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       # taz.de -- Pfleger*innen wollen streiken: „Wir können nicht mehr“
       
       > Stella Merendino engagiert sich in der Berliner Krankenhausbewegung. Die
       > Pflegerin erlebt täglich, was Überlastung bedeutet. Ein Gastbeitrag.
       
   IMG Bild: Protest vor dem Reichstag – weil die Unterstützung aus der Politik ausbleibt
       
       Berlin taz | Als ich an der Patientin vorbeieile, ruft sie mir zu: „Ich
       muss mal zur Toilette.“ Ich bin auf dem Weg zu einem Notfall, habe
       überhaupt keine Zeit und blicke mich hektisch um. Keine meiner
       Kolleg*innen ist in der Nähe. „Ich komme gleich“, antworte ich wider
       besseres Wissen.
       
       Ich laufe weiter zum Schockraum, wo ein Schlaganfallpatient mit der
       Besatzung des Rettungswagens auf mich wartet. Der Neurologe ist kurz nach
       mir im Raum, drängt mich, schneller zu machen, und hat damit recht.
       Eigentlich müssten wir diesen Patienten mit zwei Pflegekräften versorgen –
       bei Schlaganfällen kommt es auf jede Minute an.
       
       Keine meiner Kolleg*innen kann helfen, und auch sie haben schwer
       erkrankte Patient*innen zu versorgen. Eigentlich wären sieben
       Fachkräfte vorgesehen und auch bitter nötig: Unsere Notaufnahme behandelt
       ungefähr 46.000 Patienten im Jahr, durchschnittlich 42 Patient*innen
       pro Schicht, an schlimmen Tagen 70. Wir sind zu dritt!
       
       ## Ich liebe meinen Beruf
       
       Seit über vier Jahren arbeite ich in der Notaufnahme eines
       Vivantes-Klinikums. Ich liebe meinen Beruf und möchte meine
       Patient*innen immer in guten Händen wissen, doch egal, wie viel Mühe
       ich mir gebe, ich kann die Personalnot nicht ausgleichen. Der
       Personalmangel führt in den Notaufnahmen dazu, dass Hygienestandards,
       Leitlinien und Empfehlungen von Fachgesellschaften missachtet werden
       müssen.
       
       Die Patient*innen kommen zu kurz und werden unnötig in Gefahr gebracht.
       So habe ich das in meiner Ausbildung nicht gelernt. Ich schäme mich dafür,
       meine Patient*innen nicht fachgerecht und sicher versorgen zu können.
       Das belastet und frustriert mich so sehr, dass ich, wie viele meiner
       Kolleg*innen, schon länger darüber nachdenke, mich in die Teilzeit zu
       flüchten.
       
       ## Schichtgenaue Personalbesetzung
       
       Meine Kolleg*innen aus der Rettungsstelle und ich haben uns Anfang
       April der [1][Berliner Krankenhausbewegung] angeschlossen, weil wir die
       Zustände in den Kliniken nicht mehr ertragen. Wenn sich ein komplettes Team
       innerhalb von drei Wochen gewerkschaftlich organisiert, sagt das einiges
       aus über unser Gesundheitssystem und wie die Kolleg*innen behandelt
       werden.
       
       Wir sprechen mit Politikern, machen auf unsere Situation aufmerksam und
       betreiben intensive Öffentlichkeitsarbeit. Für mich sind dieser
       Zusammenhalt und die gemeinsame Power eine großartige Erfahrung. Die Pflege
       ist endlich aufgestanden und kämpft für ihre Patient*innen. Traurig ist es
       dennoch, dass es so weit kommen musste.
       
       Unsere Forderungen sind simpel. Wir wollen nicht mehr Geld, sondern eine
       [2][schichtgenaue Personalbesetzung] für alle Bereiche im Krankenhaus. Für
       mich würde das bedeuten, dass ich weiter in Vollzeit für meine
       Patient*innen da sein kann und sie nicht mehr mit einem „Ich komme
       gleich“ vertrösten muss.
       
       Für Schichten, in denen die Personalbesetzung nicht eingehalten wird,
       fordern wir einen Belastungsausgleich in Form von Freischichten. An der
       [3][Uniklinik Jena] haben die Kolleg*innen genau das erreicht. Damit
       wird die Klinikleitung unter Druck gesetzt, mehr Personal in den Schichten
       einzusetzen, und wir bekommen einen wirksamen Ausgleich für die Zeit, in
       der wir unter Überlastung arbeiten müssen.
       
       Ein „Tarifvertrag Entlastung“ gäbe uns endlich Sicherheit, unseren Beruf
       verantwortungsvoll und mit hoher Qualität ausüben zu können, ohne dabei
       selbst krank zu werden. Nur unter diesen Bedingungen werden ehemalige
       Kolleg*innen wieder in den Beruf zurückkommen oder die Teilzeit wieder
       aufstocken. Das ist eine Riesenchance! Ändert sich aber nichts, werden
       sicher noch mehr Kolleginnen und Kollegen das Handtuch schmeißen. Dann
       werden wir weniger, statt mehr.
       
       ## Was macht eigentlich die Politik?
       
       Man könnte denken, es gibt kein Thema in der Stadt, bei dem sich die
       Parteien so einig sind. [4][Egal ob SPD], Grüne, Linke, CDU oder FDP –
       überall bekommen wir Zuspruch für unsere Forderungen. Und trotzdem sehe ich
       mich wieder vor die Entscheidung gestellt, in den Streik zu gehen, weil
       sich zu wenig bewegt. Die Berliner Landespolitik muss jetzt die
       Rahmenbedingungen schaffen, damit Charité und Vivantes einen guten
       „Tarifvertrag Entlastung“ und den „TVöD für alle“ mit uns aushandeln.
       Alles, was jetzt nicht mutig angegangen wird, wird uns allen, wirklich
       allen später umso mehr auf die Füße fallen.
       
       Ich möchte nicht streiken, aber es ist unser allerletztes Mittel im Kampf
       für die Würde unserer Patienten und die Gesundheit unserer Kolleg*innen.
       Wenn es sein muss, streiken wir auch bis zum Wahltag am 26. September.
       
       6 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stella Merendino
       
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