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       # taz.de -- Afghanistan und Terror nach 9/11: Nacht über Kabul
       
       > Trotz Nato-Rückzug: Der islamistische Netzwerk-Terrorismus muss weiterhin
       > international militärisch bekämpft werden – auch in Afghanistan.
       
   IMG Bild: Nach der Flucht: Familien bei ihrer Ankunft in Washington, 25. August 2021
       
       Eine Kurzmeldung aus dem Afghanistan-Ticker der Deutschen Presse-Agentur
       (dpa) vom 24. 8. 21: „12.20 Uhr – CIA-Chef William Burns hat einem
       Zeitungsbericht zufolge den Anführer der Taliban, Abdul Ghani Baradar, zu
       einem Gespräch getroffen. Der Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes und
       Baradar seien sich am Montag in der afghanischen Hauptstadt Kabul begegnet,
       berichtet die Washington Post. Das Blatt beruft sich auf nicht näher
       bezeichnete US-Beamte, die sich nur anonym äußern wollten.“ Es ist eine
       Nachricht wie aus dem Drehbuch der [1][Fernsehserie „Homeland“].
       
       Die (bislang) acht Staffeln der Thrillerserie schaute weltweit ein
       Millionenpublikum. Und diese Millionen wissen seitdem: Klar fliegt ein
       CIA-Chef nach [2][Afghanistan], mitten hinein ins Chaos, um im Auftrag des
       US-Präsidenten mit dem Feind zu verhandeln.
       
       Das Militärische unterliegt dem Primat des Politischen und der Diplomatie.
       Für [3][die Taliban] heißt das: Sie müssen zunächst die innere Herrschaft
       im ethnisch und religiös zerklüfteten Afghanistan stabilisieren. Und zwar
       schnell. Unnötige Kämpfe mit den ohnehin abziehenden ausländischen Truppen
       der Nato würden dieses Ziel gefährden. Die vom IS reklamierten ersten
       [4][verheerenden Anschläge auf Zivilisten und US-Soldaten in Kabul]
       verdeutlichen, welche Gefahren nun drohen.
       
       Wenn die Talibanführer also derzeit vom „Wiederaufbau Afghanistans“
       sprechen, meinen sie dies eher spirituell. Tatsächlich geht es um die
       Verhinderung einer erneuten Zerstörung des Landes. Die demokratischen
       Staaten haben Milliarden zum Ausbau der Infrastruktur am Hindukusch
       gepumpt. Und diese braucht die Taliban 2.0. Und zwar intakt. Allein mit
       Koran, Gewehr und in Sandalen lässt sich auch Afghanistan kaum regieren.
       
       ## Nationale und imperiale Islamisten
       
       Für die USA als Unterhändler der demokratischen Staaten geht es bei den
       Gesprächen mit den Taliban darum, die paschtunische Geistlichkeit (im
       Tausch gegen gewisse Zugeständnisse) in deren Kampf gegen expansivere
       dschihadistische Bewegungen zu stärken. „Islamischer Staat“ (IS), al-Qaida
       und Co haben in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass sie mit allen
       Mitteln das imperiale Ziel eines weltweit zu errichtenden Kalifats
       verfolgen.
       
       Nach [5][9/11] und 20 Jahren Präsenz in Afghanistan soll das Land dem
       internationalen Dschihadismus nun nicht erneut als Ausgangsbasis dienen.
       Ein Staatszerfall unter schwachen Taliban soll vermieden werden, damit
       alles nicht noch viel schlimmer wird.
       
       Um dauerhaft größere terroristische Aktionen wie 9/11 ausführen zu können,
       benötigen Terroristen den Schutz- und Rückzugsraum eines Territoriums.
       Eines Staates, in dem sie vor militärischer Verfolgung weitgehend sicher
       sind, um die aufwendige Logistik für ihre teuren Netzwerke betreiben zu
       können.
       
       Man konnte beim Staatszerfall des Iraks und dann im syrischen Bürgerkrieg
       beobachten, in welcher Geschwindigkeit die Milizen des sunnitischen IS 2014
       riesige Territorien übernahmen, angeleitet von alten Offizieren des
       gestürzten irakischen Saddam-Regimes. Ein temporäres Machtvakuum nutzten
       sie sofort für sich.
       
       ## Das Leuchten des Kalifats
       
       Die digital verbreiteten Bilder von Eroberungen, [6][die IS-Propaganda im
       Internet des real existierenden Terror-Kalifats übten eine regelrechte
       Sogwirkung] auf ungefestigte, oft jugendliche Abenteurer aus. Auch aus
       Westeuropa schlossen sich Tausende junge Männer (manchmal auch Frauen) dem
       islamistischen Faschismus an. Sie kämpften in Syrien und Irak. Andere
       verübten weltweit Attentate, mit Hunderten von Toten in muslimisch
       dominierten Ländern wie Ägypten, Tunesien oder der Türkei.
       
       In Europa geriet Frankreich besonders in den Fokus. [7][2015 – die
       Attentate auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo], das [8][Bataclan sowie
       das Pariser Nachtleben markierten eine Zäsur]. Nachdem der IS dank
       internationaler Hilfe und der Kurden in Syrien, Irak (und Libyen)
       weitgehend zerschlagen war, gingen diese Attacken schnell und deutlich
       zurück.
       
       Bis zum Anschlag auf den Breitscheidplatz im Dezember 2016 in Berlin
       hofften viele in Deutschland, man bliebe (abgesehen von Attacken mit
       Messern oder Hackebeilen) vom islamistischen Terror weitgehend verschont.
       Tatsächlich galt Deutschland den Islamisten wie bei 9/11 eher als Schutz-
       und Ruheraum. Nach dem Breitscheidplatz wusste man, es ist anders.
       
       Islamistische Terrorgruppen wie al-Qaida oder IS machten nie einen Hehl
       daraus, dass für sie ausnahmslos alle „Ungläubigen“ legitime Angriffsziele
       darstellen. Israel muss zerstört werden, die USA und Europa dürfen
       grundsätzlich angegriffen werden. Seit es dem schiitischen
       Konkurrenz-Extremismus 1979 in Iran gelang, sein theokratisches Regime zu
       errichten, bekam das gesamte islamistische Spektrum einen gewaltigen Schub.
       
       1979, es war auch der Auftakt der Intervention der Sowjets in Afghanistan.
       Zehn Jahre später, 1989, standen Niederlage und Rückzug aus Afghanistan
       symbolisch für den bald darauf folgenden Untergang des Sowjetreichs.
       
       ## Die Kritiker des Westens
       
       Die antiimperialistische Linke glaubt, der islamistische Terrorismus (IS,
       al-Qaida, Abu Sayyaf, Boko Haram, al-Shabaab und Co) und Staatsterrrorismus
       (Iran, Taliban, Hamas, Hisbollah) stehen in unmittelbaren Zusammenhang mit
       kolonialistischen oder rassistischen Gewalterfahrungen durch „den“ Westen.
       Der Islamismus sei die Antwort auf individuell oder kollektiv erfahrene
       Diskriminierungen durch Europäer und Amerikaner.
       
       Doch wenn dem so wäre, warum bringen sunnitische Taliban schiitische Hazara
       um, IS-Kämpfer Kurden und Jesiden? Iranische Mullahs iranische
       Oppositionelle? Warum verwandeln sich in Frankreich geborene
       Kleinkriminelle in Massenmörder oder vergehen sich Menschen an Menschen,
       die Musik hören und tanzen wollen? Der Krieg gegen den islamistischen
       Terror ist nicht frei von Fehlern und Vergehen. Die Ursache für den
       islamistischen Terror ist er nicht. Auch nicht die Drohnen.
       
       „Die USA und ihre Verbündeten sind nicht nur Zuschauer, sie sind für den
       Tod Zehntausender afghanischer Bürger verantwortlich – und nun, nach dem
       chaotischen Abzug, auch noch für so viel Ungewissheit und Leid“, schreibt
       Samiha Shafy in der aktuellen Ausgabe der Zeit. Es ist die bequeme
       Mittellage des deutschen Polit-Feuilletons. Bei Erscheinen des Artikels
       starben 13 amerikanische Soldaten am Kabuler Flughafen, auch damit die
       deutschen unbeschadet nach Hause fliegen konnten. Der Antiamerikanismus ist
       ein steter Begleiter und hilft doch kein bisschen weiter, so man die
       Zusammenhänge im Nahen und Mittleren Osten verstehen will.
       
       Deutsche und Westeuropäer dürften in naher Zukunft bei den USA zudem kaum
       mehr sämtliche Weltprobleme abladen können. US-Präsident Joe Biden will
       sich künftig verstärkt den amerikanischen Binnenproblemen zuwenden.
       Außenpolitisch soll das Hauptaugenmerk auf den expansiven chinesischen
       Staatskapitalismus gerichtet sein.
       
       Der Kampf um die Demokratie 
       
       Die Globalisierung und Vernetzung der Welt schreitet weiter voran. Der
       Arabische Frühling hat angedeutet, dass auch die korrupten Despoten des
       Nahen Ostens mit demokratischen Erhebungen zu rechnen haben. Aber auch mit
       dem islamistischen Faschismus. Letzterer kann nur erfolgreich bekämpft
       werden, sofern sich die jetzigen Machteliten in islamisch geprägten
       Gesellschaften dem demokratischen Prozess gegenüber öffnen.
       
       Und sofern der demokratische Teil der Weltöffentlichkeit weiterhin bereit
       ist, den religiösen Faschismus polizeilich und militärisch konsequent zu
       bekämpfen. Es ist ein Weltbürgerkrieg. Eine isolationistische Haltung
       greift da nicht, auch wenn es, wie das Beispiel Afghanistan zeigt, kein
       Patent auf dauerhaft erfolgreiche Lösungen gibt.
       
       Zum Schluss eine Meldung der dpa vom 27. 8. 21, Stand 0.20 Uhr: „Wie die
       Zeitung The Times berichtet, haben Mitarbeiter des britischen
       Außenministeriums in der Botschaft in Kabul Dokumente mit Kontaktdaten
       ihrer afghanischen Angestellten zurückgelassen. ‚Der Abzug unserer
       Botschaft erfolgte in großer Eile, weil sich die Lage in Kabul
       verschlechterte. Es wurden alle Anstrengungen unternommen, um sensibles
       Material zu vernichten‘, sagte ein Sprecher des Außenministeriums gegenüber
       der Nachrichtenagentur Reuters.“
       
       Die USA flogen seit dem Fall Kabuls Zehntausende afghanische Ortskräfte und
       ihre Familien aus. Die nachlässigen Briten immerhin noch Tausende. Die
       Deutschen sollen auf 138 kommen, plus 496 Angehörige.
       
       2 Sep 2021
       
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