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       # taz.de -- Tödlicher Schuss in Idar-Oberstein: Radikalisierung ohne Ende
       
       > Ein 20-Jähriger wird erschossen, weil er zum Maske tragen auffordert. In
       > seiner Stadt sind alle entsetzt. Bei Telegram gibt es auch andere
       > Reaktionen.
       
   IMG Bild: Trauer in Idar-Oberstein: Menschen legen an der Tankstelle Blumen für das 20-jährige Opfer nieder
       
       Frank Frühauf lud am Dienstagnachmittag wieder zur Bürgersprechstunde, so
       wie es der CDU-Oberbürgermeister in Idar-Oberstein regelmäßig tut. Das
       Leben müsse ja irgendwie weitergehen, sagt sein Sprecher. So richtig tut es
       das in der 30.000-Einwohner-Stadt in Rheinland-Pfalz aber noch nicht.
       [1][Denn am Samstag war dort ein junger Verkäufer in einer Tankstelle
       erschossen worden], Alexander W. Und am Montagabend zeichnete sich ab,
       warum: weil der Tatverdächtige keine Maske tragen und „ein Zeichen“ gegen
       die Coronapolitik setzen wollte.
       
       Die Tat war ein Schock für Frühauf und seine Stadt, in der über Ecken jeder
       jeden kennt und viele auch Alexander W. Und das Entsetzen erreichte auch
       die Bundespolitik. Weil sie der vorläufige Höhepunkt einer Radikalisierung
       von einigen Gegner:innen der Coronapolitik darstellt.
       
       Von einer „ganz unfassbaren, ganz schrecklichen Tat“ spricht Frühauf am
       Montagabend in der städtischen Göttenbach-Aula. Polizei und
       Staatsanwaltschaft hatten dort zu einer Pressekonferenz geladen, um über
       die Tat zu informieren. Laut Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann hatte der
       49-jährige Tatverdächtige – ein selbstständiger IT-Mann aus der Stadt – am
       Samstagabend versucht, in der Tankstelle zwei Sechserpack Bier zu kaufen,
       ohne dabei eine Maske zu tragen, wie es der Infektionsschutz vorsieht. Der
       junge Kassierer habe den Mann deshalb auf die Maskenpflicht hingewiesen –
       worauf der Tatverdächtige wütend die Tankstelle verlassen habe.
       
       Knapp zwei Stunden später, gegen 21.25 Uhr, sei der Mann wiedergekommen und
       habe erneut ein Sechserpack Bier zum Tresen gebracht, diesmal mit Maske.
       Dann aber habe er die Maske abgesetzt und sei von dem Verkäufer erneut
       ermahnt worden. Darauf habe der Täter einen mitgebrachten Revolver aus der
       Hosentasche gezogen und dem 20-Jährigen einmal in den Kopf geschossen. Das
       Opfer wurde tödlich verletzt, der Schütze floh.
       
       Nach einer Öffentlichkeitsfahndung hatte sich der Tatverdächtige am
       Sonntagmorgen selbst der Polizei gestellt. Laut Fuhrmann sagte er zu seinem
       Motiv, die Coronapandemie habe ihn „stark belastet“. Er habe sich immer
       weiter in die Ecke gedrängt gefühlt und „keinen weiteren Ausweg mehr
       gesehen, als ein Zeichen zu setzen“. Das Opfer sei für ihn
       mitverantwortlich für die Gesamtsituation, da es die Coronaregeln
       durchgesetzt habe. Nach der Ermahnung habe er sich zu Hause immer mehr
       geärgert und beim zweiten Besuch in der Tankstelle die Maske absichtlich
       abgesetzt, um eine Reaktion zu provozieren.
       
       Auf der Pressekonferenz merkt man Oberbürgermeister Frühauf an, wie
       unbegreiflich diese Tat für ihn ist. Der CDU-Mann belässt es bei wenigen
       Worten. Die Bürger:innen seiner Stadt seien sehr betroffen und würden
       der Opferfamilie große Anteilnahme zukommen lassen, sagt er. Dann dankt er
       der Polizei und schweigt.
       
       In Idar-Oberstein legten schon am Wochenende Bürger:innen Blumen vor die
       Tankstelle, in der Alexander W. erschossen wurde. Die Stadt verordnete eine
       Trauerbeflaggung. Der Student Alexander W. arbeitete laut Polizei erst seit
       wenigen Monaten als Aushilfe an der Tankstelle, um sich Geld für einen
       Führerschein zu verdienen. Er lebte in Idar-Oberstein.
       
       Seinen mutmaßlichen Mörder kannte die Polizei bisher nicht, er war nicht
       vorbestraft. Eine waffenrechtliche Erlaubnis besaß er nicht. Den
       Tatrevolver und eine weitere Schusswaffe samt Munition fand die Polizei bei
       ihm zu Hause, die Herkunft wird noch ermittelt. Auch ob er politisch schon
       aktiv war, etwa bei Coronaprotesten, sei bisher nicht bekannt, erklärte
       Fuhrmann auf taz-Nachfrage. Der 49-Jährige sitzt nun wegen Mordverdachts in
       U-Haft.
       
       ## Angriff auf's Impfzentrum
       
       Das Entsetzen teilte auch die Bundespolitik. SPD-Kanzlerkandidat Olaf
       Scholz twitterte, es erschüttere ihn, „dass jemand getötet wird, weil er
       sich und andere schützen wollte“. Die Gesellschaft müsse sich „dem Hass
       entschlossen entgegenstellen“. Auch Grünen-Spitzenkandidatin Annalena
       Baerbock zeigte sich erschüttert. „Die Radikalisierung des
       Querdenkermilieus bereitet mir große Sorgen.“ CDU-Generalsekretär Paul
       Ziemiak sprach ebenso von einem „unfassbaren Maß an Radikalisierung“. Ein
       junger Mensch sei nahezu hingerichtet worden, weil er auf die Maskenpflicht
       hingewiesen habe.
       
       Expert:innen hatten schon länger vor der Radikalisierung des
       Coronaprotests gewarnt. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz stufte die
       Bewegung Ende April bundesweit als Beobachtungsobjekt ein. Zwar sprach
       Präsident Thomas Haldenwang zuletzt von einer „gewissen Entwarnung“, weil
       die Coronaproteste rückläufig seien. Nicht verschwunden aber seien
       „bestimmte Protagonisten“, die Verschwörungstheorien verbreiteten und das
       „Vertrauen in staatliche Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig
       zu erschüttern“ versuchten.
       
       Tatsächlich wurde der Ton in den Social-Media-Kanälen der
       Coronaprotestierenden zuletzt immer rauer. Gewaltaufrufe kursierten dort,
       Anschuldigungen, dass der Staat mit Impfungen Menschen töte. Einige wähnen
       sich im Krieg, berufen sich auf vermeintliche Notwehr. Es gibt Aufrufe,
       mobile Impfteams anzugreifen.
       
       Tatsächlich hatten erst vor wenigen Tagen Unbekannte auf das Impfzentrum in
       Eich (Sachsen) drei Bierflaschen mit brennbarer Flüssigkeit geworfen. Ein
       Feuer brach nicht aus. In Friesland in Niedersachsen soll eine
       coronaskeptische Krankenschwester Impfungen nur mit Kochsalzlösung
       durchgeführt haben. Bereits im März hatte ein 30-Jähriger aus Protest gegen
       die Coronamaßnahmen einen Brandanschlag auf das Rathaus Delmenhorst verübt.
       In Bayern stoppten Coronaverharmloser einen ICE, in Berlin wurde ein
       Brandsatz vor dem Robert Koch-Institut gezündet.
       
       ## Eine Stadt ist im Schockzustand
       
       Und selbst der Mord in Idar-Oberstein wurde in Telegram-Kanälen der Szene
       von einigen gefeiert. „Kein Mitleid“, kommentierte ein Nutzer ein Posting
       des Rechtsextremen Sven Liebich zu der Tat. „Die Leute immer mit dem
       Maskenscheiß nerven. Da dreht irgendwann mal einer durch. Gut so.“ Ein
       anderer schrieb: „Wenn’s die Richtigen trifft, hab ich nichts dagegen.“ Ein
       Dritter bekundete: „Es herrscht Krieg für mich, da wird nicht mehr
       diskutiert.“
       
       In Idar-Oberstein sammeln Anwohner:innen derweil Spenden für die
       Familie von Alexander W. „Wir sind zusammen mit so vielen anderen vor allem
       eins: fassungslos“, hieß es am Mittwoch im Stadtportal. Und auch
       Oberbürgermeister Frühauf war sich bewusst: „Das zu verarbeiten wird seine
       Zeit dauern.“
       
       21 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Vorfall-an-Tankstelle-in-Idar-Oberstein/!5802559
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Konrad Litschko
       
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