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       # taz.de -- Debatte um WDR-Moderatorin: Schuldige Lebensläufe
       
       > Weil sie früher an einer Al-Kuds-Demo teilnahm, setzte der WDR die
       > Moderation von Nemi El-Hassan aus. Ihre Biografie erinnert mich an meine
       > Jugend.
       
   IMG Bild: Nemi El-Hassan
       
       Ich bin dankbar, in einer Gesellschaft leben zu dürfen, deren Credo die
       klare und konsequente Ablehnung menschenfeindlicher Äußerungen in der
       Öffentlichkeit ist. Menschen, die Hass und Hetze verbreiten oder
       unterstützen, müssen mit der Konsequenz rechnen, dass ihnen die öffentliche
       Bühne entzogen wird. Deshalb war der Entschluss des WDR nur folgerichtig,
       die geplante Moderation der Wissenschaftssendung „Quarks“ [1][durch die
       Medizinerin und Journalistin Nemi El-Hassan vorerst auszusetzen], um sich
       ein klares Bild über die Vorwürfe des Antisemitismus gegen sie zu machen.
       
       Die Deutsch-Palästinenserin El-Hassan hat 2014 an der Al-Quds-Demonstration
       in Berlin teilgenommen. Sie hatte ihre Solidarität mit Palästina während
       des Gazakrieges bekunden wollen. Ausgerichtet wurde diese Demonstration von
       einem der Hisbollah nahestehenden Verein, der vom Verfassungsschutz
       beobachtet wurde. Auf der Demonstration riefen Teilnehmende unter anderem
       antisemitische Parolen. Nach Aufkommen dieser Vorwürfe distanzierte sich
       El-Hassan vergangene Woche von der Teilnahme an der Demonstration vor
       sieben Jahren und bekräftigte, diese seither nie mehr aufgesucht zu haben.
       Damals sei sie noch „unreflektiert“ und „uninformiert“ an dieses Thema
       herangetreten.
       
       Weil mein familiärer Background El-Hassans ähnelt, habe ich eine Ahnung
       davon, was es bedeutet, sich als Person mit palästinensischen Wurzeln in
       Deutschland der Identitätsfrage zu widmen. Ich weiß, in welchen Kreisen wir
       verkehren – aus dem Wunsch heraus zu verstehen, wo wir hingehören.
       
       Und so stellen sich folgende Fragen: Wie viel Vergangenheit und Entwicklung
       gesteht uns [2][unsere auf Affekte und rasche Urteile ausgerichtete
       Gesellschaft] noch zu? Und auf welche Weise wollen wir in einer digitalen
       Welt, die fein säuberlich dokumentiert, auf die Biografie von Personen der
       Öffentlichkeit blicken?
       
       ## Wo jene am lautesten sind, die hassen wollen
       
       Meine Eltern waren Kriegsflüchtlinge aus dem Libanon mit palästinensischem
       Ursprung. Ihre Erfahrungen waren selbstverständlich Thema. Wenn ich als
       Jugendliche deutsche Nachrichten über Palästina und Israel sah, waren es
       andere Bilder als die des arabischen Fernsehens. Es war klar, wem meine
       Solidarität galt. Die Suche nach der richtigen Sprache für meine Gedanken,
       die sich nach einem geordneten Weltbild sehnte, war lang und holprig. Es
       gab immer wieder leidenschaftliche Bekundungen, die ich kurz danach wieder
       anzweifelte.
       
       Daher landete auch ich in meinen jungen Jahren auf Zusammenkünften mit
       vermeintlich Gleichgesinnten, um Themen zu diskutieren, die ich nicht mit
       meinen Mitschülerinnen austauschen konnte, weil dort entweder das Interesse
       fehlte oder aber das Wissen – von dem ich glaubte, dass es das einzig wahre
       Wissen sei. Auch ich suchte damals Demonstrationen auf, um meine
       Verbundenheit mit Palästina kundzutun. Darunter fielen auch Versammlungen,
       auf denen jene am lautesten waren, die hassen wollten.
       
       Manchmal konnte ich es nicht fassen, wie aus Solidaritätsbekundungen
       plötzlich Hassbekundungen werden konnten. Manchmal schlich ich mich davon,
       manchmal blieb ich einfach stehen, weil ich nicht einsehen wollte, warum
       meine Stimme den aggressiven Stimmen weichen sollte. Schließlich
       identifizierte ich mich ja nicht mit ihren Aussagen, sondern mit den
       Menschen in Palästina, für die ich auf die Straße gegangen war. Dennoch
       kann ich nicht leugnen: Das angebotene Format, in dem wir junge
       Deutsch-Palästinenserinnen uns politisch engagieren wollten, offenbarte
       nicht selten eine perfide antijüdische Grundhaltung.
       
       Ich versuchte in einem Umfeld, das nicht für die Fragen meiner persönlichen
       Konstellation gewappnet war, Antworten zu finden und Ideen einzuordnen. Im
       Verlauf musste ich gewisse Gedanken als falsch verwerfen. Wenn ich
       zurückschaue, bin ich froh, vieles hinter mir gelassen zu haben. Zum
       anderen akzeptiere ich, dass es in meiner Adoleszenz eine Herausforderung
       war, in einer Gesellschaft, die nicht meinen Kontext komplett
       widerspiegelt, meinen persönlichen Weg zu finden. Für meine Entwicklung
       musste ich mich aus einem Netz voller Irrtümer und falscher Glaubenssätze
       wickeln.
       
       El-Hassans Teilnahme an besagter Demonstration im Jahre 2014 ist Teil ihrer
       jungen Biografie. Wäre ihr Weg hier stehen geblieben, hätte ich ihre neue
       Rolle als Moderatorin einer öffentlich-rechtlichen Wissenschaftssendung
       abgelehnt. Doch ihr Weg ging hiernach weiter und schlug eine andere
       Richtung ein, den man auch durch wenige Klicks online nachvollziehen kann.
       Im nach 2014 erschienenen Artikel „Am Rande des Gazastreifens: Ein Besuch
       bei Freunden“ beschreibt El-Hassan die Versuche der Annäherung zwischen
       Palästinensern und Israelis. Weitere Reportagen über Ursprünge und Folgen
       von Antisemitismus und Rassismus folgten. Mitwirkungen an Veranstaltungen,
       die für Toleranz und ein Miteinander werben, sind ebenfalls online zu
       entdecken.
       
       Aus dieser Entwicklung heraus stuft El-Hassan ihr damaliges Verhalten als
       klaren Fehltritt ein und distanziert sich deutlich. Warum ihr also nicht
       noch eine Chance geben, wenn sichtbar ist, dass eben diese Frau eine über
       Jahre hinweg reifende Entwicklung hinter sich hat? Es bedeutet, ihr die
       Chance zu verweigern, Fehler machen zu dürfen und aus diesen zu lernen.
       
       Es wäre ein fatales Signal und impliziert ein abstruses Menschenbild:
       nämlich zum einen das des makellosen Homo sapiens, der die Weisheit
       erlangte, ohne auch nur einen Schritt in die falsche Richtung gegangen zu
       sein. Und zum anderen, dass selbst aufrichtige Reue und Abstreifen von
       Fehlverhalten keinerlei Gnade in uns hervorzurufen vermag. Glauben wir
       wirklich an unberührte Lebensläufe und die perfekt retuschierte Welt, die
       uns soziale Medien täglich bieten?
       
       Es scheint mir, als ob wir in der Welt der Makellosigkeit vergessen haben,
       dass jede und jeder einzelne von uns kein fertiges Konstrukt ist, sondern
       ein stets im Werden begriffenes Wesen. Nemi El-Hassan hat gerade wegen
       ihres Werdeganges einen Platz in der Öffentlichkeit verdient, da sie es
       geschafft hat, einen eigenen Weg aus der Reflexion heraus zu gestalten. Sie
       dient als Vorbild, nicht nur für junge muslimische Frauen, sondern für
       alle, die auf ihre Weise gerade an einem ähnlichen Punkt stehen wie
       El-Hassan damals. Mit dem Recht, Fehler zu begehen, und der Pflicht, diese
       bei Erkenntnis zu korrigieren. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die
       Menschen mit ungeraden Lebensläufen zuhört und bereit ist, aufrichtige
       Entschuldigungen anzunehmen.
       
       21 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Nohma El-Hajj
       
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