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       # taz.de -- Atomkraft in Deutschland: Abgeräumt? Von wegen!
       
       > Obwohl der Atomausstieg noch immer nicht komplett erfolgt ist, spielte
       > das Thema Kernkraft im Wahlkampf keine Rolle. Droht gar eine Renaissance?
       
   IMG Bild: Soll voraussichtlich 2022 vom Netz gehen: Atomkraftwerk Emsland von Betreiber RWE
       
       Atomkraft? War da mal was? Im Bundestagswahlkampf spielte das Thema
       praktisch keine Rolle, für die Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen ist
       dasselbe zu erwarten. Warum auch, mögen viele denken. Der Atomausstieg
       laufe doch, das Problem sei abgeräumt.
       
       Von wegen. Nach wie vor sind in Deutschland sechs große Leistungsreaktoren
       am Netz, die Bundesrepublik ist – nach Frankreich – zweitgrößter Atomstrom-
       und Atommüllproduzent in der EU. Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen sollen
       zum Jahresende abgeschaltet werden, voraussichtlich ein Jahr später folgen
       mit Ohu, [1][Emsland] und Neckarwestheim die letzten drei Meiler.
       
       Bis zum letzten Tag müssen AKW alle Sicherheitsanforderungen erfüllen. Aus
       Sicht von Umweltschützern mehren sich allerdings Hinweise, dass die
       Atomaufsichtsbehörden das nicht (mehr) so ganz genau nehmen.
       
       In den AKW Emsland und Neckarwestheim bildeten sich infolge altersbedingter
       Korrosion Spannungsrisse – Neckarwestheim 2 ist mit 30 Jahren der jüngste
       Reaktor. Rund 300 solcher Risse gebe es allein in diesem Kraftwerk, so die
       [2][Antiatomorganisation Ausgestrahlt], die nach eigenen Angaben interne
       Behördenakten einsehen konnte.
       
       ## Hinweise auf Gefahren ignoriert
       
       Dem Betreiber EnBW, der zu großen Teilen dem grün-schwarz regierten Land
       Baden-Württemberg gehört, wirft Ausgestrahlt vor, Hinweise auf diese Gefahr
       lange verschwiegen zu haben. Und die dem grün geführten Umweltministerium
       unterstehende Atomaufsicht habe die Warnungen ihrer eigenen Experten
       ignoriert und ein Risiko bestritten.
       
       „Alle Sachverständigen, die es in der Bundesrepublik gibt, haben bestätigt,
       dass die Anlage […] höchsten Sicherheitsanforderungen entspricht“, so die
       Behörde im Juli, als zwei von ihr beauftragte Gutachter schon ein Bersten
       der betroffenen Rohre nicht mehr ausgeschlossen hatten.
       
       Neben den noch laufenden Anlagen birgt auch der sich über [3][Jahrzehnte
       hinziehende Abriss der AKW] Gefahren. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt,
       radioaktiv verstrahltes Material wie etwa Bauschutt als „normalen“ Müll zu
       entsorgen – sofern die zusätzliche Belastung für eine Person 10
       Mikrosievert nicht überschreitet.
       
       ## Freimessen auf zu hohe Grenzwerte
       
       Bereits zur Anwendung kommt das sogenannte Freimessen: Der radioaktive
       Schrott wird so lange gewendet und geschleudert, bis die – nach Ansicht von
       Kritikern viel zu hohen – Grenzwerte unterschritten sind und die Abfälle
       auf Deponien landen oder im Straßenbau Asphalt beigemischt werden können.
       
       Auch ist der Atomausstieg keineswegs vollständig. Die
       [4][Brennelementefabrik in Lingen] und die [5][Urananreicherungsanlage in
       Gronau], die Atomkraftwerke in halb Europa, auch berüchtigte Pannenmeiler
       in Belgien und Frankreich, mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben
       unbefristete Betriebsgenehmigungen. Auch diverse Forschungsreaktoren sind
       noch in Betrieb, und in die Atomforschung etwa in Jülich, Karlsruhe oder
       Aachen fließen nach wie vor erhebliche Summen aus öffentlicher Hand.
       
       Womöglich droht mittelfristig sogar [6][eine Renaissance der Atomkraft]
       durch die Hintertür. Lobbyorganisationen verweisen auf den im Vergleich zu
       Kohlekraftwerken deutlich geringeren CO2-Ausstoß und verschweigen gern die
       gigantischen Umweltschäden bei der Uranförderung und -aufbereitung sowie
       die großen Risiken bei der Lagerung des Atommülls. Auch
       EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton spricht sich bereits für ein
       Comeback der Atomenergie aus – als Energiequelle für die Produktion von
       Wasserstoff.
       
       Wenn es nach Europas Konservativen und Liberalen geht, soll der EU-Standard
       für nachhaltige Investitionen (EU-Taxonomie) künftig [7][auch Investitionen
       in Kernkraftanlagen] umfassen. Damit bekämen sie ein Öko-Label, ähnlich wie
       der Bau von Windrädern und Solaranlagen.
       
       Immer noch verweisen Grünen-Politiker darauf, dass die Partei aus der
       Anti-Atom-Bewegung hervorgegangen sei. Die Verhandler in Berlin sollten
       sich daran erinnern.
       
       7 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Protest-gegen-AKW-Laufzeit/!5795268
   DIR [2] https://www.ausgestrahlt.de/
   DIR [3] /Dokumentarfilm-Atomkraft-Forever/!5797446
   DIR [4] /Atom-Fabrik-in-Lingen/!5771712
   DIR [5] /Urananreicherungsanlage-in-Gronau/!5679807
   DIR [6] /Atomkraft-in-Deutschland/!5802605
   DIR [7] /Umfrage-zu-EU-Plaenen/!5794716
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reimar Paul
       
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       Nicht mal jede:r Fünfte würde da laut einer Umfrage mitgehen.