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       # taz.de -- Gewalt vor der Hamburger Ida Ehre Schule: Was geschah wirklich?
       
       > Über den Vorfall zwischen Schülern und Polizei berichteten die Medien aus
       > Behördensicht. Ein Schüler, der dabei war, erzählt eine andere
       > Geschichte.
       
   IMG Bild: Ida-Ehre-Schule in Hamburg: Auf dem Fußweg vor der Schule spielte sich die Szene ab
       
       Hamburg taz | Als Tim* am 19. August seine Schule verließ, so erinnert er,
       fiel ihm ein Polizist auf dem Rad auf, der bei Rot über die Kreuzung fuhr.
       „Der ist hin zu einer Gruppe von zehn Schülern. Hat mit denen geredet. Das
       war eher ein Streit mit der Polizei“, berichtet der Schüler. „Es fing an,
       dass er den einen festnehmen wollte. Er hat ihn an die Wand gedrückt. Der
       hat sich sehr, sehr gewehrt.“
       
       Der Polizist brachte den Jungen zu Boden. Da gingen Tim und seine Freunde
       näher ran. „Er hatte ihm im Schwitzkasten. Der Typ hat laut gerufen, dass
       er keine Luft mehr bekommt. Der Polizist hat nicht darauf reagiert.“
       
       Von der Situation, die Tim beschreibt, gibt es ein Video. Dort reden
       umstehende Schüler auf den Polizisten ein, einer berührt ihn sacht an der
       Schulter, sagt: „Hören Sie auf!“, „Hören Sie auf!“, „Er kriegt keine Luft
       mehr!“ „Der Typ ist 13!“, rufen helle Kinderstimmen aus dem Hintergrund.
       
       „Da hat ihn einer getreten, an den Kopf“, erinnert sich Tim. „Mir wurde im
       Nachhinein erzählt, dass er ihn nicht deshalb treten wollte, weil er
       Polizist ist. Er hat versucht, ihn runterzutreten, weil er dachte, dass der
       andere erstickt.“
       
       Kurz darauf traf Verstärkung der Polizei ein. Der Beamte stand mit dem
       Jungen unterm Arm auf. Lehrer versuchten, die Schüler von dem Ort
       wegzukriegen. Der 14-jährige Tim blieb da, weil er gucken wollte, ob alles
       mit rechten Dingen zugeht. Später wurde dieses Verhalten in einem Brief der
       Schulleitung „Gaffen“ genannt. Tim findet das nicht richtig. Sein Nebenmann
       diskutiert über das Weggehen und Bleiben mit Lehrern. Später ist er einer
       von elf, die suspendiert werden.
       
       Die Polizei kam mit zwölf Streifenwagen. „Die haben versucht, die Leute vom
       Geschehen zu entfernen. Aber so sollte man mit 12-, 13-Jährigen nicht
       umgehen“, sagt Tim. Beamte zeigen den Schlagstock, nehmen zwei weitere
       Kinder im Alter von 12 und 13 fest. „Da hat jemand ausgespuckt“, erinnert
       sich Tim. „Die eine wurde rausgezogen. Die lag auf dem Boden und noch zwei,
       drei Beamte auf ihr drauf. Das war ziemlich beängstigend.“
       
       Einige hätten eine Kette gebildet und dabei seien auch Schimpfworte wie
       „ACAB“ gefallen. Aber zu sagen, es hätte eine Massenschlägerei gegeben, sei
       „ganz falsch“.
       
       Nun ist die lda-Ehre-Schule, vor deren Toren dies stattfand, nicht
       irgendeine Schule. Im Frühjahr 2019 war sie der Ort einer
       Auseinandersetzung, die hamburgweit Aufsehen erregte. Die AfD hatte ein
       „Portal“ geschaffen, bei dem linke Umtriebe gemeldet werden sollten. Und
       als sie Fotos von Antifa-Aufklebern an den Pinnwänden einer
       Oberstufenklasse der Ida-Ehre-Schule in die Finger bekam, stellte sie in
       den Märzferien eine Anfrage an den Senat.
       
       Die Schulaufsicht ließ die Sticker umgehend entfernen, statt die Ferien
       abzuwarten und mit den Lehrern zu sprechen. Die Schule wurde als linke
       Kaderschmiede gebrandmarkt. Die Linke forderte Schulsenator Ties Rabe (SPD)
       sogar zum Rücktritt auf, weil er durch sein Handeln das „Petz-Portal“ der
       AfD hoffähig gemacht hatte, statt sich hinter die Schule zu stellen – die
       Sticker waren immerhin Teil eines Unterrichtsprojekts.
       
       Auch am Tag nach dem Vorfall vom 19. August wiederholte sich im Grunde das
       damalige Schema. Rabe verschickte ein Statement an die Presse zu dem
       „Gewaltvorfall vor Ida Ehre Schule“. Der Senator sei entsetzt und
       „verurteilt das Verhalten der Jugendlichen“, heißt es dort.
       
       Journalisten, die sie bis dahin nicht bemerkt hatten, dürfte spätestens
       dann die Pressemitteilung der Polizei aufgefallen sein: „[1][Schüler
       greifen Polizeibeamten in Hamburg Eimsbüttel an]“. Mehrere Schüler hätten
       einen Beamten, der Streit schlichten wollte „tätlich angegriffen“. Sie
       hätten sich mit dem am Boden liegenden 13-Jährigen „auf hoch aggressive
       Weise“ solidarisiert. Aus der Gruppe heraus hätten diese ihn „mehrfach
       gegen den Kopf getreten“. Nur dank Fahrradhelm sei der Mann unverletzt.
       
       ## Hetze und Bedrohung im Netz
       
       Nun gibt es die Verabredung, dass die Polizei sich bei Minderjährigen mit
       Pressearbeit zurückhält. Das tat sie insoweit, als sie keine Schule nannte.
       Zusammen mit dem Rabe-Statement waren die Berichte aber schnell
       geschrieben. „[2][Brutale Prügel-Attacke in Hamburg: 80 Schüler gehen auf
       Polizisten los]“, titelte der Focus.
       
       Vor zwei Jahren, beim Konflikt um die AfD-Anfrage, hatte sich die
       Schulleitung der Ida-Ehre-Schule gegen die mediale Vorverurteilung
       verwahrt. Das [3][Leitungsteam erklärte, „stolz auf ihre Schüler*innen“] zu
       sein, die sich politisch betätigen. Doch inzwischen gibt es dort eine neue
       Schulleitung. Und deren Draht zur Schulbehörde ist in diesen Tagen ganz
       kurz.
       
       Am Montag nach dem Vorfall vom 19. August verbreitet die [4][Schulbehörde
       das Statement] von Schulleiterin Nicole Boutez: „Es hat uns entsetzt, mit
       welchem Gewaltpotenzial schon Kinder agieren können.“ Man sei erschrocken
       darüber, wie „gegafft“ werde, und über die „Empathielosigkeit“ der
       Zuschauer. Es solle „Konsequenzen“ geben. Elf Schüler seien vom Unterricht
       suspendiert.
       
       „Die Schulleitung hat uns sehr enttäuscht“, sagt Tim. Er besuchte eine
       Schülerversammlung, wo der Vorgang diskutiert wurde. Die Schule ist seit
       Jahren Mitglied im Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“.
       
       Lisa* aus dem Schulsprecherteam sagt, die Schüler seien an dem Nachmittag
       in eine sehr schwierige Situation gebracht worden. „Der Junge rief, er kann
       nicht atmen. Uns wurde beigebracht, dass wir andere nicht allein lassen,
       wenn sie in Not sind.“ Es sei schlimm für die Dabeigewesenen, dass ihnen
       die Schuld zugeschoben wurde. „Die Schulleitung hat uns in den Medien so
       dargestellt, als hätten wir ein hohes Gewaltpotenzial.“ Das sei auch
       gefährlich, führe zu Hetze und Bedrohungen im Netz.
       
       Dabei war der 13-Jährige, den der Polizist festnahm, nicht einmal ein
       Schüler dieser Schule. Es liegen im „Eimsbütteler Schuldreieck“ drei
       Gymnasien und eine Stadtteilschule nah beieinander. Nur zu den anderen
       Schulen hört man von der Schulbehörde keinen Piep.
       
       Tims Vater sagt, ihm täte auch der Polizist leid, der auch Opfer der
       Umstände sei. Er verstehe, dass die Polizei eine eigene Sicht der Dinge
       habe, doch die Schule hätte sich anders artikulieren müssen.
       
       Der [5][Elternrat der Ida-Ehre-Schule kritisiert], die Schüler am Ort des
       Geschehens würden kriminalisiert. Statt sie zu suspendieren, wären
       Gespräche richtig gewesen.
       
       ## Gefährlicher Griff angewandt?
       
       Die Schulleitung hatte an die Eltern geschrieben, es habe ein „Gewalt- und
       Bedrohungsszenario“ gegeben, „ausgehend von den anwesenden und filmenden
       Schülern“. Sie zählt auch „schaulustiges Verhalten“ zu einer Form von
       Gewalt. Den Elternrat stört die Wertung. Das Beobachten einer Situation
       werde als „Gaffen“ diffamiert. „Wir möchten nicht, dass jemand vorbeigeht,
       wenn jemand schreit: ‚Ich bekomme keine Luft‘.“
       
       Und ohne das Handyfilmen gäbe es nicht die Videos, von denen der NDR
       [6][eines veröffentlichte]. Das zeigt, wie der Beamte auf dem Jungen liegt.
       Auch dort hört man Umstehende „Hören Sie auf!“ rufen.
       
       Dem Bremer Kampfsporttrainer Jan Henning Bode wurden mehrere solcher Videos
       vorgelegt, wie die [7][Hamburger Linksfraktion] und [8][auch der Stern]
       berichten. Auch die taz sprach mit Bode. „Auf dem Video ist zu sehen, wie
       der Polizist einen ‚Scarf Hold Chest Choke‘ anwendet“, sagt er. Es handele
       sich um einen Würgegriff, bei dem Hüfte und Oberkörper des Obenliegenden
       zusätzlich Druck auf die Lunge und die obere Herzspitze ausüben. „Dieser
       Würgegriff kann schwere Verletzungen hervorrufen oder, wenn er länger als
       sechs Minuten ausgeübt wird, zum Tod führen“, sagt der Trainer.
       
       ## Gefährlicher Würgegriff
       
       Bei einem Wettkampf könne der Untenliegende die Sache durch „abklopfen“
       beenden. Für den Kampf auf der Straße sei der Griff nicht geeignet, in New
       York sei er sogar verboten. Auch seien Wettkampfpartner meist gleich
       schwer, hier aber liege ein deutlich schwerer Mann auf einem Jungen. „Ich
       glaube, er wusste nicht, was er da tut.“
       
       Polizeisprecher Holger Vehren sagt, dieser im Stern zitierte Griff werde
       bei der Polizei nicht gelehrt. „Zudem muss man festhalten, dass von hier
       aus auch nicht beurteilt werden kann, ob die vom Stern als Expertenmeinung
       gewählte Bezeichnung der Eingriffstechnik überhaupt zutrifft.“ Darüber
       hinaus werde der gesamte Einsatz in alle Richtungen überprüft. Dazu gehöre
       auch eine Untersuchung des „polizeilichen Einschreitens“ durch das Dezernat
       Interne Ermittlungen.
       
       Jan Henning Bode sagt, davon sei nicht viel zu erwarten, da hier Polizei
       gegen Polizei ermittele. „In anderen Ländern bekommt die Polizei klar
       vorgegeben, welche Griffe erlaubt sind und welche nicht.“ In Deutschland
       sei das nicht definiert. „Aber gerade nach der Geschichte mit George Floyd
       muss allen klar sein, dass das nicht geht.“
       
       ## Schüler hat andere bedroht
       
       Gegenüber Elternvertretern wurde übrigens von „altersgemäßen Mitteln“
       gesprochen, mit denen der Junge fixiert wurde.
       
       Angesprochen auf die Kritik des Elternrats sagt Schulbehördensprecher Peter
       Albrecht, ihm fehle dort, dass Schüler gegenüber einem Beamten, der sie
       schützen wollte, gewalttätig wurden. Dass Schüler sich zu unrecht
       kriminalisiert fühlten, hätten einige Eltern, aber nur sehr wenige Schülern
       formuliert, sagt Schulleiterin Boutez. Ihr fehlt beim Elternrat die
       „Multiperspektivität“.
       
       Tim sagt, mit seinen Klassenlehrern habe es gute Gespräche gegeben. Die
       fänden es auch nicht richtig, dass Schüler suspendiert und bloßgestellt
       wurden. Es seien nun in den Pausen die Tore zu, denn es gebe tatsächlich
       ein Problem mit einem Schüler einer anderen Schule. Der sei eine „arme
       Socke“, habe aber andere bedroht. Insofern könne er verstehen, dass die
       Polizei aktiv wurde. „Aber die Schulleitung sollte sich bei den Schülern
       entschuldigen.“
       
       *Name geändert 
       
       Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde nach seiner Veröffentlichung
       korrigiert: Nicht Tim wurde wegen „Gaffens“ von der Schulleitung
       suspendiert, sondern ein Schüler, der neben Tim stand.
       
       20 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/6337/4998989
   DIR [2] https://www.focus.de/regional/hamburg/schlaege-und-tritte-gegen-den-kopf-brutale-pruegel-attacke-in-hamburg-80-schueler-gehen-brutal-auf-einen-polizisten-los_id_18389547.html
   DIR [3] https://www.idaehreschule.de/wp-content/uploads/Stellungnahme_der_Schulleitung_IES.pdf
   DIR [4] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Schulleitung-reagiert-nach-Angriff-vor-der-Ida-Ehre-Schule,hamburg1878.html
   DIR [5] https://er-ies.de/stellungnahme-2021/stellungnahme-zum-vorfall-am-19-08-2021/#more-730
   DIR [6] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal/Hamburg-Journal,hamj112874.html
   DIR [7] https://www.linksfraktion-hamburg.de/wp-content/uploads/2021/09/Bu%CC%88rgerInnenbrief_Sudmann_Boeddinghaus_2021_09.pdf
   DIR [8] https://www.stern.de/gesellschaft/ida-ehre-schule--interne-ermittlungen-gegen-polizisten-nach-pruegel-vorfall--30742898.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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