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       # taz.de -- Wie wir Medien vor der Wahl versagen: Der Wahlkampf unserer Leben
       
       > Man könnte sich schön lustig machen über Trielle und Kandidaten. Aber vor
       > dieser Bundestagswahl haben viele versagt, auch wir Medien.
       
   IMG Bild: Starren auf Leinwände: Journalisten verfolgen das Triell zur Bundestagswahl am Sonntag
       
       BERLIN taz | Paul Ziemiak zupft am Anzug und schaltet seine Stimme auf
       zackig. Warum, so haben die Kollegen der veranstaltenden Sender den
       Generalsekretär der CDU gerade gefragt, freut sich Armin Laschet auf
       [1][dieses Triell]? „Er freut sich, weil er vor Millionen Zuschauern auf
       Sat.1, ProSieben und Kabel Eins sagen kann, was er in diesem Land bewegen
       will“, sagt Ziemiak.
       
       Kamera aus, danke, reicht.
       
       „Sender alle richtig aufgezählt?“, sagt Ziemiak, jetzt im jovialen
       Sprechmodus. Die beiden Journalisten nicken, er nickt und setzt sich wieder
       zu seiner Peergroup im Fanblock der CDU/CSU, der sich 20 Meter Luftlinie
       vom Fanblock der Grünen gruppiert hat. In der Nähe eines großen Fernsehers
       sitzen Volker Bouffier, Thomas Strobl, [2][Doro Bär], [3][Serap Güler],
       Laschets neue Klimaexpertin [4][Wiebke Winter] und Roman Weidenfeller, ein
       Ex-Torwart, der offenbar auch zu Laschets wichtigsten Beratern gehört.
       
       ## Entpolitisierung durch Politikunterhaltungsformate
       
       Tja, und so könnte man jetzt schön erzählen, wer aus den Profi-Fanclubs der
       drei Spitzenkandidaten von Union, SPD und Grünen am Sonntagabend in einem
       TV-Produktionsgebäude in Berlin-Adlershof keine Strümpfe trug, wer
       fröhlich-fränkisch-scheppernd durch den Raum krakeelte, wer dauernd zum
       Rauchen rausging, welcher Fußballheld außerdem noch bei der CDU und welcher
       Starpianist bei den Grünen-Ultras saß, und dass bei Letzteren gar niemand
       strickte, sondern fast alle obsessiv am Telefon rumfummelten, und
       mutmaßlich nur eine wirklich zuschaute (nämlich Claudia Roth).
       
       Man könnte die Frage stellen, was es bringt, sich in ein Fernsehstudio zu
       setzen, um eine Sendung im Raum nebenan anzuschauen und dann auch noch zu
       klatschen, wenn der jeweils eigene Kandidat das sagt, was er immer sagt,
       oder höhnisch zu lachen, wenn ein anderer das sagt, was er immer sagt. (Auf
       Nachfrage erfährt man, dass es selbstverständlich „nichts“ bringt.)
       
       Es wäre jedenfalls ein großer Schreib- und Lesespaß. Aber, und jetzt
       kommt's ganz dick, das würde nur die Entpolitisierung der Politik durch
       Politikunterhaltungsformate reproduzieren. Es würde – wie der
       Talkshowkritik-Klassiker – darauf hinauslaufen, dass Politik, und vor allem
       auch die anderen Medien, es einfach nicht draufhaben und dass man
       wenigstens noch den schönen alten Distinktionsgewinn haben kann, wenn man
       sagt, dass man selbst nicht so bescheuert ist wie alle anderen.
       
       ## Zuspitzung auf Einzelpersonen macht den Wahlkampf kaputt
       
       Selbstverständlich kann man, wie [5][die Grünen gerade in Versuchung] sind,
       die Schuld immer noch bei allen anderen suchen, der bösen Welt und so
       weiter, aber das reicht nicht mehr. Entweder man sagt, es ist halt, wie es
       ist, Mund abputzen, weitermachen. Oder, wenn einem das nicht genügt, muss
       man sich erst einmal eingestehen, dass alle in diesem Wahlkampf versagt
       haben, speziell auch wir Medien als Ganzes.
       
       Die entpolitisierende Zuspitzung auf Einzelpersonen und deren vermeintliche
       Charakter, die auch dieser Wahlkampf wieder kaputtgemacht hat, die
       Reduzierung auf Rollen – die Hochstaplerin, der Clown und dann Scholz als
       Last Man Standing – ist verständlich im Denken der Unterhaltungsmedien, die
       wir ja alle, etwas mehr oder etwas weniger, sind. Alle schielen wir auf
       unsere Zielgruppe, der wir das geben, von dem wir denken wollen, dass sie
       das konsumieren will: die richtigen Emotionen. Und das kann es einfach
       nicht sein.
       
       Es ist uns nicht gelungen, die bundesrepublikanischen
       Dauerregierungsparteien Union und SPD aus ihrem Modus des letzten
       Jahrhunderts zu holen, aus einer fossil befeuerten Boomer-Welt, in der
       Leute unter 30 keine Rolle spielen und man endlos weiter reden will über
       Mindestlohn ja oder nein, Steuererhöhungen nein oder ja.
       
       Das haben die drei Fernsehsendungen mit den Spitzenkandidaten Laschet,
       Scholz und Baerbock ja nicht exklusiv, dass die großen Zukunftsfragen nicht
       oder kaum auftauchen – Europa, China, Digitalisierung, neue Macht- und
       Außenpolitik. Der Blick ist national as it can be. Besonders auffällig,
       dass dauernd gesagt wird, wie wichtig Klima in diesem Wahlkampf sei – um
       die eskalierende Klimakrise damit schön abzumoderieren.
       
       ## Keines der Programme begrenzt die Erderhitzung ausreichend
       
       Wenn man die zukunftspolitischen [6][Programme aller Parteien] ernst nimmt
       – und das muss man in diesem Fall –, dann gibt es keine Partei, die Politik
       für eine Begrenzung der [7][Erderhitzung auf 1,5 Grad] entwickelt hat. Auch
       die Grünen nicht, die mit ihrem Marketingsprech vom „1,5-Grad-Pfad“ – mit
       freundlicher Unterstützung von Fridays for Future – verschleiert haben,
       dass sie eben bestenfalls auf 1,8 hinauswollen, was aber wohl auch längst
       illusorisch ist. Während die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD
       locker-flockig Richtung 3 Grad zielen. Um das einzuordnen, muss man sich
       vorstellen, die wollten die Arbeitslosigkeit auf 40 Millionen Deutsche
       begrenzen. Da wär was los – und zwar zu Recht.
       
       Bernd Ulrich hat in der Zeit auf den Punkt gebracht, dass SPD-Kandidat Olaf
       Scholz mit seiner Idee, der [8][Klimakrise mit „moderater“ Politik] zu
       begegnen, uns eine radikal veränderte Zukunft einbrocken will – radikal
       schlechter als heute. Wenn „Weiter so“ meint, dass wir weiter in Freiheit,
       Demokratie und relativem Wohlstand durch eine funktierende Wirtschaft leben
       wollen, dann braucht es jetzt ernsthafte Zukunftspolitik, damit es
       weitergehen kann.
       
       ## Die Zukunft wird ausgeklammert
       
       Offenbar gibt es eine unausgesprochene Abmachung, über die zentralen
       Zukunftsthemen nicht zu sprechen. Beziehungsweise haben wir Journalisten
       die Agenda des Ausklammerns der Zukunft akzeptiert, die speziell die beiden
       Parteien vorgeben, die seit zig Jahren die Macht und Posten schön verteilt
       haben. Die in der fossilen Nachkriegswelt mit ihrer reformistischen
       Maß-und-Mitte-Politik auch viel hingekriegt haben, aber die nun nicht aus
       ihrem dysfunktionalen Modus herauskommen und immer weiter so tun, als mache
       es einen furchtbar großen Unterschied, wer von beiden das illusionistische
       Weiter-so anführt.
       
       Kaum einer redet darüber, dass die von Scholz und Laschet vertretene
       Klimapolitik nicht mal annähernd reicht, um das Klima-Abkommen von Paris
       einzuhalten, die diese Parteien selbst unterschrieben haben. Auch nicht, um
       die bundesdeutsche Wirtschaft am Laufen zu halten. Stattdessen immer wieder
       die Frage, ob etwa jemand – strenger Blick auf die Grünen-Vorsitzende
       Baerbock – irgendetwas „verbieten“ will. Mit diesem Spin wird der
       Problemlösungsversuch zum Problem, das Problem gibt es nicht mehr.
       
       Ich verbiete nix, sagt dann Scholz immer staatstragend. Damit will er
       punkten, und vielleicht tut er das, aber es ist auch die bedingungslose
       Kapitulation, bevor der Kampf um unsere Zukunft überhaupt begonnen hat.
       Oder nicht? Darüber muss man jedenfalls sprechen und streiten, da muss man
       dazwischenfragen, da muss man Fachkenntnisse haben und einen Blick für das
       zukünftige Ganze – und das fehlt uns Journalisten zu oft.
       
       Ich selbst bin da keine Ausnahme und habe unlängst den FDP-Vorsitzenden
       Christian Lindner in einem [9][taz-Interview] zu leicht davonkommen lassen,
       weil ich an wichtigen Stellen nicht die angemessenen Fragen gestellt habe –
       und das geht mir ziemlich nach, weil das Interview keine gute Arbeit war,
       sondern nur gute Unterhaltung, was ja auch ein Kunsthandwerk ist, aber in
       unserer Lage reicht das nicht mehr.
       
       ## Wir Journalisten müssen uns schulen
       
       Was ich damit sagen will: Wir müssen es uns nach der Wahl auch als
       Journalisten eingestehen, wenn wir es in diesem Wahlkampf nicht gut gemacht
       haben. Wir müssen uns in den zukunftspolitischen Themen fachlich schulen.
       Und wir brauchen einen Plan, wie wir den Kopf oben behalten und uns nicht
       treiben lassen von Propaganda, PR, der Agenda der politischen
       Besitzstandswahrer und absurden Spins wie jenem, dass Redaktionen heute
       alle „grün“ seien, speziell die Öffentlich-Rechtlichen, wenn dort in
       Wahrheit alle Gremien von Union und SPD dominiert werden und die
       Journalisten zwar Gott sei Dank gesellschaftsliberaler sind als in den 60er
       Jahren des letztens Jahrhunderts, aber die Klimakrise in ihrer Bedeutung
       eben auch noch nicht durchdrungen haben.
       
       Als der Grünen-Bundesvorsitzende Robert Habeck im Frühjahr das Wording vom
       „Wahlkampf unseres Lebens“ prägte, da schien das erst mal seine Grünen zu
       meinen und sah bald darauf so aus, als hätten die sich daran böse
       verschluckt, hahaha. Habecks Pathos ist ja immer strategisch und zutiefst
       romantisch zugleich – und nun stellt sich heraus, dass er damit für die
       Gesellschaft, für die Politik und auch für die Medien die Lage auf den
       Punkt gebracht haben könnte. Viele, zu viele, haben nicht gecheckt, dass
       dies auch der Wahlkampf unserer Leben war.
       
       Und dass wir alle es sind, die ihn vergeigen.
       
       20 Sep 2021
       
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