seit 2001 führt Ugandas Militär einen Großteil
       der Militärmissionen in Afrika an. Zum Beispiel in Somalia, wo unsere
       Truppen an vorderster Front gegen die islamistische Miliz al-Schabaab
       kämpfen – im Auftrag der USA. Dadurch hat Uganda seine militärische Präsenz
       in Ost- und Zentralafrika ausbauen können. Dadurch konnte sich das Land
       international in ein gutes Licht rücken. Die US-Amerikaner haben seitdem
       die militärische Zusammenarbeit mit unserer Armee ausgebaut.
       
       Aber all das hat mittlerweile auch negative Folgen. Unsere Polizei und
       Militärs wurden im Kampf gegen den Terror trainiert. Er wurden
       Antiterroreinheiten ausgebildet, die überall Verdächtige vermuten,
       Überwachungsmaßnahmen wurden ausgebaut, Telefonüberwachung und so weiter.
       Seitdem ist es üblich geworden, dass Verdächtige länger als 24 Stunden in
       Polizeigewahrsam festgehalten werden dürfen. Seitdem wird wieder gefoltert,
       um Geständnisse zu erzwingen. Das Militär hat kaum mehr Geduld im Umgang
       mit der Bevölkerung. Sie fürchten jeden Tag Anschläge.
       
       ## Oppositionelle werden zu Terroristen erklärt
       
       Gerade im Umgang mit der politischen Opposition wird das sehr deutlich.
       Mittlerweile werden Regimekritiker und Oppositionelle wie ich als
       Terroristen diffamiert, weil wir gegen Museveni sind. Das hat schon bald
       nach 9/11 angefangen. Damals herrschte in Uganda Krieg. Die Armee kämpfte
       gegen die Rebellen der LRA (Widerstandsarmee des Herrn) unter Führung von
       Joseph Kony im Norden des Landes. Es wurden Friedensgespräche eingeleitet
       und die Leute dachten, man könne mit den Rebellen verhandeln.
       
       Nach 9/11 war das vorbei. Die US-Amerikaner kamen, um Ugandas Armee im
       Kampf gegen die LRA zu helfen. Aus den Rebellen wurden im Sprachgebrauch
       „Terroristen“. Verhandlungen waren keine Option mehr und die US-Truppen
       bauten ihre Präsenz in Afrika unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung aus.
       Seitdem sind alle, die Musevenis Regierung ablehnen, automatisch
       „Terroristen“.
       
       Erst in seiner Ansprache an die Nation vor einigen Wochen hat Museveni uns
       Oppositionelle wieder als Terroristen bezeichnet. Er hat aber auch seinen
       Polizisten gesagt, sie sollten Verdächtige nicht foltern, um Geständnisse
       zu erpressen – das sei falsch. Immerhin hat er das eingesehen, dass diese
       US-amerikanischen Methoden nicht funktionieren.
       
       Der 11. September hatte für viele junge ugandische Männer drastische
       Folgen. Abertausende junge Menschen wurden seitdem von Sicherheitsfirmen
       angeheuert, um in Afghanistan und im Irak zu arbeiten. Sie bewachen dort
       US-Militäreinrichtungen. Diese Sicherheitsfirmen haben uns Ugandern große
       Erfolgsversprechen gemacht: viel Geld, Karriere im Ausland und so weiter.
       Doch die meisten Geschichten dieser Männer sind sehr traurig. Ich habe kaum
       Geschichten über diese Männer gehört, in denen sie nach ihrem Job in
       Afghanistan mit dem verdienten Geld ein gutes Leben aufbauen konnten. Im
       Gegenteil: Peter, ein enger Freund, der im vergangenen Jahr nach
       Afghanistan gegangen war, ist in einem Sarg zurückgekehrt. Die
       versprochenen Entschädigungszahlungen wurden nie geleistet. Was genau
       geschehen war und wie er starb, ist bis heute ungeklärt. Wir wissen bis
       heute nicht, wie viele Ugander in Afghanistan und im Irak im Kampf gegen
       den Terror ihr Leben lassen mussten.
       
       Selbst jetzt, wo die Taliban nun Afghanistan unter ihre Kontrolle gebracht
       haben, weiß niemand, wie viele Ugander noch dort sind. Selbst die Regierung
       weiß es nicht. Die Menschen werden nicht evakuiert. Das macht uns Ugander
       Sorgen. Deswegen diskutieren die Menschen gerade über die Lage in
       Afghanistan. Nach dem Truppenrückzug der US-Amerikaner war klar, dass noch
       mehr Ugander dort stationiert werden, um für mehr Sicherheit zu sorgen.
       (Protokoll: Simone Schlindwein)
       
       ## Die Welt der Verschwörungsmythen – Cem-Odos Güler
       
       Von irgendwo hatte mein Bruder wieder mal eine CD aufgetrieben. Mitte der
       2000er Jahre verbrachten wir ganze Nachmittage vor dem Computer in unserem
       gemeinsamen Zimmer, und weil wir im Gegensatz zu vielen Freund*innen noch
       keinen Internetzugang hatten, versorgte er uns mit Filmen und Musik auf
       gebrannten CDs. Als ich die Doku mit Verschwörungsmythen zum 11. September
       2001 sah, waren seit den Anschlägen vielleicht drei oder vier Jahre
       vergangen. Ich war ein junger Teenager.
       
       Der Film zeigte eine Konferenz von Schwurbler*innen des selbst
       erklärten „9/11 Truth Movements“. Die Bilder von den Rauchsäulen und den
       einstürzenden Zwillingstürmen kannte ich. Sie hatten sich in mein
       Gedächtnis eingebrannt, als ich neun Jahre alt war. Aber die
       verschwörerischen Fantasien dazu, die kurz nach dem Anschlag aufgekommen
       waren, waren mir unbekannt.
       
       Eigentlich glitten politische Diskussionen bei uns zu Hause öfter mal ins
       Verschwörerische ab, besonders dann, wenn irgendwelche Cousinen und Onkels
       zu Besuch kamen. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass sie in der Türkei
       politisch sozialisiert wurden. Dort riss in der jüngeren Geschichte ein
       ebenso unberechenbarer wie aufgeblähter Militärapparat viereinhalb Mal die
       Macht an sich, drei Putschversuche scheiterten außerdem … Da kann man schon
       mal paranoid werden.
       
       In meinem kindlichen Denken hinterließen die 9/11-Mythen Eindruck. Ich
       sprach mit Klassenkamerad*innen über die Tragfähigkeit von Stahl oder
       über irgendwelche Blitze, die beim Aufprall der Flugzeuge zu sehen gewesen
       seien. Ich kann mich daran erinnern, dass ich in der Schule nicht der
       Einzige war, der mit „offenen Fragen“ ankam, so wie sie in dem Video
       bezeichnet wurden – auch Freund*innen ohne kurdische Onkels stellten
       diese Fragen.
       
       Historiker*innen streiten sich heute darüber, ob der 11. September
       2001 eine Zäsur ist und ob die Welt seit den Anschlägen eine andere ist,
       als sie es davor war. Für mich gab es keinen Einschnitt, weil ich die Welt
       eigentlich nur mit allem, was danach kam, kenne: Afghanistaneinsatz,
       Irakkrieg, Vorratsdatenspeicherung. Ich konnte meine Beobachtungen zu den
       Anschlägen nicht einordnen, auch nicht, als ich dieses Video anschaute oder
       mit Mitschüler*innen darüber sprach. Am 11. September 2001 habe ich
       noch nicht politisch gedacht.
       
       Wahrscheinlich macht man es sich zu leicht, wenn man die Anschläge als eine
       Zäsur bezeichnet. Islamistischer Terror hat Kontinuität, die Kriege in
       Afghanistan und im Irak auch. Kontinuität haben auch die
       Verschwörungsmythen zum 11. September: Sie sind fast immer klar
       antisemitisch.
       
       Das habe ich erst später gelernt. Ein früher Exkurs in die Welt der
       Verschwörer*innen hat mich aber sensibilisiert, heute wohl umso
       allergischer auf solche Denkmuster zu reagieren.
       
       10 Sep 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schlindwein
   DIR Cem-Odos Güler
   DIR Jannis Hagmann
       
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