URI: 
       # taz.de -- Wahlkampf und Klima: In der Freiheitsfalle
       
       > Es waren Minister von FDP und Union, die mit Verboten erfolgreiche
       > Umweltpolitik anstießen. Daran sollten die Parteien heute wieder
       > anknüpfen.
       
   IMG Bild: Schwefel kommt immerhin kaum noch aus den Schornsteinen der Stahlwerke in Duisburg
       
       Das wird die entscheidende und giftigste politische Auseinandersetzung der
       nächsten Jahre: Wie weit darf und muss der Staat für die ökologisch
       notwendige „große Transformation“ in Wirtschaft und Gesellschaft
       eingreifen? Wird es reichen, wenn der Gesetzgeber in grüne Infrastruktur
       investiert, Bürokratie um ihre Errichtung abbaut und Forschung fördert?
       SPD, Union und FDP sehen das so, Linke und Grüne nicht. Sie wollen auch zum
       Mittel des Ordnungsrechts greifen – also zu Verboten.
       
       Die Aufregung, die die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock mit ihrer
       Feststellung im [1][Triell] auslöste, jedes Verbot sei auch ein
       Innovationstreiber, zeigt, wie oberflächlich die Debatte geführt zu werden
       droht, in Texten à la „[2][Warum Verbote ein Irrweg sind]“ (Welt) oder
       Twitter-Botschaften wie „[3][#Freiheit ist der #Innovationstreiber“] von
       FDP-Chef Christian Lindner. Dabei ist Baerbock natürlich nicht in eine
       „Verbotsfalle“ getappt.
       
       Sie hat nur ein wichtiges Instrument aufgezählt, ohne das Klima- und
       Artenschutz nicht zu machen ist. Erinnern wir uns: Was tat Hans-Dietrich
       Genscher, Innenminister der sozialliberalen Koalition, als Fabriken in den
       70er Jahren Menschen und Umwelt krank machten? Ließ er die Unternehmen
       „einfach mal machen“, damit sie weniger Schadstoffe emittieren? Entfesselte
       er ihre Innovationskraft durch Steuererleichterungen oder siedelte er am
       Waldrand innovative Firmen an?
       
       Nein. Er hat den Unternehmen verboten, weiter Schwefel durch ihre Schlote
       zu pusten. Genscher brachte das Bundes-Immissionsschutzgesetz auf den Weg,
       als [4][BImSchG] heute noch lebendig. Vor 50 Jahren wurde der Liberale für
       sein Gesetz ordentlich verprügelt, von der Umweltbewegung, die es für zu
       lasch hielt, vor allem aber von der Industrie. Sie ist dann aber nicht wie
       angekündigt untergegangen, sie hat Filter in ihre Schornsteine eingebaut –
       das entscheidende Mittel gegen das Waldsterben der 80er.
       
       ## Filter und Recylingverfahren
       
       Und die deutsche Anlagentechnik ist auch infolge des BImSchG heute ein
       Exportschlager. In den 90er Jahren sah sich Umweltminister Klaus Töpfer
       (CDU) einer Müllkrise gegenüber. Auf Gift und Gestank in Böden und
       Gewässern reagierte er: mit einem Verbot. Mit seiner „Technischen
       Anweisung“ legte er die Grundlage für das spätere deutsche und dann auch
       europäische Deponieverbot. Die Unternehmen der Abfallbeseitigung konnten
       ihren Müll nicht mehr einfach ins nächste freie Tal kippen.
       
       Die Branche reagierte mit innovativen Techniken und Dienstleistungen. Heute
       bieten Sammel-, Sortier- und Verbrennungsanlagen im Inland Arbeit und sind
       Exportschlager. Dass der Sektor heute nicht mehr funktioniert, weil er
       nicht klug politisch gesteuert wurde, steht auf einem anderen Blatt. Die
       Recyclingbranche ist auch Beweis dafür, dass Freiheit, Erfindergeist und
       der Markt allein Innovationen eben nicht durchsetzen.
       
       Das zeigt etwa der Umgang mit kritischen Rohstoffen wie Seltenen Erden oder
       Indium: Als die Europäer vor einigen Jahren merkten, dass die günstige und
       sichere Versorgung mit diesen Rohstoffen für Zukunftstechnologien nicht
       gewährleistet ist, starteten zahlreiche politische Initiativen; in
       Forschungsprojekten wurden Recyclingverfahren entwickelt und Konzepte für
       geschlossene Lithium-Ionen-Batteriekreisläufe, Rohstoffpartnerschaften
       abgeschlossen etc. Geblieben ist davon wenig.
       
       Primäre Rohstoffe aus China oder Afrika einkaufen, sie verwenden und
       anschließend wegschmeißen ist besser für die Unternehmensbilanz als
       nachhaltige Konzepte. Weil es der Großen Koalition an Mut fehlte, den
       Umgang mit Rohstoffen klar zu regeln, ist das Problem „kritische Rohstoffe“
       heute so groß wie ehedem. Erfolgreiche Umweltpolitik – und erst recht die
       notwendige große Transformation – braucht „Push- und Pull-Faktoren“,
       Anreize und Verbote. Für die Verkehrspolitik etwa heißt das:
       
       ## Verbote und Anreize
       
       Die Bürger:innen brauchen gute neue Angebote, damit sie mit privaten,
       öffentlichen und geteilten Verkehrsmitteln schnell und bequem ihr Ziel
       erreichen. Das ist der Push-Faktor. Und Verbrennungsmotoren müssen verboten
       werden – mit langen Übergangszeiten. Schon ein fernes Verbot weist den
       Unternehmen den Weg. Das ist der Pull-Faktor.
       
       So könnten wir daran teilhaben, wie neue Dienstleistungsangebote,
       Technologien und Konzepte entstehen, und wie die Autoindustrie auf ein für
       den Standort gesundes Maß zurückschrumpft und klimaneutrale Fahrzeuge
       herstellt. Nur eines von beiden – nur Anreize oder nur Verbote – reicht
       nicht. Wieweit die SPD bereit ist, für den notwendigen Klimaschutz auch
       Verbote einzusetzen, ist schwer abzusehen, weil der
       Ich-tu-niemandem-weh-Kurs von Olaf Scholz außerhalb des Wahlkampfs in der
       Partei nicht unbedingt mehrheitsfähig ist.
       
       Mit Christian Lindner, der in den Hochzeiten des Dieselskandals ein
       „[5][Moratorium zur Aussetzung der EU-Luftqualitätsrichtlinie]“ forderte –
       Motto: Hält die Industrie die Gesetze nicht ein, schaffen wir halt die
       Gesetze ab –, ist kaum ein Staat der Zukunft zu machen, genauso wenig wie
       mit einer CDU, deren starker wirtschaftsliberaler Flügel „Klimakrise“ für
       Geschwätz hält. Aber jeder kann dazulernen.
       
       Union und FDP müssten sich nicht einmal neu erfinden, sondern sich nur an
       die eigenen umweltpolitischen Vorbilder Genscher und Töpfer erinnern und an
       deren Erfahrung, dass Umweltkrisen das Ordnungsrecht erfordern. Die
       Erzählung von der „grünen Verbotspartei“ behindert diesen
       Erkenntnisprozess. Solange es SPD, Konservativen und Liberalen gelingt,
       Verbote als „grüne Zumutung“ darzustellen und damit die Konkurrenz
       einzustampfen, versperren sie sich die Sicht auf ihre eigene Geschichte.
       
       Das ökologisch interessierte Publikum sollte ihnen das nicht durchgehen
       lassen. An eigene umweltpolitische Erfolge gilt es für SPD, Union und FDP
       anzuknüpfen, wenn sie wirksame Klimapolitik machen wollen. Und das, so war
       den Fernsehdebatten zu entnehmen, wollen sie doch.
       
       21 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=vR3q3E6GV2I
   DIR [2] https://www.welt.de/wirtschaft/plus233767174/Baerbock-im-TV-Triell-Warum-Verbote-als-Innovationstreiber-kein-guter-Weg-sind.html
   DIR [3] https://twitter.com/c_lindner/status/1437324938067779586
   DIR [4] https://dejure.org/gesetze/BImSchG
   DIR [5] https://www.fdpbt.de/luksic-deutschland-muss-sofortiges-grenzwert-moratorium-draengen
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heike Holdinghausen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Innovation
   DIR Umweltpolitik
   DIR Bündnis 90/Die Grünen
   DIR Bundesumweltministerium
   DIR Nachruf
   DIR Schwerpunkt Klimasabotage
   DIR Annalena Baerbock
   DIR Annalena Baerbock
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR FDP
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Nachruf auf Klaus Töpfer: Das grüne Gewissen der CDU
       
       Klaus Töpfer sollte als Bundesumweltminister die Grünen kleinhalten – und
       sorgte mit seiner unermüdlichen Art als Brückenbauer für echtes Umdenken.
       
   DIR Klaus Töpfer gestorben: Der Urtyp aller Umweltminister
       
       Klaus Töpfer galt als „grünes Gewissen“ der CDU. Schon 1988 forderte er den
       Atomausstieg. Nun ist der frühere Umweltminister im Alter von 85 Jahren
       gestorben.
       
   DIR Geschichte des deutschen Klimaschutzes: Weltmeister im Aufweichen
       
       Die Bundesrepublik gab sich 1990 als erster Staat der Welt ein nationales
       Klimaschutzziel. Seitdem wurde es immer wieder unterlaufen und aufgeweicht.
       
   DIR Wie wir Medien vor der Wahl versagen: Der Wahlkampf unserer Leben
       
       Man könnte sich schön lustig machen über Trielle und Kandidaten. Aber vor
       dieser Bundestagswahl haben viele versagt, auch wir Medien.
       
   DIR Wahlkampfaussagen der Grünen: In die Verbotsfalle getappt
       
       Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock betont Verbote, die Partei holt wieder
       den Angstwahlkampf heraus. Das kommt nicht gut an.
       
   DIR Der ökologische Wandel des Olaf Scholz: Plötzlich Klimaschützer
       
       Lange fand Olaf Scholz das Klimathema eher lästig. Jetzt, im Wahlkampf,
       wirbt er als „Kanzler für Klimaschutz“. Was ist davon zu halten?
       
   DIR FDP-Chef Lindner über Klimapolitik: „German engineered Klimaschutz“
       
       Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner setzt beim Klimaschutz auf den Markt
       und neue Technologien. Ein Gespräch über Freiheit in der Klimakrise.