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       # taz.de -- Netflix-Serie „The Billion Dollar Code“: Zu früh und am falschen Ort
       
       > Eine Miniserie erzählt die wirklich wahrste Wahrheit über die Erfindung
       > von Google Earth. Die Handelnden: Kunststudenten und Hacker 1993 in
       > Berlin.
       
   IMG Bild: Nerd-Alarm auf der Tech-Messe ITU 1994
       
       Das Timing ist schon mal nicht schlecht: Nur drei Tage nach dem
       Totalausfall von Facebook und Co – für viele eine Katastrophe, für nicht
       wenige ein Anlass zu nicht nur klammheimlicher Schadenfreude – zeigt
       Netflix eine neue (deutsche!) Miniserie, die einen anderen
       Technologiekonzern vorführt. Es ist nämlich so: [1][Google Earth] heißt
       eigentlich Terra Vision und wurde nicht um die Jahrtausendwende von einem
       Suchmaschinen-Konzern in Mountain View erfunden, sondern von Berliner
       Kunststudenten und Hackern im Jahr 1993. Nur weiß das keiner (mehr), weil
       ihnen der Konzern den Algorithmus geklaut hat. „Don’t be evil“ … am Arsch!
       
       „Wir waren einfach zu früh. Und am falschen Ort“, bringt es eine auf den
       Punkt, die dabei war, damals, Jahrzehnte bevor Angela Merkel das Internet
       für uns alle zu Neuland erklären würde. Die spezifische deutsche
       Rückständigkeit in digitalen Belangen wird in der Serie lustvoll
       ausgeschlachtet, aber, welche Ironie, ohne die Anschubfinanzierung der
       Deutschen Telekom, die 1993 eigentlich noch die Deutsche Bundespost war,
       wäre es auch nicht gegangen („Die haben jeden eingeladen, der den
       Einschaltknopf an ’nem PC finden konnte.“). Ohne sie hätte dieses Berliner
       Pärchen à la Steve Wozniak und [2][Steve Jobs] – der Nerd und der Verkäufer
       – nicht „das erste Start-up Deutschlands“ aufziehen können.
       
       Der Verkäufer ist Carsten Schlüter (Leonard Schleicher), ein Kunststudent,
       der mit seinen begrenzten technischen Fertigkeiten nicht in der Lage ist,
       seinen bräsigen Professoren – „Das is keine Kunst, das is ’n
       Systemabsturz!“ – zu verklickern, dass auch in der Kunst die Zukunft eine
       digitale sein wird. Von NFTs können die 1993 natürlich noch nichts wissen –
       wie ihre Studenten noch nichts von der UdK wissen können, weil ihre Schule
       damals noch die HdK ist. Aber geschenkt, ein Buchstabe, so kleinlich wollen
       wir mal nicht sein. Seinen Deckel auf den Topf findet der Verkäufer
       jedenfalls bald in Juri Schlüter (Marius Ahrendt), einem archetypischen
       Nerd aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs: „Daten sind die Pershings der
       Zukunft. Wer die Macht über die Daten hat, hat die Macht über die Welt. –
       Und wenn wir nicht dagegen ankämpfen, dann gehören in Zukunft alle unsere
       Daten den Falschen.“
       
       So wird es kommen und er sieht es kommen, wie er überhaupt das ganze
       Internet und die digitale Revolution antizipiert: in jedem Flugzeugsitz ein
       Bildschirm! Und das schon als kleiner – nerdiger – Junge in Ungarn, der den
       Sportlehrer-Vater enttäuscht, weil er den Sprung vom 10-Meter-Turm nicht
       wagt. Wir Zuschauer erfahren das aus einer Rückblende, die genau genommen
       eine Rückblende in der Rückblende ist. Denn die Serie hat auch noch eine
       Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt und von der Vorbereitung eines
       Gerichtsverfahrens erzählt, das Carsten und Juri mit Hilfe einer
       engagierten Anwältin (Lavinia Wilson) gegen Google anstrengen wollen. Was
       nicht so einfach ist, denn die beiden haben seit Jahren kein Wort
       miteinander gesprochen. Was ist damals nur schiefgelaufen? Und was hat das
       „Burning Man“-Festival damit zu tun?
       
       ## Neue Hoffnungsserie
       
       Und wird „The Billion Dollar Code“ der nächste Quotenhit beim keine Quoten
       preisgebenden Streamingdienst Netflix? So wie zuvor schon die erste
       deutsche, auch sehr, aber ganz [3][anders nerdige Netflix-Serie „Dark“]?
       Zuletzt hatte dort „Bridgerton“ reüssiert, gefeiert für ein color-blind
       casting – das man bei der drei Jahre älteren Netflix-Serie „Troy: Fall of a
       City“ offenbar und unverständlicherweise noch hatte übersehen können.
       Aeneas, Achilles und Zeus waren da mit PoC besetzt. Zeus! Der Göttervater!
       
       Bei allem Respekt, aber was ist dagegen eine britische Königin?! In diesen
       Tagen nun ist „Squid Game“ das große Ding: Es muss sich um eine Art
       südkoreanisches Remake von Wolfgang Menges und Tom Toelles „Das
       Millionenspiel“ handeln – deutsche Zuschauer konnten schon im Jahr 1970
       darüber staunen, wie Fernsehshow-Kandidaten um ihr Leben spielen …
       
       Aber da waren die Digital Natives, die jetzt so auf „Squid Game“ (oder
       „Dark“) abfahren, noch lange nicht auf der Welt. Könnte nämlich auch sein,
       dass man die vordigitale Steinzeit anno 1993 noch miterlebt haben muss, um
       jetzt darüber zu schmunzeln: wenn Regisseur Robert Thalheim und Autor
       Oliver Ziegenbalg die bekannte Geschichte einfach nur ein bisschen
       umschreiben, das heißt: korrigieren, so wie sie es bereits bei ihrem Film
       „Kundschafter des Friedens“ getan haben. Ein Coup ist ihre Besetzung der
       beiden (Anti-)Helden mit Mark Waschke und Mišel Matičević in der
       Rahmenhandlung: Matičević gibt sonst regelmäßig die ganz harten Kerle – so
       weich und schmerbäuchig hat man ihn wirklich noch nie gesehen!
       
       8 Oct 2021
       
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