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       # taz.de -- Selbstbestimmung bei den Filmfestspielen: Die Kontrolle zurückgewinnen
       
       > Starke Frauenfiguren kommen bei den Filmfestspielen in Venedig in diesem
       > Jahr nicht zu kurz. Darunter eine Psychiatriepatientin mit
       > übernatürlichen Fähigkeiten.
       
   IMG Bild: Die mit übersinnlichen Kräften ausgestattete Mona Lisa wandelt durch New Orleans
       
       Starke Frauenfiguren gibt es dieses Jahr bei den Filmfestspielen von
       Venedig eine ganze Menge. Neben den zwei Auftritten von Penélope Cruz
       ([1][„Madres paralelas“ von Pedro Almodóvar] und [2][„Competencia oficial“
       von Gastón Duprat und Mariano Cohn]) wäre da Maggie Gyllenhaals
       Regiedebüt „The Lost Daughter“, in dem Olivia Colman very british
       kontrolliert-unkontrolliert eine von ihrer Mutterrolle traumatisierte
       Professorin im Griechenlandurlaub spielt.
       
       Unter den jüngeren Schauspielerinnen fällt Anamaria Vartolomei auf. Sie ist
       in Audrey Diwans Literaturverfilmung „L’événement“ nach dem gleichnamigen
       Roman von Annie Erneaux in der Rolle der Studentin Anne zu sehen.
       
       Anne hat eine vielversprechende Karriere als Literaturwissenschaftlerin vor
       sich, man schreibt das Jahr 1963, diskutiert wird über Camus und Sartre und
       die richtige Abendgarderobe, wenn man zu einer „Tanzveranstaltung“ geht.
       Vartolomei gibt Anne als lakonisch selbstbewusste Frau, die sich ihrer
       akademischen Fähigkeiten ebenso sicher ist wie ihrer Wirkung auf Männer.
       
       Als eine Untersuchung beim Frauenarzt ergibt, dass sie schwanger ist, will
       Anne das Kind um jeden Preis loswerden. Bei Medizinern wie Kommilitonen
       stößt sie auf Unverständnis, zumal eine Abtreibung noch strafbar ist.
       Vartolomei zeichnet den Wandel von erster Verstörung bis zu Verzweiflung in
       ihrer Figur mit leicht veränderter Mimik nach, bis die Angelegenheit in
       beklemmender Weise körperlich wird.
       
       Diwan beschränkt die Erzählung fast ausschließlich auf die Frage, welche
       Möglichkeiten der Selbstbestimmung eine ungewollt Schwangere in den
       sechziger Jahren hatte. Und sie spitzt ihr Anliegen in ideologisch platter
       Form zu, sodass die Botschaft am Ende das Medium bestimmt. Anamaria
       Vartolomei tut innerhalb dieser Grenzen, was sie kann.
       
       ## Schwanger im Kloster
       
       Eine ebenfalls unfreiwillig schwangere junge Frau spielt Ioana Bugarin in
       der Reihe Orizzonti im rumänischen Film „Miracol“ (Wunder) von [3][Bogdan
       George Apetri]. Die Novizin Cristina fährt eines Morgens heimlich von ihrem
       Kloster in die Stadt, weil sie „Kopfschmerzen“ hat.
       
       Nach dem Besuch der gynäkologischen Abteilung einer Klinik fragt sie bei
       der Polizei nach einem bestimmten Kommissar. Der ist jedoch nicht auf der
       Wache. Stets lässt Bugarin diese Cristina dabei in kontrollierter
       Verschlossenheit handeln. Als sie unverrichteter Dinge im Taxi zum Kloster
       zurückfahrt, wird sie unterwegs vom Fahrer bei einer Pause vergewaltigt und
       schwer verletzt.
       
       Im zweiten Teil des Films ermittelt der Kommissar Marius Preda (Emanuel
       Pârvu) im Fall von Cristina, die im Krankenhaus mit dem Leben ringt. Apetri
       erklärt wenig, gibt aber in seiner sparsamen Regie zu verstehen, dass
       Cristina und Marius sich kennen.
       
       Später wird ein und dieselbe entscheidende Szene in zwei Wendungen
       wiederholt. Offen bleibt, ob es sich um zwei verschiedene Enden handelt
       oder um einen Tagtraum und die anschließenden „echten“ Ereignisse.
       
       ## Mit Magie aus der Klinik entkommen
       
       Eine stark konzipierte Frauenrolle ist ebenfalls die Titelfigur im
       US-amerikanischen Wettbewerbsbeitrag „Mona Lisa and the Blood Moon“ von Ana
       Lily Amirpour. Diese Mona Lisa Lee, eine Psychiatriepatientin koreanischer
       Abstammung, befreit sich zu Beginn des Films dank übernatürlicher
       Fähigkeiten, mit denen sie die Handlungen anderer Menschen kontrolliert,
       aus der Klinik.
       
       Jeon Jong-seo lässt diese „Wonder Woman“ danach wie einen Alien durch New
       Orleans irren, wo sie auf einen hilfsbereiten Techno-DJ, eine
       geschäftstüchtige Stripperin ([4][Kate Hudson]) und deren
       Heavy-Metal-begeisterten Sohn trifft. Einer der humorvolleren Filme dieses
       Jahrgangs, auch was den spielerischen Umgang mit Außenseiterrollen angeht.
       
       8 Sep 2021
       
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