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       # taz.de -- Queere Kultur damals und heute: Gelitten sein statt zu leiden
       
       > Queere Geschichte lässt sich als Hin und Her zwischen greifbarer Freiheit
       > und tödlicher Gewalt lesen. Daran erinnert mich ein Besuch im „Cabaret“.
       
   IMG Bild: Tänzer Diego Salles beim „Lila Lied“ im Neuköllner SchwuZ
       
       Es ist eine von diesen schönen und zugleich zweifelhaften Eigenarten in
       Berlin, dass man ständig in die Traumwelt der Zwanziger hinabsteigt, für
       eine kleine Fantasy frivoler Freiheit. Spätestens seit dem Erfolg der Serie
       „[1][Babylon Berlin]“ gilt das wohl fürs ganze Land. Mittlerweile reicht
       eine Art-Deco-Bordüre aus als Corporate Identity für schillernde Nostalgie,
       bei der immer auch Queeres mitschwingt. Oft wird die Subkultur vor 100
       Jahren dabei hoffnungslos romantisiert, das Präfaschistische am Rande
       behandelt.
       
       Ein wesentlich beklemmenderes Feeling erzeugte dagegen eine kleine
       Bühnenshow, die ich neulich im queeren Neuköllner Club SchwuZ besuchen
       durfte. Sechs Performer*innen führten entlang bekannter queerer
       Schlager und Persönlichkeiten der Epoche.
       
       Die Minirevue trug den Titel „Lila Lied“. Das „[2][Lila Lied]“, verfasst
       von Kurt Schwabach und vertont von Mischa Spoliansky im Jahr 1920 ist die
       Hymne der lesbisch-schwulen Bewegung im Deutschland des frühen zwanzigsten
       Jahrhunderts. Wir sind nun einmal anders als die Andern, die nur im
       Gleichschritt der Moral geliebt. Die Zeilen des Refrains definierten
       queeres Leben als an sich abweichend. Und erteilten damit allen Trends in
       Richtung Anpassung eine schroffe Absage. Diese Haltung wird 50 Jahre später
       Rosa von Praunheims Film [3][„Nicht der Homosexuelle ist pervers …“]
       wiederholen.
       
       Die Performer*innen von „Lila Lied“ im SchwuZ wagen ein optisches,
       musikalisches und inhaltliches Update der „Goldene Zwanziger“-Erinnerung.
       Ein elektronisches Sampling von Claire Waldoffs Lied „Hannelore“ durch
       Soundkünstler*in Mala Herba lässt das Zwanziger-Cabaret im
       Gegenwartsberlin ankommen. Und ein Monolog von Performerin und
       Sexarbeiterin Akynos hinterfragt die Bühnenfigur Josephine Baker im
       Zusammenhang heutiger ästhetischer Ansprüche an weibliche Schwarze Körper.
       
       ## Gedanken an die giftige Rhetorik in der Jetztzeit
       
       Die Glamour-Fantasy erstickt das Ensemble eindrucksvoll mit bedrohlicher
       Enge. Die Zwanziger brachten ja in gewissen Rahmen Freiheit und
       Sichtbarkeit für queere Menschen, aber auch soziales Elend – und
       schließlich Faschismus. Später, in den Siebzigern keimt erneut queere
       Kultur in Deutschland auf. Und wird erneut beinahe hinweggefegt von der
       menschengemachten Aids-Katastrophe.
       
       Ich muss an die giftige Rhetorik und [4][die Gewalt gegen trans Leute] in
       der Jetztzeit denken. Und ich muss daran denken, dass in der jüngeren
       queeren Geschichte mindestens zweimal Vernichtung gleich auf Befreiung
       folgte. Eine Teleologie des Todes. Kein Wunder, dass so viele nicht an das
       Versprechen vom stetigen Fortschritt glauben mögen, das wir arrivierte
       Queers uns erzählen. Schon mal war die Freiheit in greifbarer Nähe. Immer
       wieder folgten Versuche der Auslöschung. Mal aktiv, mal durch Nichtstun.
       
       Das „Lila Lied“ definiert die Utopie so: Wir leiden nicht mehr, sondern
       sind gelitten! Sind wir da schon? Das wär ja was.
       
       17 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neue-Staffel-Babylon-Berlin/!5654275
   DIR [2] http://www.lilalied.com/das-lila-lied.html
   DIR [3] /Co-Drehbuchautor-ueber-Kultfilm/!5782073
   DIR [4] https://www.tip-berlin.de/stadtleben/queer/transphobie-in-lichtenberg-demo-7-august-2021/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Weissenburger
       
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