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       # taz.de -- Parlamentswahl in Russland: Kaum Luft zum Atmen
       
       > In der russischen Industriestadt Tscheljabinsk kämpfen die Menschen mit
       > extremer Umweltverschmutzung. Einige stemmen sich gegen die politische
       > Apathie.
       
   IMG Bild: Hört sich die Sorgen von Bewohner*innen an: Kandidatin Jelena Wachtina (im blauen Mantel)
       
       Tscheljabinsk taz | Für einem kurzen Moment strahlt Jelena Wachtina. Sie
       wirkt gelöst. „Hach“, sagt sie in die Abendsonne hinein, „da bin ja ich.“
       Auf einem Plakat am Straßenrand blickt eine Frau mit dunklen Haaren, hellen
       Ohrsteckern und einem rosafarbenen Blazer in die Landschaft. „Wachtina
       Jelena, Wahlkreis 189“, steht darauf.
       
       Ihr Schild fällt im Plakatedickicht auf, weil fast alle anderen für
       Vertreter*innen der Regierungspartei Einiges Russland werben. Das
       Schild einer Oppositionellen ist ein seltener Anblick in Tscheljabinsk. Die
       Stadt mit ihren 1,2 Millionen Einwohner*innen liegt knapp 1.500
       Kilometer östlich von Moskau. Tscheljabinsk ist in Russland für seine
       Schwerindustrie bekannt und in der Welt für einen Meteor, der vor acht
       Jahren in einen See in der Nähe stürzte.
       
       Jelena Wachtina tritt bei der [1][Parlamentswahl am Wochenende] gegen
       Wladimir Putins Partei Einiges Russland an. Die 45-Jährige ist
       Kommunalabgeordnete in Tscheljabinsk und kandidiert nun für einen Dumasitz.
       Sie hat sich dem Umweltschutz verschrieben. Mit ihrer Losung „Für saubere
       Luft“ hat sie sich auf die [2][Liste der Kommunisten Russlands] setzen
       lassen, weil „ich an Leute glaube, nicht an Parteien“, wie sie sagt.
       
       Sie braucht die finanziellen Mittel der Partei für den Wahlkampf, spart
       sich so auch das mühsame Sammeln von Unterschriften, um zur Wahl zugelassen
       zu werden. Als Einzelkämpferin käme sie nicht weit. Der linke Populismus
       der von der Kommunistischen Partei abgespaltenen Kommunisten Russlands
       stört sie wenig.
       
       Seit Freitag wählt Russland drei Tage lang sein Parlament. Es ist eine
       inhaltsleere Wahl. Menschen, die man nach ihr fragt, machen oft eine
       Handbewegung, als wollten sie eine lästige Fliege wegscheuchen. Für die
       politische Elite aber gilt es, den Status quo zu erhalten. Nervös verteilt
       sie Geldgeschenke an Rentner*innen und Soldat*innen, preist die Familie
       oder lässt noch schnell Promenaden hübsch herrichten.
       
       Die Menschen sagen trotzdem weiterhin: „Wir haben nichts zu entscheiden.“
       
       Jelena Wachtina aber hat eines Tages für sich entschieden, dass sie etwas
       zu entscheiden hat. Dass sie raus will aus der „jahrzehntelang
       antrainierten Hilflosigkeit“, wie sie die Apathie vieler Russ*innen
       nennt. Damals lag ihr achtjähriger Sohn nach einem Fußballspiel wegen eines
       umgestürzten Tors mit kaputtem Schädel in der Klinik und keine Behörde
       wollte dem Unfall nachgehen.
       
       ## Eine, die Gesicht zeigen will
       
       Ihre Chancen, in die Duma zu kommen, sind gering. Das ist ihr wie jeder
       Oppositionellen bewusst. „Aber es muss sich etwas ändern, und irgendwann
       wird es das auch.“
       
       So steuert sie an einem Mittwochabend ihren dunklen Subaru durch die
       Dorfstraße von Sadowy, einem einstigen Agrartestgelände der örtlichen
       Universität. Hier will sie Gesicht zeigen, will sagen: „Ich bin da, ich
       stelle Fragen, ich fordere Antworten.“ Ein paar Dutzend
       Dorfbewohner*innen haben sich an sie als Kommunalabgeordnete gewandt,
       damit sie sich ein Bild von der illegalen Mülldeponie unweit ihrer Häuser
       macht. „Uns hört sonst niemand“, sagen sie und zeigen Wachtina den
       Industrieschrott auf den Feldern, den gestapelten Plastikmüll in offenen
       Säcken, die aufgewühlte Erde.
       
       „Wir können kaum atmen, wenn hier der Müll brennt“, klagen die Menschen.
       Wachtina weiß, wie es ist, wenn die Luft zum Atmen fehlt. Alle in
       Tscheljabinsk wissen es.
       
       Einst war die Stadt Hauptumschlagplatz für Tee und Getreide. Ein kleiner
       Ort am Fuße des Urals, reich an Rohstoffen in der Umgebung. In den 1930er
       Jahren folgte die Industrialisierung. Auch Gulag-Häftlinge und deutsche
       Kriegsgefangene mussten mitbauen, förderten Bodenschätze, errichteten
       Stadtteile rund um die Fabriken. Tscheljabinsk, dem baschkirischen
       Wortursprung nach „die Edle“, wurde zur Fabrikstadt, einem Ort, der nur
       existiert, weil es die Unternehmen gibt.
       
       Eine Viertelstunde dauert es mit dem Auto, das Metallurgische Viertel zu
       durchfahren. Schlote ragen in den schwarzen Himmel, Kühltürme stehen hie
       und da, in der Ferne verfallen die alten Werksgebäude, die Erde ist
       rostbraun verfärbt, auf den Dächern der fensterlosen aufgegebenen Bauten
       wächst Gras. Die Abraumhalden sind zuweilen so hoch wie fünfstöckige
       Gebäude. „Es ist eine Gegend, in der sich gut Filme über den Weltuntergang
       drehen ließen“, sagt ein Unternehmer, der mit der Aufbereitung der
       Industrieabfälle sein Geld verdient. Die Fabriken sichern der Stadt das
       Überleben und machen die Menschen krank. Bis heute.
       
       ## Land der 1.000 verseuchten Seen
       
       Es ist nicht nur die verpestete Luft, es sind auch die Böden, das Wasser,
       die leiden. Sie leiden noch mehr, seit ein Kupferwerk nur zwölf Kilometer
       von der Stadt entfernt die Natur weiter ausbeutet. Hunderttausende
       Unterschriften haben den Bau des Unternehmens in Tominski nicht stoppen
       können.
       
       Die gelbe Tasche mit dem schwarzen „Stopp-Schild“ gegen das Werk trägt
       Nadeschda Wertjachowskaja noch immer. Die pensionierte Chemikerin war einst
       gegen die wilden Parkplätze auf den Rasenflächen ihrer Stadt vorgegangen,
       hat sich später gegen die Abholzung im Stadtwald eingesetzt. Mittlerweile
       kämpft sie für sauberes Wasser. Die Region um Tscheljabinsk wird „Land der
       1.000 Seen“ genannt, viele dieser Seen sind allerdings verseucht.
       
       Das Wasserreservoir, nur drei Busstationen von der Wohnung der Rentnerin
       entfernt, ist voller Blaualgen, zentimeterdick wird der dunkelgrüne Schaum
       an den Strand gespült. Offizielle Dokumente zeigen keine Verschmutzung an.
       „Die Informationspolitik ist katastrophal. Man hält vieles von uns fern“,
       sagt sie mit ihrer ruhigen Stimme. Wertjachowskaja sammelt Wasserproben,
       schreibt Briefe, immer und immer wieder, zieht vor Gericht.
       
       Währenddessen verlassen vor allem junge Menschen Tscheljabinsk, auch ihre
       Tochter arbeitet in der Hauptstadt. So [3][manche*r Oppositionelle] lebt
       mittlerweile im Ausland. Die Repressionen des Regimes machen auch hinter
       dem Ural nicht Halt. Die Umweltschützerin kennt den mühsamen Kampf in
       dieser bedrückenden Stadt. Aufgeben will sie dennoch nicht. „Die Behörden
       rechnen doch damit, dass wir genug haben von diesem zermürbenden Verhalten.
       Für mich ist das eine Sache der Haltung.“ Sie geht am Stadtwald entlang,
       schaut in die Ferne. „Wir haben einen kleinen Durchzug heute, außerdem gab
       mir der Arzt eine Hormonspritze. Wie gut ich plötzlich atmen kann!“
       
       ## Giftnebel sorgt für Asthma
       
       Wenn der Westwind kommt, ist die Stadt eingehüllt in einen dichten grauen
       Nebel. Die Sonne schimmert als unscharfer gelblicher Ball in der Ferne. Die
       Augen tränen, der Hals kratzt, auf der Zunge breitet sich ein
       süßlich-metallischer Geschmack aus, im Kopf pocht es. „Ungünstige
       meteorologische Bedingungen“ nennen die Behörden hier, im Kessel am Fuße
       des Gebirges, diese Lage.
       
       In manchen Nächten sei der Ausstoß der Fabriken gut sichtbar. Halte man die
       Hand aus dem Fenster, werde sie ganz staubig, erzählen die Menschen. Viele
       Kinder litten an Asthma. Die Konzentration von Formaldehyd habe im
       vergangenen Monat den zulässigen monatlichen Höchstwert um das 2,5-Fache
       überschritten, heißt es beim Hydrometeorologischen Zentrum der Stadt. Auch
       die Werte von Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Ammoniak, Fluorwasserstoff,
       Stickstoffdioxid und selbst Schwefelwasserstoff seien erhöht. Das sind
       hochgiftige Gase, die die Tscheljabinsker täglich einatmen und gegen die
       Lokalpolitiker*innen wie Jelena Wachtina und Aktivisten wie Lew
       Wladow beharrlich ankämpfen.
       
       „Ich bin hier geboren, hier aufgewachsen, bin wahrscheinlich so an diesen
       Dreck gewöhnt, dass ich ihn nicht spüre“, sagt Wladow, 29 Jahre alt, als er
       durch die Fußgängerzone seiner Stadt läuft. Manchmal ertönt hier
       Vogelgezwitscher aus den Straßenlautsprechern, die echten Vögel haben sich
       längst verzogen. „Unsere Stadt baut auf Raubbau der Natur und schöpft aus
       dem Wert der Bodenschätze. Und wir als Tscheljabinsker verstehen nicht, was
       wir sein wollen“, sagt er.
       
       Wenn Wladow in seinem hellen Mantel durch die Straßen läuft, wird er immer
       wieder von jungen Menschen gegrüßt, manche fragen nach einem Autogramm.
       Wladow ist bekannt in der Stadt, weil er sich nicht scheut, in den sozialen
       Netzwerken den Gouverneur und die Stadtregierung Tscheljabinsks scharf
       anzugehen. Auch auf regionaler Ebene hat die Regierungspartei Einiges
       Russland hier die Macht.
       
       Wladow will die Bürger*innen darüber aufklären, an was für einem Ort sie
       leben und wie diese Gegend, die eigentlich nicht für Menschen gemacht ist,
       doch an Lebensqualität gewinnen könnte, durch Projekte, die woanders auf
       der Welt längst zum gängigen Stadtbild gehören: städtische Erholungszonen,
       Radverkehr, Elektromobilität.
       
       Der gelernte Bauingenieur nennt sich „Tscheljabinsker Urbanist“ und er
       erklärt mit Fotos und Videos, was es mit dem Städtebau auf sich hat. Er
       kritisiert die neu eröffnete Uferpromenade, die ins Nichts führt. Und er
       fordert immer wieder eine barrierefreie Stadt für Fußgänger.
       
       „Das Ziel jedes jungen Menschen hier ist es, ein eigenes Auto zu haben. Das
       kann es doch nicht sein“, sagt Wladow. Zu dem Schmutz aus den Fabriken
       kommen noch die Abgase der Autos.
       
       ## „Hier in Tscheljabinsk stimmt etwas nicht“
       
       Anfang der 2000er Jahre hatte der damalige Bürgermeister dem Stau in der
       Stadt den Garaus machen wollen. Für die sogenannte Straßenrevolution ließ
       er gnadenlos Bäume abholzen, Bürgersteige mussten Autostraßen Platz machen.
       Die Verkehrsachsen der Stadt sehen bis heute aus, als würden hier Flugzeuge
       starten und landen.
       
       Die Stadt ist langgezogen, der öffentliche Nahverkehr liegt brach. Über die
       breiten Straßen fahren klapprige Trolleybusse und noch klapprigere
       Straßenbähnchen.
       
       „Wir sehen die Zerstörung, tun aber nichts dagegen“, sagt der junge
       Urbanist und meint, viele in der Stadt sähen in Tscheljabinsk einen
       „ungemütlichen Ort, wo gearbeitet und gelitten wird“.
       
       Kritische Nachfragen aber, sinniert er, entstünden erst durchs Reisen. Lew
       Wladow war 23, als er sein wenige Jahre zuvor gegründetes Unternehmen für
       die Reparatur von Elektronik verkaufte und sich in die Welt aufmachte: nach
       Frankreich, Italien, Deutschland.„Das war mein Schlüsselmoment“, erzählt
       er. „Ich begann mich umzuschauen und verstand: Hier in Tscheljabinsk stimmt
       etwas nicht.“
       
       Er durchwanderte seine Stadt zu Fuß, stolperte über kaputte Bordsteine,
       regte sich über Zäune auf, die entlang der Straßen, manchmal auch in
       zweifacher Ausführung, aufgestellt werden. Und er gewann Zehntausende
       Abonnenten in den sozialen Netzwerken. Mittlerweile hat er ein kleines
       Architekturbüro und realisiert mit Gleichgesinnten Mini-Stadtbauprojekte.
       
       Über die Wahlen möchte er aber nicht sprechen. In die Politik zu wechseln
       ist für ihn auch keine Option. Er glaubt, dass er als Aktivist mehr bewegen
       kann denn als Politiker. Abgeordneter sei in Russland schließlich eher ein
       Schimpfwort.
       
       17 Sep 2021
       
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