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       # taz.de -- Geflüchtete in Libyen: Mit Milizengewalt gegen Flüchtende
       
       > Libysche Sicherheitskräfte haben Tausende Menschen aus afrikanischen
       > Ländern festgenommen. Viele waren erst seit Kurzem vom UNHCR anerkannt.
       
   IMG Bild: MigrantInnen an Bord eines Bootes von Ärzte ohne Grenzen vor der libyschen Küste im September
       
       Tunis taz | Bei mehreren Verhaftungsaktionen haben libysche
       Sicherheitskräfte in den letzten Tagen mindestens 4.000 MigrantInnen
       festgenommen. Die vom Innenministerium organisierte Kampagne begann am
       Freitag mit einem unangekündigten Aufmarsch von mehreren hundert
       Uniformierten in dem Tripolitaner Stadtteil Gargaresch. Unweit der von
       Lagerhäusern und verwinkelten Wohnvierteln durchzogenen Gegend liegt ein 10
       Kilometer langer Strandabschnitt, von dem Menschenhändler seit vielen
       Jahren MigrantInnen und Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika in Schlauchbooten
       über das Mittelmeer nach [1][Lampedusa] oder Sizilien schicken.
       
       Ein Mensch wurde bei den Razzien erschossen, mindestens 15 teils durch
       Schüsse verletzt, so ein Sprecher des Innenministeriums. Die Mehrheit der
       in Gargaresch lebenden Migrant:innen mieten zusammen mit Freunden
       Wohnungen und arbeiten als Tagelöhner auf Baustellen, Autowaschanlagen oder
       in Restaurants.
       
       „Die Milizen haben aber zwischen den von Menschenhändlern entführten und in
       Hallen festgehaltenen Menschen und denjenigen mit Wohnung, Arbeit und einer
       UNHCR-Karte keinen Unterschied gemacht“, beschwert sich telefonisch Michael
       aus Lagos, der seit einem Jahr in Gargaresch lebt.
       
       Zusammen mit fünf anderen Nigerianern mietet Michael im 5. Stock eines
       Mehrfamilienhauses eine Zweizimmerwohnung. Bei einem Überfahrtsversuch nach
       Italien im Juli 2020 wurde die Gruppe von der libyschen Küstenwache
       aufgegriffen, in den Hafen von Tripolis zurückgebracht und dann in das
       Gefängnis Ain Zara gesteckt. „Dort haben uns Mitarbeiter der Vereinten
       Nationen registriert und eine ID-Karte gegeben. Die Milizen in Tripolis
       würden uns in Ruhe lassen, sagten sie.“
       
       Sie konnten das Gefängnis verlassen und in eine Wohnung ziehen. Nun ist das
       vorbei. Michael wurde von den Bewaffneten am Freitag aus seiner Wohnung
       vertrieben und befindet sich nun nach eigenen Angaben im Abschiebezentrum
       der Behörde gegen illegale Migration, die dem Innenministerium untersteht.
       
       ## Alltäglicher Terror der Milizen
       
       Nach der Bombardierung eines Lagers für Migranten und Flüchtlinge während
       des Krieges um Tripolis im Juli 2019 hatte das UN-Flüchtlingshilfswerk
       UNHCR zusammen mit dem damaligen libyschen Innenminister Fathi Bashaga
       beschlossen, die über ein Dutzend Lagern und Gefängnisse für Migranten zu
       schließen. Mit einem Paket Grundnahrungsmittel, Seife, Handtücher und
       umgerechnet 30 Euro wurden die Menschen in die Stadt entlassen. Seitdem
       gehörten sie zum Straßenbild in Gargaresch, Jansour und anderen küstennahen
       Stadtteilen der Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole Tripolis.
       
       Alltäglich blieb aber auch der Terror der ehemaligen Milizen, die nun in
       modernen gepanzerten Mannschaftstransportern und Uniformen der
       westlibyschen Armee operieren. Immer wieder nahmen diese Milizen Gruppen
       von dunkelhäutigen Migranten willkürlich fest, auch vor den neuen
       Großrazzien.
       
       „Mehrmals haben mich auch Jugendgangs mit vorgehaltener Waffe auf dem
       Nachhauseweg um meinen Lohn und mein Handy gebracht“, berichtet Michael der
       taz am Telefon. „Ich habe jeden Tag erlebt, wie die Milizen, die Schmuggler
       und Menschenhändler zusammenarbeiten.“
       
       Bei einem Besuch im letzten Jahr hatte der 32-Jährige der taz in Gargaresch
       die Stelle gezeigt, von der er vor zwei Jahren in einem Schlauchboot nach
       Lampedusa abgelegt hatte. „Whisky Street“ stand auf einem handgemalten
       Schild in der von Industriebetrieben und Import-Export-Geschäften
       dominierten Straße. Hier herrschten Menschenhändler und Schmuggler des in
       Libyen verbotenen Alkohols. Immer wieder hatten verschiedene revolutionäre
       Milizen die im Mafia-Stil arbeitenden Gruppen vertreiben wollen. Aber
       selbst Islamisten scheiterten bei ihrem Vorgehen gegen den Alkoholhandel an
       den engen Straßen und den Familiennetzwerken in Gargaresch.
       
       ## Kein Zugang zu den Verhafteten
       
       Ein Sprecher von Libyens [2][Premierminister Abdul Hamid Dbaiba] sagte am
       Montag vor libyschen Journalisten, dass man die Mehrheit der verhafteten
       Migranten zurück in ihre Heimatländer fliegen wolle. Dbaiba inspizierte
       persönlich den Verlauf der Aktion in Gargaresch.
       
       Doch da viele Migrantinnen ohne Reisedokumente nach Libyen gekommen sind,
       dürfte die sogenannte „Repatriierung“ nur bei einer Minderheit gelingen.
       Vorläufig sitzen die Menschen nun in den wiedereröffneten Gefangenenlagern.
       Vertreter des UNHCR und der UN-Migrationsorganisation IOM zeigten sich über
       das Vorgehen der libyschen Behörden beunruhigt. Sie haben bisher keinen
       Zugang zu den Verhafteten und mahnen an, Repatriierungen müssten auf
       Freiwilligkeit basieren und vom IOM durchgeführt werden.
       
       Wenn die Häftlinge weiter festsitzen, dürften sie ihre Odyssee bald einfach
       wieder von vorne beginnen. „Das beginnt mit dem Freikaufen aus der Haft,
       indem man die Wächter mit umgerechnet rund 300 Euro besticht. Dann arbeitet
       man drei Monate, bis man die 500 Euro für einen Platz auf einem Boot
       zusammen hat. Oder man lässt sich von einem Taxifahrer an die
       libysch-tunesische Grenze bringen“, berichtet die 32-jährige Queen.
       
       Die Nigerianerin lebt mit ihrem in einem libyschen Krankenhaus geborenen
       Sohn und ihrem Mann in der [3][tunesischen Hafenstadt Zarzis]. Mehrmals
       erlebte sie Razzien und Verhaftungsaktionen durch Milizen, als sie zwei
       Jahre lang in Gargaresch lebte.
       
       ## „Menschenhändler haben das Sagen“
       
       Man lebe in der libyschen Hauptstadt in ständiger Angst, sagt sie. Nachdem
       sie in der Grenzstadt Zuwara von maskierten Milizen der Stadtverwaltung aus
       dem „Getto“ eines Menschenhändlers befreit wurde, floh sie nach Tunesien.
       „Ich wollte nicht das Leben meines einjährigen Sohnes riskieren und ging
       orientierungslos nachts zu Fuß durch das Niemandsland, bis ich auf eine
       tunesische Armeepatrouille traf.“
       
       Der libysche Menschenrechtsaktivist Ayoob Sufian aus der Stadt Zuwara fühlt
       sich durch die aktuellen Zustände an 2015 erinnert, der Höhepunkt der
       Flüchtlingskrise. „Auch wenn die Zahlen etwas geringer sind – die
       [4][Menschenhändler haben in den westlibyschen Städten] wieder das Sagen“,
       berichtet er. „In einigen Häfen tragen sie sogar die Uniformen der
       Küstenwache und werden von der Dbaiba-Regierung bezahlt.“ Mehrmals in den
       letzten Jahren hat Sufian mit Mitstreitern die Öffentlichkeit in Zuwara
       gegen die privaten Gefängnisse und das Zusammenpferchen von über 100
       Menschen auf Schlauchbooten mobilisieren wollen, doch ohne Erfolg.
       
       Nun will der Bürgermeister von Zuwara ähnlich wie in Gargaresch vorgehen.
       Ausländer, die sich bis Dienstag nicht mit Ausweispapieren bei den Behörden
       melden, würden abgeschoben, steht auf der Facebook-Seite der
       Stadtverwaltung. Vielen bleibt nichts weiter als die zurzeit recht günstige
       Flucht über das Mittelmeer.
       
       Seit Sonntag wird bereits ein von Zuwara losgefahrenes Schlauchboot mit 70
       Passagieren vermisst. Viele Boote werden in den nächsten Tagen unentdeckt
       verschwinden, fürchtet Ayoob Sufyan. Allein von den Stränden Zuwaras legten
       am Sonntag zehn Boote ab.
       
       4 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Mirco Keilberth
       
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