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       # taz.de -- Über den Umgang mit Traurigkeit: Der Blick zum Mond
       
       > Was tun, wenn die Traurigkeit einen überfällt? Der Ethikrat ist selbst
       > trostbedürftig – und deshalb nur begrenzt hilfreich.
       
   IMG Bild: „Für uns“, sagte der Ratsvorsitzende, „sind gute Kinderbücher ein zeitloser Gewinn.“
       
       Vor Kurzem überfiel mich die Traurigkeit wie ein hinterhältiger Affe,
       krallte sich in meinen Rücken und blieb eine Weile. Ich radelte mit ihr
       durch den Regen in die Bücherhalle, um ein paar Bilderbücher für die Kinder
       und für mich einen nicht unheimlichen Krimi auszuleihen, als ich auf der
       Rolltreppe den Ethikrat sah.
       
       Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir
       [1][gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik] geben. Der Rat
       trug gelbe Regenmäntel, auf denen Tropfen herabrannen, und ich dachte, dass
       sie Tränen ähnelten und dass der letzte, den ich hatte weinen sehen, ein
       Bauer gewesen war, dessen Pferd gestorben war. Es war 25 Jahre alt und
       krank und zum Sterben war es einen Hang hinaufgestiegen, obwohl ihm zum
       Laufen eigentlich die Kraft fehlte.
       
       Der Ethikrat schwebte die Rolltreppe empor und ich fuhr mit etwas Abstand
       hinterher, weil die traurigen Tage Gespräche eher erschweren. In der
       Bücherhalle hatten andere vor mir die nicht unheimlichen Krimis
       ausgeliehen, deswegen ging ich zu der Bilderbuch-Ecke, wo der Ethikrat auf
       den Kinderstühlen Platz genommen hatte. „Guten Tag“, sagte ich. „Suchen Sie
       für sich oder für andere?“ „Für uns“, sagte der Ratsvorsitzende, „gute
       Kinderbücher sind ein zeitloser Gewinn.“ „Ja“, sagte ich, „aber sie sind
       rar.“ Die beiden Ratsmitglieder, die in der Regel schweigen, nickten mir zu
       und entfernten sich in Richtung der Abteilung „Zaubertricks und Ulk“. Der
       Vorsitzende sah ihnen missbilligend hinterher. „Haben Sie eine Frage an
       uns?“, wandte er sich an mich.
       
       „Eigentlich nicht“, sagte ich, denn die Traurigkeit ist nicht förderlich,
       was das Vertrauen in Antworten anbelangt, und wenn man ehrlich war, hatte
       der Ethikrat kaum dazu beigetragen, es zu stärken. „Es wäre schade, wenn
       unser Austausch unergiebig für Sie bliebe“, sagte der Ratsvorsitzende und
       legte ein Bilderbuch beiseite, aus dem es muhte. „Sicherlich nicht“, sagte
       ich hastig, „mir scheint nur, dass es für meine Frage keine Antwort gibt,
       das heißt, es ist keine echte Frage.“
       
       ## Die Vorteile des ungenauen Blicks
       
       Aber dann haspelte ich weiter, denn der Ratsvorsitzende wirkte ungewohnt
       milde. „Natürlich ist das Traurige immer da, der Tod, die Ohnmacht“, sagte
       ich, „wie der Mond, den man tagsüber nicht sieht, oder nur, wenn man genau
       guckt. Und das Nicht-genau-Gucken ist ja auch sinnvoll, denn die
       Traurigkeit führt ja nicht zu großen Taten, ich zumindest mache mich dann
       nicht auf, um die Welt zu retten.“ Es muhte erneut und ich brach ab.
       
       Es ist kein Vergnügen, sein löchriges Seelenleben aufzublättern, der Rahmen
       sollte ein Minimum an Würde haben. „Pardon“, sagte der Vorsitzende. „Meine
       95-jährige, gelähmte Tante sagt sich die Gründe auf, weshalb sie nicht
       traurig sein muss“, fuhr ich fort. „Und vielleicht ist es das Verfahren,
       das man auch bei dieser vagen Traurigkeit anwenden sollte. Oder zumindest
       ein gewisses Maß an Widerstand, wie auch immer“. Ich brach ab. Der Ethikrat
       verstand sich nicht als Seelentröster.
       
       Nun“, sagte der Ratsvorsitzende, „natürlich gab es einen Strang in der
       Theologiegeschichte, in der die Versenkung in die Melancholie kritisch
       gesehen wurde. Dennoch bleibt ein Moment, das dem eigenen Zugriff entzogen
       ist.“ In diesem Moment kam ein bebrilltes Kind, das dem Vorsitzenden hurtig
       das Bilderbuch aus der Hand riss. „Wertes Kind“, sagte der Vorsitzende,
       „sicherlich ist dir nicht entgangen, dass ich es zuerst hatte.“ „Mir egal“,
       sagte das Kind und schlenderte aufreizend langsam davon.
       
       „Möchten Sie hinterhergehen?“, fragte ich. Der Vorsitzende schüttelte den
       Kopf. „Manchmal ist man es leid“, sagte ich. „Ja“, sagte der Vorsitzende,
       „das ist man.“ Und dann schwiegen wir jenes Doppelschweigen, das folgt,
       wenn es keine Antwort gibt und das eigene Seelenleben unangenehm
       ausgebreitet herumliegt. Aber in diesem Moment kehrten die beiden anderen
       Ratsmitglieder zurück und trugen mit sich ein Buch, aus dem es laut muhte.
       
       12 Oct 2021
       
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