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       # taz.de -- Nach der Bundestagswahl: Adieu, Volksparteien
       
       > Die eierlegende Wollmilchsau der repräsentativen Demokratie hat ihre
       > Existenzbedingungen verloren. Wir sollten uns daran gewöhnen.
       
   IMG Bild: Volkspartei SPD 1980, mit einem Volksparteienspruch und Willy Brandt (links)
       
       Alle reden von Volksparteien. [1][SPD und Union] wollen es nach wie vor
       sein (ganz besonders die CSU macht daraus ein Mantra), die Grünen wollen es
       werden. Selbst die abgewatschte Linke reklamiert den Begriff für sich,
       zumindest in Ostdeutschland. Volkspartei zu sein, und wenn auch nur im
       Kleinen, das scheint der Goldstandard, an dem der Erfolg einer Partei
       bemessen wird. Ob der Begriff der Volkspartei wirklich ein normatives Ideal
       darstellt, gerät dabei nur selten in den Blick.
       
       Ursprünglich bezeichnet der Begriff der Volkspartei ein
       Niedergangsszenario. Der SPD-Parteitheoretiker Eduard Bernstein fragte 1905
       bang: „Wird die Sozialdemokratie Volkspartei?“ Für ihn war dieses Szenario
       alles andere als verheißungsvoll. Etabliert hat den Begriff der Volkspartei
       in den 1960er Jahren Otto Kirchheimer, einer der Gründungsväter der
       deutschen Politikwissenschaft.
       
       Kennt man den Begriff, den Kirchheimer synonym zu dem der Volkspartei
       verwendet, dann ahnt man schon, dass auch er kein Fan des neuen Parteityps
       war: Für Kirchheimer galten Volksparteien als Allerweltsparteien,
       ideologisch verwässert und ihres organisatorischen Unterbaus beraubt. Den
       von ihm ursprünglich gewählten Begriff der „catch-all party“ (als Emigrant
       schrieb Kirchheimer auf Englisch) wendete er bezeichnenderweise zuerst auf
       die Nationale Front der DDR an.
       
       Für Bernstein und Kirchheimer bezeichnete der Begriff der Volkspartei einen
       Etikettenschwindel, bei dem die zentralen Werte der Kernwählerschaft auf
       dem Altar des Appells an breitere Bevölkerungsschichten geopfert wurden. In
       der Tat ist der Spagat zwischen tiefer Verwurzelung in einem Kernmilieu und
       gleichzeitiger Attraktivität für weitere gesellschaftliche Gruppen
       eigentlich nicht zu schaffen.
       
       Eigentlich. Uneigentlich gab es aber eine Zeit für diese eierlegende
       Wollmilchsau der repräsentativen Demokratie: den Kalten Krieg. In dessen
       bipolarer Weltordnung erwuchsen den Führungen von Christ- und
       Sozialdemokratie unverhofft zwei Drohungen, vermittels derer sie das
       verhindern konnten, was den Erfolg von Volksparteien unter
       Normalbedingungen konterkariert: die Abwendung der Kernwählerschaft hin zu
       Parteien, die weiterhin die reine Lehre vertreten und diese nicht für den
       Appell an die Massen verwässern. Diese Drohungen waren zum einen der
       Antikommunismus, mit dem Linksabweichler diszipliniert werden konnten. Die
       letzten Ausläufer dieses Disziplinierungsreflexes haben wir im gerade erst
       zu Ende gegangenen Wahlkampf erlebt. Zum anderen diente der Appell an den
       Verbleib im „westlichen Bündnis“ denjenigen als wirksame Drohung, die nach
       rechts erneut auf deutsche Sonderwege abbiegen wollten. Wer wollte schon
       mit „Moskau“ gemeinsame Sache machen oder den Schutzschirm der USA
       verlassen?
       
       Diese beiden Drohungen waren der Nährboden, auf dem [2][Volksparteien] erst
       gedeihen konnten, und angesichts der deutschen Vergangenheit ging diese
       Saat besonders gut auf und blühte im europäischen Vergleich erstaunlich
       lange. Stabilität, das war der Slogan der Volksparteien, und noch Olaf
       Scholz (geschickter) und Armin Laschet (plumper) haben ihn im Wahlkampf
       permanent im Mund geführt.
       
       Dennoch: Sogar im Kalten Krieg war das Unbehagen an den Allerwelts-,
       pardon: den Volksparteien greifbar. Den Grünen waren in ihren ersten Jahren
       die Volksparteien das, was heute der AfD die „Altparteien“ sind: die Folie,
       von der sie sich um jeden Preis – im Fall der Grünen als
       „Anti-Parteien-Partei“ – abzugrenzen versuchten. Zu einer Tugend wurde die
       volksparteitypische Quadratur des Kreises der Repräsentation eigentlich
       erst, als ihre Existenzbedingung zusehends entfiel.
       
       Die Käseglocke des Kalten Krieges, die den politischen Wettbewerb zu
       deckeln vermochte, ist passé. Nichts verdeutlicht dies besser als die
       ideologisch vermeintlich „reineren“ Konkurrenten, die den Sozial- und
       Christdemokraten mittlerweile erwachsen sind. Erstere handelten sich im
       Zuge der Agenda-Reformen die gesamtdeutsche Linkspartei ein und Letztere im
       Zuge der Migrationskrise die AfD. Die Klimaliste wartet mutmaßlich schon
       auf das selbsterkorene Fanal, das ihnen [3][die Grünen] bieten. Willkommen
       also zurück in der alten neuen Normalität des volksparteifreien
       Parteiensystems.
       
       All dies ließe sich mit einem wissenden Nicken zu den Akten nehmen, steckte
       dahinter nicht ein paradoxes, aber typisches und vor allem verhängnisvolles
       Muster: Normative Strahlkraft entfaltet immer das jeweils vorangegangene
       dominante Organisationsmodell politischer Parteien, das dann in der
       Gegenwart hervor gekramt wird, um „den“ Parteien Versäumnisse vorzuwerfen.
       Die so geäußerte Kritik fällt gern fundamental aus und nimmt billigend in
       Kauf, dass nicht nur einzelne Parteien, sondern die repräsentative
       Demokratie als solche dabei aufs Korn genommen wird. Kaum waren im frühen
       20. Jahrhundert die ersten Massenparteien aufgekommen, wurden sie vom
       Soziologen Robert Michels als Oligarchien abgetan. Kirchheimer waren die
       Massenparteien die Folie, vor deren Hintergrund er die Krisendiagnose
       Volkspartei stellte.
       
       Heute sind die Volksparteien selbst zum Ideal avanciert, das so
       vermeintlich positiv kontrastiert mit den gegenwärtigen sogenannten
       Kartellparteien. In diesem Begriff kulminieren die Vorwürfe von Michels
       (Abkopplung der Parteieliten von den Mitgliedern) und Kirchheimer
       (Abkopplung der Parteieliten von den Wählern). Politikwissenschaftlich
       hochumstritten, hat sich die Diagnose zum Kampfbegriff der AfD gemausert.
       
       Wir sollten damit aufhören, stets das gerade abgelegte Organisationsmodell
       von Parteien anzuhimmeln und Parteien stattdessen an den gesellschaftlichen
       Realitäten messen, die sie widerspiegeln. Im Zweifelsfall kommt es darauf
       an, sie zu verändern. Aber bitte in der Gegenwart, nicht in der
       Vergangenheit.
       
       8 Oct 2021
       
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