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       # taz.de -- Politologe über kleine Parteien: „Ein treibender Motor“
       
       > Stimmen für Kleinstparteien sind nicht unbedingt „verschenkt“, sagt
       > Benjamin Höhne. Auch ohne Mandat können sie die Etablierten unter Druck
       > setzen.
       
   IMG Bild: „Wir brauchen eine Debatte über die Fünf-Prozent-Hürde“: Aktivist*innen der Klimaliste im Wahlkampf
       
       taz: Herr Höhne, wenn man nach den Wahlplakaten in Berlin geht, scheint es
       für die Abgeordnetenhauswahl dieses Mal besonders viele Kleinparteien zu
       geben. Ist die Unzufriedenheit mit den Etablierten nochmal gestiegen seit
       den vergangenen Wahlen? 
       
       Benjamin Höhne: In der Tat nimmt die Zahl der Parteien seit Jahren zu. Aber
       ich würde nicht von vornherein sagen, dass das etwas mit Unzufriedenheit
       mit den Etablierten zu tun hat.
       
       Sondern? 
       
       Ich würde es neutraler formulieren: Wir beobachten eine Ausdifferenzierung
       der Angebotsseite. Es gibt mehr parteipolitische Angebote als noch vor 30
       Jahren; damit halten die Parteien ein Stück weit Schritt mit der
       Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Die ist ja viel heterogener als
       früher. Und wir sehen auch, dass es den einstigen Volksparteien CDU/CSU und
       SPD immer schwerer fällt, Integrationskraft zu entfalten. Dagegen haben es
       die kleinen Mitbewerber leichter mit ihren zielgerichteten Angeboten –
       teils monothematisch, manche aber auch mit zwei, drei Themenfeldern.
       
       Weil die Gesellschaft sich immer mehr ausdifferenziert in gesellschaftliche
       Gruppen, müssen die Parteien das mitmachen? 
       
       Nicht zwangsläufig. Aber sicherlich reagieren Parteien auf
       gesellschaftlichen Wandel. Das faktische Verhältniswahlsystem in
       Deutschland fördert dies stärker als andere politische Systeme. In
       Großbritannien, den USA oder auch Frankreich, wo es ein Mehrheitswahlsystem
       gibt, ist es schwieriger für neue BewerberInnen aus nicht etablierten
       Parteien, Mandate zu gewinnen.
       
       Dafür haben wir die Fünfprozenthürde. Wer eine Kleinpartei wählt, weiß oft
       vorher, [1][dass die Stimme verschenkt ist], oder? 
       
       Jein. Es stimmt zwar: Die Fünfprozent-Sperrklausel ist eine hohe Hürde.
       Andererseits ist eine wichtige Schwelle für die Kleinstparteien die
       Parteienfinanzierungsschwelle – und die liegt bei 0,5 Prozent der gültigen
       Zweitstimmen bei Bundestags- und Europawahlen, und bei 1 Prozent für
       Landtagswahlen wie der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Das heißt, es kann
       durchaus rational sein, einer kleinen Partei die Stimme zu geben, damit sie
       diese Hürde nimmt. Dann kommt sie in den Genuss der staatlichen
       Parteienteilfinanzierung und kann den Wahlkampf finanzieren, der
       tendenziell kapitalintensiver wird.
       
       Strategisch gerate ich als Wählerin aber in die Bredouille: Wenn mir etwa
       das Klimathema sehr am Herzen liegt und ich denke, dass die Etablierten
       nicht genug tun, könnte ich dieses Mal die Klimaliste wählen. Aber schade
       ich damit nicht meinem Anliegen, weil dann den Grünen meine Stimme fehlt? 
       
       Ja, das ist eine Rechnung, die aufgemacht werden sollte. Wenn Sie sich eine
       radikalere Klimapolitik wünschen, werden Sie vermutlich unzufrieden sein
       mit einem eher moderaten Kurs, den die grüne Partei in der Bundesregierung
       oder im Berliner Senat wahrscheinlich verfolgen würde, schließlich muss sie
       in einer Koalition Kompromisse eingehen. Aber zurück zu Ihrer Frage: Macht
       es Sinn, zum Beispiel als Klimaaktivistin die Klimaliste zu wählen?
       
       Und was sagen Sie? 
       
       Erst mal „verschenkt“ man eine Stimme im Sinne parlamentarischer
       Wirksamkeit, wenn man eine Partei wählt, die nicht ins Parlament kommt.
       Andererseits: Je größer der Anteil für radikalere Umweltparteien links der
       Grünen wird, desto stärker ist die Signalwirkung für die Bündnisgrünen,
       noch mehr zu tun und dieses Klientel im Blick zu behalten.
       
       Eine Kleinpartei ist also Antreiberin, indem sie Druck macht, dass die
       Etablierten radikaler oder mutiger werden oder zu ihren Ursprüngen
       zurückkehren? 
       
       Absolut. Das ist ja auch die entscheidende Funktion von sozialen Bewegungen
       für das Parteiensystem. Das wissen die Grünen, die als Antiparteienpartei
       beziehungsweise als Bewegungspartei gestartet sind, sehr genau. Gerade
       ihnen ist der Druck von der Straße ein Lebenselexier, ein treibender
       Motor, der Dynamik für den Wandel in zu Starre neigenden Organisationen
       schafft.
       
       Was bedeutet es, wenn laut Umfragen rund zehn Prozent der WählerInnen
       Parteien wählen wollen, die nicht im Parlament vertreten sind: Ist das
       schlecht für die Demokratie? 
       
       Es gibt keine genaue Zahl, ab der man sagen kann, jetzt kippt es oder wird
       problematisch. Aber sicher sollte es nach normativem Demokratiemaßstab so
       sein, dass möglichst viele WählerInnenstimmen durch Mandate im Parlament
       abgebildet werden. Daher braucht es nach meiner Auffassung eine Diskussion,
       ob die Fünfprozenthürde noch angemessen ist, gerade angesichts der sich
       weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft.
       
       Das klingt, als würden Sie der Auffassung zuneigen, diese Hürde brauchen
       wir nicht mehr? 
       
       Ja, eine bundesweite Sperrklausel gab es auch bei der ersten Bundestagswahl
       1949 nicht. Insofern kann die Angst vor einer Parteienzersplitterung wie zu
       Weimarer Zeiten gar nicht so riesig gewesen sein. Sie wurde erst 1953
       eingeführt, obwohl es schon bald zu einem massiven Konzentrationseffekt für
       Union, SPD und FDP kommen sollte. Heute droht die Gefahr aus einer anderen
       Ecke: Ich glaube, dass rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien in
       den Parlamenten viel gefährlicher für die liberale Parteiendemokratie sind
       als Klein- und Kleinstparteien, die eine große Bandbreite
       unterschiedlichster Repräsentationsansprüche vertreten.
       
       18 Sep 2021
       
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