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       # taz.de -- Hamburger Filme auf dem Filmfest Hamburg: Universell und geerdet
       
       > Beim Filmfest Hamburg laufen das Ehedrama „Ein großes Versprechen“, der
       > Avantgardefilm „Tscherwonez“ und eine Liebeserklärung an Jonas Mekas.
       
   IMG Bild: „Jonas Mekas in den Feldern“: Peter Sempels Film hält, was er im Titel verspricht
       
       „Ich kann das alleine!“, sagt Juditha immer wieder. Selten wird ein
       Dialogsatz im Kino so oft wiederholt und nicht viele sind so vernichtend.
       Denn Juditha kann immer weniger allein machen. Sie leidet an Multipler
       Sklerose, verleugnet aber, dass die Krankheit schlimmer wird. Sie lässt
       sich nicht helfen, geht nicht zu ihren Arztterminen und spielt ihrer
       Tochter vor, in ihrer Ehe mit Erik sei alles in Ordnung. Doch der sieht,
       dass sie sich immer weniger bewegen kann, dass sie hinfällt und dann
       hilflos liegen bleibt, dass sie immer freudloser dahinlebt, weil ihre
       Selbsttäuschung ihr jede Lebensenergie raubt.
       
       Dass die beiden sich immer noch lieben (der Film beginnt mit einer
       sinnlichen Bettszene der über 60-Jährigen), macht es im Grunde nur noch
       schlimmer. Denn was die eine fühlt, muss auch der andere erleiden. Wie viel
       Freiheit können sie einander unter diesen Umständen noch geben? „Ein großes
       Versprechen“ (Fr, 1. 10. 18 Uhr, Cinemaxx 1) ist der kluge Titel dieses
       Spielfilmdebüts von Wenda Nölle, das sie im Rahmen des
       NDR-Nachwuchsprogramms „Nordlichter“ inszenieren konnte. Das Versprechen
       ist die Ehe, und hier wird von deren „schlechten Tagen“ erzählt.
       
       Im Grunde ist dies ein Zweipersonenstück. Eine gemeinsame Tochter und die
       Ex-Kolleg*innen des pensionierten Universitätsprofessors Erik haben nur
       kurze Gastauftritte. Und Nölle lotet diese Beziehung auch tief aus. Man
       glaubt ihr, dass sie hier von zwei Menschen erzählt, die einander so gut
       kennen, wie dies nur möglich ist. Ein Blick, eine Geste, ein Wort, von dem
       man weiß, wie tief es den anderen trifft – dies sind die Mittel, mit denen
       sie hier arbeitet.
       
       Und man merkt, dass sie von Haus aus Dokumentarfilmerin ist, denn nicht nur
       die Menschen, sondern auch die Räume, in denen sie sich bewegen, wirken
       absolut authentisch. Nölle hat „Ein großes Versprechen“ in Hamburg und
       Umgebung gedreht. Sie weiß, dass man solch eine Geschichte, gerade weil sie
       so universell ist und überall passieren kann, genau verorten und dadurch
       erden muss.
       
       Und man braucht Darsteller*innen, die sich diese Figuren radikal zu eigen
       machen. Erik wird von dem schwedischen Schauspieler Rolf Larsgaard
       verkörpert, der durch die beiden Krimiserien „Beck“ und „Kurt Wallander“
       bekannt wurde. Hier spielt er Erik als einen lebensfrohen älteren Mann
       voller Energie, der langsam daran zerbricht, dass er seiner Frau nicht
       helfen kann, weil diese sich nicht helfen lassen will. Und Dagmar Danzel
       ist ihm mindestens ebenbürtig als eine Frau, die mehr durch ihre Angst als
       durch ihre Krankheit gelähmt ist und deshalb nicht wahrhaben will, dass ihr
       gemeinsames Leben in Stücke fällt.
       
       Es ist ein unbequemer, doch wahrhaftiger Film, der so naturalistisch
       konzipiert ist, dass es schon fast wie ein Stilbruch wirkt, wenn Juditha
       einmal einen Brief von Erik liest und man dazu dessen Stimme im Off hört.
       
       Beim Filmfest Hamburg werden traditionell in der Hamburger Filmschau die
       neuen Arbeiten von Filmemacher*innen aus der Stadt vorgestellt. Seit
       vielen Jahren ist der [1][Guerilla-Filmemacher Peter Sempel] hier schon
       Stammgast, und diesmal stellt er „Jonas in den Feldern“ (Sa, 2. 10., 21.30
       Uhr, Metropolis) vor. Dies ist bereits sein vierter Film über die Ikone des
       Independent-Kinos, Jonas Mekas. Nach dessen Tod im Jahr 2019 musste er ihn
       wohl einfach machen.
       
       Sempels Filme über Mekas sind Liebeserklärungen an diesen Ersatzvater, der
       ihm den Weg zu seiner Art des Filmemachens wies: „Du brauchst kein Geld, um
       einen Film zu machen“, sagt Mekas auch hier wieder. An diesen Rat hat
       Sempel sich immer gehalten. In „Jonas in den Feldern“ begleitet er den über
       90-Jährigen in den letzten Jahren seines Lebens. Mekas kocht, isst, trinkt
       und macht eine letzte Reise in sein Geburtsland Litauen.
       
       Vor allem ist er aber in der Rolle des Künstlers zu sehen, der sein Werk
       ordnet und präsentiert. Er liest aus seinen Tagebüchern, wird auf
       Ausstellungen gefeiert und plant die Herausgabe eines neuen Bandes mit
       Texten, die er vor über 70 Jahren geschrieben hat. Er liest aus seiner
       FBI-Akte vor, dass ihm dort „the mind of a child“ attestiert wird – und
       versteht dies als ein großes Kompliment.
       
       Sempel folgt ihm mit einem liebevollen Blick und er hält sich diesmal mit
       seiner berühmt-berüchtigten assoziativen Schnitttechnik auffallend zurück.
       Im letzten Drittel zeigt er sogar minutenlange, fast ungeschnittene
       Sequenzen von den Reden, die Mekas Freunde und Bewunderer auf dessen
       Memorial in New York gehalten haben.
       
       Bei Mekas Beerdigung in Litauen ist er mit seiner Kamera natürlich auch mit
       dabei. Dort untermalt er seine Bilder vom Grab mit klassischer Orgelmusik.
       Ein stilistisches Klischee in einem Sempel-Film! Mekas hätte ihn sicher
       dafür getadelt.
       
       In der Filmschau laufen nicht nur neue Filme. Gábor Altorjays
       Schwarz-Weiß-Film „Tscherwonez“ (So, 2. 10., 15 Uhr, Metropolis) wurde 1982
       in Hamburg und von dem Gründer des Abaton-Kinos, Werner Grassmann,
       produziert. Altorjay, in den 1960er-Jahren aus Ungarn nach Deutschland
       geflohen, war damals Teil der Fluxus-Bewegung. Das erklärt die eher
       sprunghafte Erzählweise seines Films, der jetzt in einer neu restaurierten
       Fassung gezeigt wird.
       
       Darin gibt es eher zu viel Handlung als zu wenig, denn ein sowjetischer
       Matrose, der in Hamburg ohne Erlaubnis auf Landurlaub geht, wird vom KGB,
       dem Verfassungsschutz und einem Sensationsreporter verfolgt. Aber zu einer
       schlüssigen Erzählung, die Interesse an ihren Figuren weckt, fügt sich all
       dies nicht zusammen.
       
       Sehenswert ist „Tscherwonez“ aber dennoch als eine bizarre Zeitreise in das
       Hamburg der frühen 1980er-Jahre mit Transsexuellen in St. Pauli, viel Peng,
       Peng im Hamburger Hafen und einem Russen, der das Bismark-Denkmal für Lenin
       hält. Langweilig wird der Film nie, denn Altorjay scheint alles in ihn
       hineingepackt zu haben, was ihm und seinen Freunden gerade so einfiel.
       Dafür spricht auch eine schöne Rubrik im Abspann. Neben Kamera und Musik
       (von der deutschen New-Wave-Band „The Wirtschaftswunder“) wird da für
       „kleine schmutzige Ideen“ gedankt. Solch ein Film kann gar nicht schlecht
       sein.
       
       30 Sep 2021
       
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