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       # taz.de -- Wenn Grüne und FDP regieren: Perverse Politik von Ödipus
       
       > Die Grünen haben bei der Wahl grotesk schlecht abgeschnitten. Dabei wäre
       > es nötig, radikale Klimapolitik gegen die FDP durchzusetzen.
       
   IMG Bild: Weiter notwendig: große Kundgebung von Fridays for Future am Freitag vor der Wahl in Berlin
       
       Warum, dachte ich im Frühjahr 2020, wird nur „Die Pest“ und der
       „Decamerone“ als moralische Antwort auf die Pandemie herangezogen – nicht
       aber das älteste Pest-Stück der Literaturgeschichte, „König Ödipus“ von
       Sophokles? Damals, während der ersten Welle, war das Stück wohl zu düster.
       Jetzt, da die Pandemie zu Ende geht, wird es von Berlin bis Paris und von
       London bis São Paulo auf Dutzenden der wiedereröffneten Bühnen inszeniert.
       
       Worum geht es? Als in Theben die Pest ausbricht, ruft König Ödipus seine
       engsten Berater zusammen. Nach und nach muss er erfahren, dass er selbst
       Ursache der Pandemie ist. Denn er hat seinen Vater, den ehemaligen König,
       erschlagen. Ödipus wird von Sophokles nicht als irrer Populist gezeichnet,
       sondern als rationaler Herrscher, eine Art antiker Gutmensch. Gerade weil
       er gern gut wäre – oder in einer Zivilisation lebt, die von den Regierenden
       immerhin oberflächliche moralische Reinheit einfordert –, kann er nicht
       akzeptieren, dass seine Herrschaft in ihrer Wurzel obszön ist.
       
       ## Qualen, die man selbst erschuf
       
       Damit wird „Ödipus“ zur Allegorie unserer Zeit, zur Tragödie des modernen
       Bewusstseins. Auch wir haben begriffen, dass der Klimawandel, die daraus
       folgenden Kriege und Massenfluchten kein objektives Ereignis sind, kein
       unverdienter Krieg der Natur gegen den Menschen, sondern der Pay-off einer
       zerstörerischen Lebensweise. Gott ist tot, wie Nietzsche einst sagte;
       wirklich gestorben ist er aber erst mit der wissenschaftlichen
       Selbsterkenntnis des Anthropozän. Oder wie Ödipus es formuliert: „Am
       schmerzlichsten aber sind jene Qualen, die man frei sich selbst erschuf.“
       
       Interessant ist, wie Ödipus auf die schrittweise Aufdeckung reagiert:
       zuerst mit Misstrauen, dann mit Verdrängung, mit Wut und schließlich mit
       Verzweiflung und Selbsthass. Sophokles’ Tragödie ist eine Pathologie der
       Negation, eine Analyse der Emotionen der herrschenden Klasse und ihrer
       Versuche, trotz aller gemachten Fehler irgendwie an der Macht zu bleiben.
       
       ## Die Moves der Mächtigen
       
       Die Geschichte ist voll solcher Moves der Mächtigen, und die letzte und –
       immerhin für mich – besonders bittere Lektion in dieser Disziplin sind die
       deutschen Bundestagswahlen. Zuerst sei festgehalten: Das historisch
       schlechteste Ergebnis der CDU und das Wiedererstehen der SPD aus der Asche,
       die im Ausland für viel Aufmerksamkeit gesorgt haben, sind ein
       Nebenschauplatz. Deutschland ist trotz aller Schwankungen im Kern ein
       Zweiparteiensystem.
       
       Nein, das eigentliche Ereignis des vergangenen Sonntags ist etwas anderes:
       das grotesk niedrige Ergebnis der Grünen. Noch in einigen Sommerumfragen
       war Baerbocks Partei auf 30 Prozent Zustimmung gekommen, am Ende landete
       sie bei der Hälfte. Dass eine Partei, die als einzige glaubwürdig für eine
       Änderung der Klimapolitik steht, nicht siegen konnte – einen Tag nach dem
       Weltklimatag, zwei Monate nachdem halb Westdeutschland in apokalyptischem
       Hochwasser versunken war –, ist als politische Verdrängungsleistung genauso
       beeindruckend wie final desillusionierend.
       
       ## Lindner und Wissing wie zwei Manager
       
       Noch absurder ist, dass die neoliberale FDP, die für ungebremstes
       Wirtschaftswachstum und damit alles steht, was den Klimawandel in den
       letzten Jahrzehnten verschuldet hat, nun gemeinsam mit den Grünen (und wohl
       der SPD) eine Koalition bilden wird. Ein erstes Selfie von den
       Verhandlungen zwischen den Parteien zeigt die neoliberalen FDP-Boys Lindner
       und Wissing, Haare zurückgegelt und gekleidet wie zwei Wallstreet-Manager
       aus „American Psycho“, zwischen den Grünen-Chefs Baerbock und Habeck. „Wir
       loten Brücken über Trennendes aus“, heißt es unter dem Selfie, „spannende
       Zeiten!“
       
       Die FDP und die Grünen: Die einen stehen für ungehemmtes Wachstum und gegen
       gesellschaftliche Kontrollen – die anderen für das Gegenteil. Die einen
       wollen den Planeten, nun ja, retten, die anderen ihn nochmal so richtig
       ausbeuten, bevor endgültig Schluss ist, unter dem Banner der ökonomischen
       Rationalität und der politischen Machbarkeit. Dass die Grünen und die FDP
       nun gemeinsam „Königsmacher“ sind – jene im deutschen Zweiparteiensystem so
       entscheidende dritte Macht – ist Signum unserer Zeit. Es ist so, als würde
       Ödipus, nachdem alles aufgedeckt ist, einfach fröhlich mit Iokaste
       weiterregieren. Regieren um des Regierens willen: „[1][spannende Zeiten“
       stehen uns bevor]!
       
       ## „Keine Experimente!“
       
       Das Selfie von den Koalitionsverhandlungen der Grünen mit der FDP wäre noch
       vor wenigen Jahrzehnten als der finale Verrat wahrgenommen worden – heute
       führte es innerhalb von Minuten zu Tausenden von Kommentaren, die im
       Wesentlichen die Kompromissbereitschaft der beiden Parteien lobten, gemäß
       dem Mantra „So funktioniert eben Demokratie“.
       
       Denn seien wir ehrlich: Wir Westeuropäer hassen seit dem Zweiten Weltkrieg
       jede Form von politischem Extremismus oder gar staatlicher Bevormundung und
       lieben es, wenn die Gegensätze sich in einer politischen Leerformel
       vereinigen. „Keine Experimente!“, hieß der berühmteste und erfolgreichste
       Wahlkampfslogan in Deutschland nach dem Krieg, mit dem die CDU 1957 das
       höchste Ergebnis einer Partei bei Bundestagswahlen jemals erzielte. Der
       Traumatisierte will vor allem eines: Normalität, egal mit welchen Kosten.
       
       ## Vulgärliberalismus der FDP
       
       Der Unterschied zu den 50ern ist nur, dass wir keine Zeit für „Normalität“
       mehr haben. Obwohl es aktuell ungefähr so lebenswichtig ist, eine radikale
       Klimapolitik gegen alle Widerstände aus der Wirtschaft durchzusetzen, wie
       in einem leckgeschlagenen Flugzeug die Atemmaske aufzusetzen, diskutierte
       man in Deutschland, der größten Wirtschaftsnation der EU, in den letzten
       Monaten ausschließlich über das Grinsen Laschets und den geschönten
       Lebenslauf Baerbocks.
       
       Und was immer die Grünen sich einreden mögen: Im Kampf gegen den
       Vulgärliberalismus der FDP werden sie sich in den nächsten vier Jahren
       aufreiben. Denn dass Freiheit in der Übernahme von Verantwortung besteht,
       das hat die FDP und mit ihr die deutsche Wirtschaft nie verstanden. Mitten
       im globalen Klimanotstand verkündet die FDP noch immer Steuersenkungen für
       Großverdiener und macht Wahlkampf für Klimaziele, die von den Unternehmen
       selbst festgesetzt werden sollen.
       
       ## Eine Tragödie als Melodrama
       
       Kurzum: Schaut man in diesen Tagen auf Deutschland, dann ist es, als würde
       eine Tragödie als Melodrama inszeniert. Die Lage ist nicht „spannend“, also
       dramatisch, sondern auswegslos, also tragisch. Zu hoffen ist nur, wie
       seltsamerweise die ausländische Presse glaubt, dass die SPD sich auf
       wundersame Weise von der Braunkohle- und Autoindustrie-Partei in eine
       Partei radikaler Klimapolitik verwandelt und Scholz zum Kanzler einer
       zweiten, klimapolitischen Wende wird. „Nach der Versöhnung von Arbeit und
       Kapital die Versöhnung von Arbeit und Natur“, wie Die Zeit amerikanische
       Medien zitiert.
       
       Davon abgesehen, dass Kapital und Arbeit global nie unversöhnter waren als
       heute: Warum sollte der Realpolitiker Scholz diesen extremen Stunt,
       angesichts des Beinah-Untergangs der SPD vor nur vier Jahren, riskieren?
       Nein: Die etablierte Politik wird sich auch in Zukunft in
       publikumswirksamen Kompromissen gefallen, deren tödliche Folgen auf spätere
       Generationen und vor allem auf den Globalen Süden ausgelagert werden. Denn
       in den Fluten der steigenden Ozeane werden nicht Deutschland oder Belgien
       untergehen, sondern Bangladesch und Indonesien.
       
       ## Greenwashing-Dienstleister
       
       Doch zurück zu Ödipus: Von der ersten Zeile der Tragödie an wird dem
       gutmütigen König immer wieder erklärt, was er eigentlich schon längst
       verstanden hat, nämlich seine Schuld an dem, was er als objektives Unglück
       erlebt. Sophokles zeigt das als Tragödie eines Menschen, der sich
       schmerzlich bewusst macht, was er längst weiß. Und auch in diesem Text
       enthält keine einzige Zeile irgendeine Neuigkeit. Wir alle wissen, dass der
       Klimawandel nicht einfach so geschieht, sondern Folge bewusster politischer
       und gesellschaftlicher Entscheidungen ist. Aber es ist, als wären das, was
       wir wissen, und das, was wir tun, unvereinbar voneinander getrennt.
       
       Die Grüne Partei Deutschlands, bis vor wenigen Tagen Hoffnungsträger
       Europas, sucht ihr Heil im politischen Überleben um jeden Preis als
       Greenwashing-Dienstleister einer neoliberalen Koalition. Ödipus,
       Hardcore-Moralist wie die meisten tragischen Helden, löst das moralische
       Problem auf etwas andere Weise: Er blendet sich und verlässt Theben, die
       Stadt selbst versinkt im Bürgerkrieg.
       
       ## Klimaneutralität, bla, bla, bla
       
       Das ist natürlich für Deutschland nicht zu erwarten und auch nicht zu
       hoffen. Es gibt aber eine andere Hoffnung. Denn vergessen wir nicht, dass
       Ödipus, der perverse König, eine Tochter hatte: Antigone. In Sophokles’
       berühmtesten Stück erhebt sie sich gegen das System, das Kreon, ihr Onkel
       und Ödipus’ Schwager, ohne jede Änderung aufrechterhält. Denn mit dem
       Shitstorm gegen Ödipus ist nichts gelöst, die herrschende Klasse fährt
       einfach in neuer Konstellation fort, das Richtige zu verkünden und das
       Falsche zu tun.
       
       Mit den Worten von Greta Thunberg: „Netto-Null bis 2050, bla, bla, bla,
       Klimaneutralität, bla, bla, bla. Das ist alles, was wir von unseren
       sogenannten Anführern hören. Worte, die sich toll anhören – denen aber
       keine Taten folgen werden.“
       
       Aktivist*innen Europas, vereinigt euch!
       
       Milo Rau veröffentlichte vor einer Woche die [2][„Kölner Erklärung“] für
       eine gerechte Migrationspolitik
       
       5 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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