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       # taz.de -- Verbot von Werbetafeln: Adblocker für die Stadt
       
       > Immer mehr Städte erklären den öffentlichen Raum zur werbefreien Zone.
       > Aber wer Werbetafeln demontiert, demontiert auch einen Teil der
       > Öffentlichkeit.
       
   IMG Bild: Schon immer ein Ort der öffentlichen Verhandlung: die Reklamewand, hier in London im 19. Jahrhundert
       
       Sie hängen an Ampeln, Bushaltestellen oder Baustellengerüsten – die Rede
       ist von Werbeplakaten. Den meisten Stadtbewohner:innen fallen diese
       Werbetafeln kaum noch auf, man läuft an ihnen vorbei, so wie man
       Werbebanner im Netz wegklickt – obwohl sie ja irgendwie zum Stadtbild
       gehören. Doch damit könnte bald Schluss sein.
       
       Die Stadt Genf will Werbeplakate ab 2025 aus dem öffentlichen Raum
       verbannen. Die links-grüne Mehrheit im Genfer Stadtrat hat vor wenigen
       Wochen eine entsprechende Volksinitiative („Zéro Pub“) angenommen.
       Kommerzielle Werbung schade dem Urbanismus, fördere den Überkonsum und
       stelle „visuelle Verschmutzung“ dar, lautet die Kritik der Initiator:innen.
       Man wolle den öffentlichen Raum daher „befreien“.
       
       Nach dem Vorbild von São Paulo diskutieren Städte und Gemeinden auf der
       ganzen Welt, ob sie ihre Innenstädte zur werbefreien Zone erklären sollen.
       Die brasilianische Metropole hatte 2007 ein strenges Verbot von
       Außenwerbung durchgesetzt („Clean City Law“), in dessen Folge 15.000
       Plakatwände und 300.000 Ladenfront-Beschriftungen entfernt wurden.
       Zahlreiche Städte wie Grenoble oder Chennai in Indien sind dem Beispiel
       gefolgt.
       
       Die Argumente für eine werbefreie Stadt sind schnell aufgezählt:
       Kommerzialisierung, Hyperkonsum, Umweltverschmutzung. Bäume statt
       Billboards, rufen die Werbekritiker:innen. Und auf den ersten Blick ist man
       geneigt, ihnen bedingungslos zuzustimmen. Der Stelenwald von Reklametafeln
       ist ästhetisch wie psychologisch eine Zumutung, an jeder Ecke springen
       einen die aggressiven Kauf-mich-Botschaften an – als würde man im Internet
       von Cookies und personalisierter Werbung nicht genug verfolgt.
       
       ## „Heuschreckenschwärme von Schrift“
       
       Schon Walter Benjamin klagte in seiner 1928 publizierten Schrift
       „Einbahnstraße“ über ein „dichtes Gestöber von wandelbaren, farbigen,
       streitenden Lettern“: „Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon
       die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden
       dichter mit jedem folgenden Jahre werden.“
       
       Es stimmt ja: Immer mehr städtische Flächen werden zugekleistert mit
       Werbung – von Straßenbahnen über Bandenwerbung in Stadien bis hin zu
       gesponserten Stadtmöbeln. Und weil die Leute nur noch auf ihr Smartphone
       starren, werden die Plakate auch immer überdimensionierter, um
       Aufmerksamkeit zu erzeugen. In der Smartphone-Welt, schrieb das Magazin
       Curved, zähle immer noch der größte Bildschirm. Wer durch die nach den
       Lockdowns wieder aufblühenden Shopping-Malls läuft, könnte denn auch
       meinen, in einem werbefinanzierten Freizeitpark gelandet zu sein, einer
       urbanen Version von Facebook. Ein Flyer hier, ein Gewinnspiel dort;
       Rabattaktionen, wohin man blickt.
       
       ## Kommerzialisierung des urbanen Raums
       
       Die Kommerzialisierung des urbanen Raums treibt zuweilen seltsame Blüten.
       So hat McDonald’s im Rahmen einer Guerilla-Werbeaktion beim Zürifest 2010
       [1][gelbe Pommes im Stile eines Zebrastreifens auf die Straße gepinselt].
       Der Passant latschte quasi über eine zweidimensionale Pommestüte.
       Konsumkapitalismus am Limit. Insofern, als ein Außenwerbeverbot der
       kommerziellen Vereinnahmung von Städten Einhalt gebietet, ist damit auch
       eine Rückgewinnung des öffentlichen Raums verbunden. So hat beispielsweise
       der Street-Artist Etienne Lavie vor einigen Jahren in Paris Werbeplakate
       durch historische Gemälde ausgetauscht und den Stadtraum zum Museum
       gemacht. Delacroix statt Dior.
       
       Natürlich kann man sich über einzelne Werbung, etwa Tabakwerbung oder
       sexistische Werbung, streiten. Doch die Frage ist, ob sich ein generelles
       Werbeverbot mit der Idee von Stadt als einer Art von verräumlichtem
       Informationsaustausch verträgt.
       
       ## Werbung schon in der Antike
       
       Bereits in antiken Städten wie Pompeji wurde Werbung für Gladiatorenkämpfe
       oder auch Wahlwerbung auf Hauswände gepinselt. Im Mittelalter gingen
       Weinschreier durch die Gassen und machten Reklame für Wirtshäuser. Und im
       viktorianischen London liefen Menschen mit Brust- und Rückenschildern durch
       die Straßen – wandelnde Werbetafeln, für die Charles Dickens den
       sarkastischen Begriff der „sandwich men“ prägte.
       
       Die Litfaßsäulen, die 1855 als „Annoncier-Säulen“ in Berlin aufgestellt
       wurden, waren Kristallisationspunkte der bürgerlichen Öffentlichkeit. Jeder
       konnte einen Zettel daran heften, und jeder lief daran vorbei. Und diese
       Eigenschaft besitzt Außenwerbung bis heute: Man kann sie nicht abschalten,
       und man kann auch nicht mit einem Werbeblocker durch die Stadt laufen.
       
       ## Zustandsanzeige der Gesellschaft
       
       Obschon Relikte aus einer analogen Öffentlichkeit, sind diese Stadtmöbel
       eine valide Zustandsanzeige der Gesellschaft. Als im ersten Lockdown die
       Kulturbetriebe geschlossen wurden, waren die Werbeflächen auf den
       Litfaßsäulen leer. Wenn Städte Werbetafeln nun aus ihren Zentren verbannen,
       ist das nicht nur Ausdruck eines kulturellen Leerstands, sondern auch einer
       Fragmentierung der Öffentlichkeit, wo jeder mit seinem Smartphone als
       personalisierter Werbetafel herumläuft. Klar, es gibt dann keine
       sexistischen Werbeplakate mehr in den Städten. Aber auch keine öffentliche
       Debatte mehr darüber.
       
       Dabei braucht eine offene Stadtgesellschaft Werbebotschaften wie die Luft
       zum Atmen, schon allein wegen ihres konfrontativen und subversiven
       Charakters. Über Werbung werden ja auch politische Botschaften
       transportiert. Man denke an die Benetton-Schockwerbung über HIV-Positive in
       den 90er Jahren, die eine Debatte über den Umgang mit Aidskranken und die
       Grenzen des Konsumkapitalismus provozierte.
       
       ## Auch eine kulturelle „Säuberung“
       
       Es stellt sich daher die Frage, wovon die Ad-Free-Bewegung den öffentlichen
       Raum befreien will. Von kommerzieller Werbung? Von der Konsumlust? Oder
       auch von politischer Werbung? Was ist mit Wahlplakaten oder
       Kunstinstallationen? Erfüllt das auch den Tatbestand der „visuellen
       Verschmutzung“? Kann es sein, [2][dass die Purifizierung des öffentlichen
       Raums auch eine kulturelle „Säuberung“ impliziert]?
       
       Als in São Paulo Tausende Werbeschilder abmontiert wurden, hatten viele
       Bewohner:innen zunächst das Gefühl, die Megacity würde die Uniform des
       Kapitalismus abstreifen. Statt Panasonic-Werbetafeln zeigte die Stadt die
       Schönheit ihrer Art-déco-Gebäude, aber auch die Schroffheit ihrer Slums,
       die sich vorher in das Gewand schicker Reklame hüllten. Seit einigen Jahren
       ist jedoch zu beobachten, [3][dass große Marken das Außenwerbeverbot
       umgehen], indem sie gesponserte Street-Art an Hauswänden anbringen lassen.
       Durch diese kulturindustrielle Aneignung schafft sich Werbung eine neue
       Ausdrucksform.
       
       ## Subkulturen geraten ins Visier
       
       Die [4][Subkulturen in der brasilianischen Millionenmetropole] geraten
       dabei selbst ins Visier der staatlichen „Säuberung“, etwa die Pixadores,
       die sich [5][mit ihrer Kunst des pixação], einer Art Graffiti, auf
       Hausmauern verewigen. Was den einen als urbane Kalligrafie gilt, ist für
       die anderen schlicht Schmiererei. Die Polizei geht mit aller Härte gegen
       die Straßenkünstler vor. Was zeigt, wie gefährlich es ist, ästhetische
       Kriterien an Freiheit anzulegen.
       
       Der Historiker David Henkin hat in seinem Buch „City Reading“ geschrieben,
       dass im New York des 19. Jahrhunderts die Lektüre „urbaner Texte“ – von
       Flugblättern über Geldscheine bis hin zu Graffiti – für die Teilnahme am
       öffentlichen Leben essenziell war. Im 21. Jahrhundert scheint es dagegen
       weniger um Lesbarkeit als mehr um die Kontrolle urbaner Zeichen zu gehen.
       Das reicht von der Umbenennung von Straßennamen über das Aufstellen von
       Tempo-30-Schildern bis hin zu Werbeverboten, wie sie nun in Genf
       beschlossen wurden.
       
       ## Calvinistisches Verständnis
       
       Die Idee eines Adblockers für Städte zeugt von einem puristischen,
       calvinistischen Verständnis von Öffentlichkeit, als müsse man die
       Städter:innen vor dem lasterhaften Konsumkapitalismus bewahren. Nach dem
       Motto: Bloß keine nackte Haut, bloß kein Alkohol! In der urbanen
       Filterblase soll jeder optische Reiz, jeder Sichtkontakt zum Frivolen
       unterbunden werden.
       
       Was auf Dauer aber blind für das Andere macht. Denn Werbung ist ein Spiegel
       der Gesellschaft – und konstitutiv für die Identität von Städten. Shibuya
       Crossing in Tokio oder der Times Square in New York ohne Neonlichter und
       Leuchtreklame? Unvorstellbar! Würde man das Licht ausmachen, würde man
       einer ganzen Stadt den Stecker ziehen. Wer Werbetafeln demontiert,
       demontiert auch einen Teil der Öffentlichkeit.
       
       10 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.guerilla-marketing.com/weblog/guerilla-werbeaktion-pommes-tuete-als-zebrastreifen/
   DIR [2] https://www.theguardian.com/cities/gallery/2015/aug/12/tokyo-without-ads-japan-stripped-bare-in-pictures
   DIR [3] https://www.marketingweek.com/sao-paulo-ad-ban-makes-marketers-more-creative/
   DIR [4] https://cityscapesmagazine.com/articles/rewriting-the-city
   DIR [5] https://lab.org.uk/brazil-pixacao-sao-paulo%E2%80%99s-urban-calligraphy/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Adrian Lobe
       
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