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       # taz.de -- Braunkohleprotest bei Garzweiler: Warten auf die neue Abrisskante
       
       > Im Dorf Lützerath bereiten sich AktivistInnen darauf vor, dass Fahrzeuge
       > zum Abholzen und Abreißen anrücken. Am Horizont stehen Windräder – still.
       
   IMG Bild: Zelten gegen die anrückenden Kohlebagger: Protestcamp in Lützerath
       
       Lützerath taz | Gelbe Stühle, überall gelb gekleidete Menschen, gelbe
       Plakate, Schirme und Bänder, große gelbe Holzkreuze auf den Wegen.
       Lützerath, der kleine Restweiler am Rande des Braunkohletagebaus Garzweiler
       II bei Mönchengladbach, war am Wochenende noch gelber dominiert als sonst.
       Am letzten bewohnten Gehöft hängt seit Freitagmorgen ein 15 Meter breites
       Banner, weithin sichtbar aufgehängt von Greenpeace: „1,5 Grad heißt:
       Lützerath bleibt!“ Auch das in leuchtendem gelb.
       
       Freitag, der 1. Oktober, war ein wichtiges Datum, denn ab sofort ist es
       naturschutzrechtlich erlaubt zu roden. Jeden Moment können die Kommandos
       des Kohlekonzerns RWE-anrücken für neue Kahlschläge. Und so hatte die
       Klimaszene mobilisiert, der Kohle-Widerstand gehe jetzt in eine
       entscheidende Phase.
       
       Begonnen hatte das Wochenende mit der Aktion „Platz nehmen“: großes
       Picknick ganz in gelb zwischen dem Restweiler Lützerath und der Grubenkante
       gleich daneben. Genau hier, sagen die KlimaschützerInnen, verläuft
       Deutschlands 1,5-Grad-Grenze. Ein Barde sang den Heimatdieben entgegen:
       „Egal was ihr treibt, Lützi bleibt.“ Dann ließ eine zehnköpfige
       Percussionformation Samba-Rhythmen über die niederrheinischen Weiten
       schweben. Zweihundert Leute hatten Platz genommen.
       
       Wenn Lützerath zum neuen Symbolort gegen die Klimavernichtung durch Kohle
       geworden ist, ist Eckardt Heukamp die aktuelle Symbolfigur: ein ruhiger,
       wortkarger Mann, kariertes Hemd, Arbeitsjacke. Der Landwirt lebt allein auf
       seinem großen Lützerather Familienhof aus dem 18. Jahrhundert. Er verkauft
       sein Anwesen nicht. Bis zum 1. November soll er enteignet werden, jeden Tag
       droht das „vorzeitige Inbesitznahmeverfahren“. Raus!, hieße das, sofort.
       
       ## Der Bauer wartet auf Post
       
       Heukamps Anwälte haben Gutachten in Auftrag gegeben und geklagt, Kosten
       bislang: 90.000 Euro. Täglich, erzählt Heukamp, gucke er unruhig in seinen
       Briefkasten, „ob es Post vom zuständigen Verwaltungsgericht Aachen gibt“.
       Seine Hoffnung: Eine einstweilige Verfügung. Dann muss RWE draußen bleiben.
       Am Wochenende wieder keine Post, aber: „Ich bleibe guter Hoffnung.“ Die
       wenigen verbliebenen Häuser um seinen Hof herum gehören längst RWE, sie
       sind abgezäunt, rund um die Uhr wachen dort eisgesichtige Sicherheitskräfte
       mit Hunden.
       
       Auf dem mehrere Fußballfelder großen Areal hinter Heukamps Hof sieht man
       eine weite Wiese, ein Wäldchen, und ein paar alte Nebengebäude. Hier haben
       hunderte Menschen Quartier bezogen: in vielen Dutzend Zelten, rund 20
       Baumhäusern, in vier alten Nebengebäuden. Heukamp hat ihnen vor Monaten
       schon die rechtzeitige Inbesitznahme erlaubt. So hat er jetzt statt eigener
       Kinder hunderte Patenkinder. „Die vielen Menschen zeigen, dass ich nicht
       allein bin. Das macht Mut.“ Seit ein paar Wochen lebt auch [1][Carola
       Rackete] hier, die aufsässige Kapitänin der Sea Watch III.
       
       Mit ihr wohnt hier eine bunte Melange: Leute, die sich den
       Klimaktivist:innen von Extinction Rebellion zugehörig fühlen oder den
       Braunkohlgegner:innn [2][von Ende Gelände] oder niemandem direkt. Man
       übt das Klettern, baut neue Baumhäuser, veranstaltet Skill Share Workshops,
       lebt ein anderes Leben. Mittig auf der Wiese steht ein großes buntes
       Zirkuszelt, für die täglichen Meetings. Vor einer Woche freute man sich
       über [3][den Besuch von Greta Thunberg].
       
       Ende Gelände hat längst weitere Blockaden in Lützerath angekündigt.
       Ansonsten gilt: warten und vorbereiten auf den Tag X. Alle wissen, dieses
       Terrain wäre deutlich schneller überrant als es bei der illegalen Räumung
       des unwegsamen, dichten Hambacher Waldes 2018 der Fall war. Nachbarn aus
       den fünf anderen bedrohten Dörfern kommen vorbei, zum Beispiel mit
       Lebensmitteln. Oder Besetzer von „Unser aller Wald“ mitten in Keyenberg,
       ein Dorf weiter.
       
       ## LKW bringen Absperrgitter
       
       Gerade als man mittags bei veganer Linsensuppe saß, waren vor Heukamps Hof
       plötzlich zwei Klein-LKW angefahren gekommen, beladen mit dutzenden
       Absperrgittern und Betonklötzen. Sie wollten an der gelben Meute und ihrer
       genehmigten Demonstration vorbeifahren. Nix da, sofort stellten und setzten
       sich Leute in den Weg. Die Fahrzeuge waren eingekesselt. Einer der Fahrer
       behauptete kess, man habe sich verfahren und wollte eigentlich in das
       Braunkohleloch. Nur, was sollen in der weiten Wüste unten die niedlichen
       Gitter?
       
       Zwei schwarz vermummte Menschen nahmen auf dem Dach eines der LKW Platz,
       während die Fahrer aufgeregt telefonierten. Herbeigeeilte Wiesenbewohner
       entluden derweil die komplette Fracht und bauten daraus einen Zaun rund um
       die Fahrzeuge. Als erstaunlich spät zwei Polizeiwannen kamen, durften die
       Fahrer die Zäune wieder einsammeln, aufladen und unverrichteter Dinge
       davonfahren.
       
       Schon vor dem Morgengrauen hatten tief unten im Tagebau zwei Dutzend
       Menschen der bislang unbekannten Formation „Gegenangriff. Für das Gute
       Leben“ drei der Riesenbagger besetzt. Das blieb zunächst unsichtbar. Ein
       Boulevard-Fotograf maulte: „Auch mit 800er Tele, keine Chance, Sohle 4,
       siehste nichts.“ Im Laufe des Tages tauchten in den sozialen Netzwerken
       Bilder und Filme der BesetzerInnen auf. Die Polizeikräfte („Kletter Cops“)
       hatten Mühe, die angeketteten Aktivisti aus den 60 Meter holen
       Baggerstreben herunterzuholen. Erst am späten Freitagabend war Schluss. Es
       war mit gut 16 Stunden die vermutlich längste Baggerbesetzung der
       Geschichte geworden.
       
       22 der Gegenangreifer wurden vorläufig festgenommen und in Aachen während
       der Nacht erkennungsdienstlich behandelt. Bei 14 von ihnen war die
       Identifizierung wegen manipulierter Fingerkuppen nicht möglich. Das
       Amtsgericht erließ Haftbefehl für, so die Polizei, „ein längerfristiges
       Gewahrsam“, um ihre Identität noch zu ermitteln. RWE hat wie üblich
       Strafanzeige wegen Hausfriedensbruch gestellt. Die 14 sitzen jetzt ein,
       seit Samstagabend auf acht Orte in NRW verteilt. Die Empörung der Aktivisti
       draußen ist groß, eine Woche Gewahrsam lässt das Polizeigesetz NRW zu.
       
       Kaum 500 Meter nördlich von Lützerath arbeitete sich am Wochenende ein
       Schaufelradbagger gleich an der Oberfläche gut sichtbar voran, als wollte
       er einen Keil graben zwischen dem Ort und den anderen Dörfern drei, vier
       Kilometer nördlich. Klar, eine gezielte Provokation. Am Samstag war dann
       die Regionalgruppe des Polit-Orchesters Lebenslaute auf das abgesperrte
       Gebiet bis zum Bagger vorgedrungen und hatte ein „Andante an der Kante“
       gegeben: Geigen, Flöten und Gesang direkt vor dem Bagger, den die
       Lebenslautner jetzt als „fotogen platziert“ für ihre Bilder und Klänge
       uminterpretierten.
       
       Disput über Zellentüren 
       
       Im August waren gut zwei Dutzend Ensemblemitglieder von Lebenslaute,
       darunter 14 Frauen und ein 75-Jähriger, nach einem Konzert („Triole gegen
       Kohle“) tief unten im Braunkohleloch festgenommen und ebenfalls stundenlang
       im Aachener Polizei-Präsidium erkennungsdienstlich behandelt worden. Damals
       hatten einzelne Frauen empört erklärt, sie seien bei der Nacktkontrolle
       durch nicht geschlossene Zellentüren von männlichen Beamten womöglich
       begafft worden.
       
       Unabhängig davon haben die MusikerInnen Strafanzeige gegen
       RWE-Sicherheitsleute wegen vorsätzlicher Körperverletzung beim Konzert im
       Tagebau eingereicht. Es lägen sehr detaillierte Filmaufnahmen vor. Auch am
       Wochenende berichteten Besetzer von „Gegenangriff – für das Gute Leben“ von
       brutalen Übergriffen der RWE-Leute tief im Loch.
       
       Das Dorf und das Weltklima 
       
       Greenpeace-Sprecher Bastian Neuwirth erklärte derweil im gelben Dorf kurz
       und knapp: „In Lützerath entscheidet sich Paris.“ Wenn die 900.000
       Millionen Tonnen Braunkohle im Tagebau Garzweiler wirklich noch verfeuert
       würden, sei die im Jahr [4][2015 bei der Pariser Klimakonferenz vereinbarte
       1,5-Grad-Grenze] nicht mehr zu halten. Und er vermutete: „RWE will im
       Windschatten der Koalitionsverhandlungen in Berlin schnell Fakten
       schaffen.“
       
       Womöglich ist es kurzfristig genau umgekehrt. Aachens Polizeichef Dirk
       Weinspach teilte mit: „Das Polizeipräsidium Aachen, das für Klimaproteste
       im Rheinischen Revier eine Aufgabenübertragung hat, plant auf absehbare
       Zeit keine Einsätze zur Absicherung von Abbruch- und Rodungsarbeiten, da
       keine Vollzugshilfeersuche vorliegen.“ Das hieße: Angeblich hat RWE
       kurzfristig nichts vor.
       
       Die naheliegende Vermutung: Die NRW-Regierung hat ihren Abriss-Partner RWE
       um Geduld gebeten hat. Noch-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) will
       keine zusätzlichen Angriffsflächen bieten [5][bei seinen letzten Zuckungen
       Richtung Kanzleramt]. Rodungen kann man im Dezember noch genauso gut
       erledigen, zumal es deutlich weniger wegzuholzen gibt als Jahr und Jahr in
       Hambach.
       
       Windräder stehen still 
       
       Wenn man in Lützerath den Blick über die Landschaft schweifen lässt, sind
       rundum gut hundert Windräder zu sehen, die übrigens auch RWE Power gehören.
       Nun blies am Wochenende im Rheinland ein stetiger und ergiebiger Wind.
       Trotzdem standen, wie so oft, die Hälfte der Turbinen still. Nicht weil sie
       kaputt wären. Sie sind ausgeschaltet, weil die Braunkohleverstromung
       ununterbrochen läuft. Die Steinzeittechnologie lässt sich nicht einfach
       unterbrechen, stattdessen ruhen halt die Windräder, weil das Netz gesättigt
       ist.
       
       So verhindert der Braunkohleabbau sehr direkt, Tag um Tag, Stunde um
       Stunde, die Nutzung der Erneuerbaren. Und arbeitet sich unermüdlich näher
       an 1,6 Grad folgende.
       
       3 Oct 2021
       
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